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Von wegen „alles Käse“ – der berühmte Tilsiter begann 1803 seinen vollmundigen Siegeszug um die Welt
Ostpreußen brachte drei besonders bekannte kulinarische Leckerbissen hervor, nämlich das Königsberger Marzipan, die Königsberger Klopse und den Tilsiter Käse. Der Letztere ist ein halbfester Schnittkäse aus Kuhmilch mit besonderer Duftnote sowie mit einer sogenannten Rotschmiere-Rinde, welche durch spezielle Bakterien entsteht. Seiner Erfindung ging eine jahrhundertelange Entwicklung auf dem Gebiet der Käseherstellung im Raum Tilsit voraus.
Bereits kurz nach der Errichtung der ersten Burg des Deutschen Ordens im Jahr 1360 am Flüsschen Tilse, dessen Name vom prußischen Wort „sumpfig“ abgeleitet wurde, begann hier die Käseproduktion. Davon zeugt nicht zuletzt die mehrfach vorkommende alte Ortsbezeichnung „Milchbude“. Allerdings fehlte den Siedlern zunächst noch das Know-how für guten Käse. Das änderte sich dann in der Zeit zwischen 1550 und 1710. Damals zogen in mehreren Wellen Einwanderer aus Holland und der Schweiz nach Ostpreußen, welche das Handwerk der Käseherstellung beherrschten. So ließen sich mehr als einhundert Mennonitenfamilien rund um Tilsit nieder, wo sie nachfolgend ihren gleichnamigen „Mennonitenkäse“ vermarkteten.
Späterhin entstanden außerdem auch spezifisch ostpreußische Nachahmungen des Limburger Käses, dessen Urheimat im Nordosten des heutigen Belgien liegt. Diese Käsesorten kamen vor allem aus dem Raum Ragnit, der Ortschaft Worienen im Kreis Preußisch Eylau und Birjohlen im Amtsbezirk Tilsit. Der „Brioler“ genannte Käse aus der Gutskäserei des Landbaumeisters Braun wurde dabei spätestens ab 1800 in Umlauf gebracht.
Mitbeteiligt an der Herstellung des Briolers war eine junge Wirtschafterin aus Birjohlen oder Szillen namens Emmi Klunk, welche 1822 den Glasermeister August Westphal heiratete. Diese entwickelte den Brioler ab 1803 zum Tilsiter weiter, indem sie das Reifungsverfahren für den Ausgangskäse nach ihren persönlichen Vorstellungen veränderte.
Expansion mit käsigen Ambitionen
Dabei schwebte Emmi Westphal eigentlich ein „echter Gouda“ vor, doch dafür war der Keller des Lagerhauses zu feucht, sodass andere Bakterienkulturen wuchsen. Ansonsten muss die junge Frau mit den Schweizer Wurzeln auch sehr geschäftstüchtig gewesen sein, denn sie sorgte unmittelbar nach ihrer Vermählung mit dem begüterten Handwerker für die Verlegung der Käserei von Birjohlen nach Tilsit.
1840 stand dann eine weitere Veränderung beziehungsweise Expansion für den Betrieb an: Gemeinsam mit ihrem Sohn Heinrich Westphal erwarb die Erfinderin des Tilsiter Käses die Milchwirtschaft eines gewissen Johannes Kühr in der Deutschen Straße und richtete dort ihre neue Käserei ein.
Doch bereits fünf Jahre später wurde auch dieses Grundstück zu klein für die Ambitionen der früheren Hausangestellten. Also zog ihr Betrieb nun in ein größeres Objekt im Gut Adlig Milchbude um, das vier Kilometer vor den Toren von Tilsit lag. Hier standen sowohl die Milch von 85 Kühen als auch 32 Arbeitskräfte für die Käseherstellung zur Verfügung.
Nach dem Tod von Emmi Westphal fungierte deren Sohn als alleiniger Nachfolger. Dessen Käsefabrik zog wieder nach Tilsit um und wurde später erst von seiner Witwe Mathilde und dann von dem Molkereibesitzer Otto Braun überaus erfolgreich weitergeführt.
Sowjets ohne Geschmack
Einen großen Aufschwung erlebte die Herstellung des Tilsiters in der prosperierenden Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, als die Milchproduktion in Ostpreußen bislang unbekannte Höhen erreichte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts gehörte der Tilsiter dadurch zu den bekanntesten Käsesorten im Deutschen Reich. Aber auch in den 1930er Jahren existierten alleine im Großraum um Tilsit noch über 50 Molkereien, die pro Jahr um die 4600 Tonnen Käse auslieferten. Das änderte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Eingliederung von Tilsit in die UdSSR. Der Tilsiter, welcher aufgrund der Umbenennung der Stadt in Sowetsk nun „Sowetskij Syr“ hieß, wurde in seiner Urheimat nur noch in geringem Umfang hergestellt.
Tilsiter wird Havarti
Andererseits hatte das von Emmi Klunk erfundene Milchprodukt nun aber längst seinen Siegeszug rund um die Welt angetreten. Das resultierte unter anderem aus dem Wirken der beiden Schweizer Otto Wartmann und Hans Wegmüller, welche das Käserezept 1893 in ihre Heimat brachten und im Kanton Thurgau mit der Produktion von Tilsiter begannen. Darüber hinaus hatte die dänische Bäuerin Hanne Nielson bereits um 1840 die Molkerei in Adlig Milchbude besichtigt und danach auf ihrem Havarti-Hof auf der Insel Seeland den Tilsiter plagiiert. Nielsons Klon des Käses aus Ostpreußen wird bis heute unter dem Namen Havarti vermarktet.
Käsige Raubkopien
Außerdem gibt es seit den 1920er Jahren auch einen „Holsteiner Tilsiter“. Zuvor war um 1880 herum ein Versuch auf dem Gut Raden bei Sternberg erfolgt, den pikanten vollmundigen Käse auch in Mecklenburg heimisch zu machen. Und in der DDR aß man ebenfalls gern Tilsiter – allerdings erhielt er hier den Namen „Tollenser“, um den „Großen Bruder“ in der Sowjetunion nicht zu brüskieren. Desgleichen kursieren auch noch etliche „Raubkopien“ des berühmten Käses mit der besonderen Duftnote in Österreich, Finnland, dem Baltikum, Polen, Rumänien, der Ukraine und sogar den USA.