Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor einem Vierteljahrhundert ereignete sich das ICE-Unglück von Eschede. Es war der bislang schwerste Zugunfall in der Geschichte der Bundesrepublik sowie aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit
Am 3. Juni 1998 um 10.59 Uhr raste der Intercity-Express 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf seiner Fahrt von München nach Hamburg mit rund 200 Kilometern pro Stunde auf eine Straßenbrücke am Ortsrand der niedersächsischen Gemeinde Eschede zu. Dabei entgleisten plötzlich zehn der zwölf Waggons des Zuges oder wurden von der um die 200 Tonnen schweren Brücke zerquetscht, als deren Pfeiler infolge des Ausscherens von Wagen 3 einknickten. Hierdurch kamen zwei Signaltechniker der Deutschen Bahn (DB), die unter der Brücke standen, und 94 Fahrgäste im Zug, darunter zwölf Kinder, ums Leben. Die Zahl der Opfer hätte noch deutlich höher ausfallen können, denn der ICE 884 war nur zu einem Drittel besetzt, und der ICE 787 „Karl Adam“ auf dem Gegengleis entging der Katastrophe nur deshalb, weil er die Unfallstelle eine Minute früher als im Fahrplan vorgesehen passierte, während der ICE 884 eine Minute Verspätung hatte.
Nach dem Unglück lief eine großangelegte Rettungsaktion an, bei der um die 350 Ärzte und anderes medizinisches Personal, rund 2600 Helfer von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Polizei und Bundeswehr, 100 Feuerwehrfahrzeuge, 88 Kranken- und Rettungswagen, 37 Hubschrauber sowie drei Bergepanzer der Bundeswehr zum Einsatz gelangten und 110 Verletzte geborgen wurden, von denen fünf später ihren Verletzungen erlagen.
Die sofort eingeleiteten Untersuchungen am Unfallort und die Befragung der Überlebenden führten relativ schnell zur Klärung der Ursache für das fatale Ereignis. Weil die aus einem Stück gefertigten Räder der seit 1991 eingesetzten ICE-Baureihe 1 unerwünschte Vibrationen verursachten, hatte die Bahn neue Räder in Auftrag gegeben, bei denen eine Hartgummi-Dämmschicht zwischen Radkern und äußerem Radreifen für mehr Laufruhe sorgen sollte.
Drei Angeklagte
Allerdings verzichtete die DB auf Dauererprobungen der Konstruktion beziehungsweise Labortests bis zum Bruch des Radreifens zur Ermittlung der Verschleißgrenze. Dabei hatte das Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit in Darmstadt den Bahnvorstand schon sehr früh vor dem Einsatz der neuen Räder vom Typ Bochum 84/Baureihe 064 gewarnt.
Nach der Einführung der gummigefederten Räder unterblieb deren ausreichende Kontrolle während des Betriebes. So verzichtete die Bahn auf die Anschaffung hochwertiger Ultraschallgeräte zum sicheren Erkennen von Rissen in den Radreifen.
Die am Vortag des Unglücks festgestellte Rundlaufabweichung am später für die Katastrophe verantwortlichen Radsatz führte zu keinen Konsequenzen. Dabei verlangten die Vorschriften in solchen Fällen einen Austausch.
Und so kam es, wie es auf kurz oder lang möglicherweise kommen musste: Sechs Kilometer vor Eschede zerbrach ein Radreifen an der dritten Achse des Waggons Nummer 1. Danach wickelte sich das Metallstück auf und bohrte sich durch den Wagenboden. Dabei ragte der untere Teil des verformten Radreifens bis ins Gleisbett hinab. Das wiederum führte zur Beschädigung der ersten Weiche vor der Brücke bei Eschede. Sie wurde mit großer Wucht von den Schwellen gerissen und brachte dadurch ein Drehgestell zum Entgleisen. Hieraufhin traf eines von dessen Rädern die Zunge der zweiten Weiche vor der Brücke und stellte diese so um, dass die hinteren Achsen des Wagens Nummer 3 auf das in Fahrtrichtung rechts abzweigende Gleis gerieten. Da der Weichenradius aber nur für niedrige Geschwindigkeiten ausgelegt war, schleuderte es den Waggon gegen die Brücke, die daraufhin einstürzte.
Das Unglück von Eschede hatte rechtliche wie technische Konsequenzen. Allerdings mussten sich letztlich nur ein Abteilungspräsident der Bahn, ein technischer DB-Oberrat und ein Betriebsingenieur des Herstellerwerkes der Radreifen wegen fahrlässiger Tötung beziehungsweise Körperverletzung verantworten. Und dieses Verfahren wurde schließlich am 8. Mai 2003 nach 55 Verhandlungstagen gegen die Zahlung von je 10.000 Euro Geldbuße pro Angeklagtem eingestellt, weil angeblich keiner der Drei eine schwere Schuld trug. Das stieß ebenso auf Unverständnis der Hinterbliebenen und Verletzten wie die Tatsache, dass niemand aus der Vorstandsebene der DB vor Gericht musste, obwohl diese mutmaßlich für die nicht ausreichenden Prüfungen an den gummigefederten Rädern mitverantwortlich zeichnete.
Je 10.000 Euro Geldbuße
Letztere wurden nach der Katastrophe sofort aus dem Verkehr gezogen und nie wieder eingesetzt. Außerdem setzte die DB am 8. Juni 1998 eine Kommission ein, welche die Sicherheit des Systems Bahn als Ganzes überprüfen sollte. Das daraus resultierende neue Sicherheitskonzept führte zu zahlreichen, bis heute nachwirkenden Veränderungen. So reduzierte die DB die Zahl der Weichen vor Brücken oder Tunneln deutlich. Darüber hinaus gelten seitdem andere Prüfintervalle als vor dem Unglück. Die Sicherheitschecks erfolgen nicht mehr in festgelegten Zeitabständen, sondern in Abhängigkeit von der Zahl der gefahrenen Kilometer. Desgleichen kam es zur Einführung des Vier-Augen-Prinzips bei wichtigen Prüfungen. Alle Züge vom Typ ICE 1 erhielten etliche zusätzliche Notausstiegsfenster, die nun in allen Hochgeschwindigkeitszügen so ausgelegt wurden, dass Rettungskräfte ohne schwere Äxte oder Trennschleifer von außen in das Wageninnere gelangen können.
Ebenso hatte das Unglück von Eschede Auswirkungen auf das System der seelsorgerischen oder psychologischen Betreuung von Betroffenen und Mitgliedern der Rettungsmannschaften. Die damals entwickelten Konzepte kommen noch heute zum Einsatz, wenn es um die Verhinderung oder Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Katastrophenhelfern und -opfern geht.
Kersti Wolnow am 05.06.23, 11:28 Uhr
Warum muß ich jetzt an den mysteriösen Absturz der Hindenburg denken? Wir Deutschen sind vergeßlich (gemacht worden).
Chris Benthe am 05.06.23, 10:09 Uhr
Dieses Unglück symbolisiert den Niedergang der einst kompromisslosen deutschen Qualitätsorientierung. Was an der einen Stelle an Mängeln beboben wird, taucht an anderer Stelle wieder auf. Machen wir uns nichts mehr vor. Heute ist es ein Radreifen, morgen ein Softwarefehler oder eine falsche Weichenstellung oder irgendwas anderes. Der peitschende Rhythmus der Globalisierung kalkuliert "Kollateralschäden" mit ein.