23.08.2025

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Karl Heinrich Ulrichs
Bild: WikimediaKarl Heinrich Ulrichs

Karl Heinrich Ulrichs

Urgestalt des homosexuellen Emanzipationskampfes

Der Pionier der Sexualwissenschaft kam vor 200 Jahren im damals hannoverschen, aber ab 1866 preußischen Westerfeld zur Welt

Bernhard Knapstein
23.08.2025

„Es war ein Tumult, wie man ihn selten erlebt.“ So beschrieb ein Zeitzeuge das im Münchener Konzerthaus Odeon am 29. August 1867 Erlebte, als Karl Heinrich Ulrichs in München das Wort ergriff. Es war der Deutsche Juristentag – eine Bühne für Gesetzesreformer, Professoren, Richter. Männer in dunklen Anzügen, gewöhnt an die nüchterne Sprache des Rechts. Im Kern ging es auf der Tagung darüber, ob Preußen sein Strafrecht – und damit auch die Homosexuellen-Strafnorm Paragraf 143 – vollständig auf die im Jahr zuvor annektierten Länder ausdehnen solle. Ulrichs trug vor, und im Saal brach Geschrei und Chaos aus. Er sprach offen von der Diskriminierung homosexueller Männer, forderte die Abschaffung der Strafgesetze gegen gleichgeschlechtliche Liebe – und outete sich damit selbst in aller Öffentlichkeit. Die Tagungsleitung entriss ihm das Wort. Doch was gesagt war, blieb gesagt: ein Fanal für die Emanzipation.

Karl Heinrich Ulrichs, geboren am 28. August 1825 in Aurich, war ein nationalliberaler Jurist und Historiker und hatte im Revolutionsjahr 1848 seine Studien mit einer Dissertation zum Westfälischen Frieden abgeschlossen. Bereits 1854 wurde gegen den Hildesheimer Gerichtsassessor wegen „widernatürlicher Wolllust mit Männern“ ermittelt. Das war im Königreich Hannover zwar nicht verboten, aber der vage Straftatbestand zur Erregung öffentlicher Ärgernisse griff. Ulrichs verließ erst den Staatsdienst, dann verbot ihm ein Gericht auch den Anwaltsberuf, sodass er sich als Journalist durchschlug.

Was den einen widernatürlich erschien, war für Ulrichs die Normalität. Und weil er mit der auf Gegenseitigkeit beruhenden gleichgeschlechtlichen Liebe nicht haderte und ohne seelische Verwerfungen war, kämpfte er offen für das für ihn Natürliche. In einer Zeit, in der Homosexualität als „widernatürliches Verbrechen“ galt, benutzte Ulrichs weder Decknamen noch sprachliche Verschleierung. Stattdessen sprach er von Urnings – ein Begriff, den er selbst prägte, um Männer zu beschreiben, die Männer lieben. Nicht als Krankheitsbild, nicht als moralisches Versagen, sondern als angeborene Veranlagung. Es war ein Bruch mit der medizinisch-moralischen Denkweise seiner Zeit.

Zwischen 1864 und 1879 veröffentlichte Ulrichs eine Reihe von Schriften, die er als „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ zusammenfasste – ein opus magnum der frühen Sexualwissenschaft, das Jahrzehnte vor Sigmund Freud oder Magnus Hirschfeld entstand. In diesen Texten entwickelte er eine erste Theorie sexueller Orientierung, sprach von Gleichwertigkeit, von Naturrecht und von der Unmenschlichkeit der Kriminalisierung. Seine Argumentation war juristisch und humanistisch. Die Strafverfolgung Homosexueller verstoße gegen das Prinzip gleicher Freiheit und verletze die Würde des Individuums. Strafbar solle nur sein, was auch unter Heterosexuellen strafbar sei – eine Argumentation, die man heute leidenschaftslos bejahen kann.

Ulrichs war kein trockener Theoretiker. Sein Werk ist durchzogen von literarischem Furor, klassischer Bildung und poetischem Pathos. In seinen Texten klingen antike Mythologie und moderne Aufklärung zugleich. 1870 verfasste er etwa die Novelle „Gladius Furens“, in der ein junger Urning unter der Last gesellschaftlicher Ächtung zusammenbricht – eine frühe literarische Anklage gegen Homophobie.

Doch Ulrichs blieb isoliert. In Deutschland fand er keine institutionelle Unterstützung, wurde verlacht und ignoriert, seine Schriften wurden verboten. Das preußische Strafrecht wurde ausgeweitet, das Homosexuellen-Strafrecht mit dem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich in den Paragrafen 175 StGB übernommen – im Übrigen blieb die homosexuelle Liebe zwischen Frauen straffrei.

1879 verließ Ulrichs enttäuscht das Kaiserreich und lebte bis zu seinem Tod 1895 in Italien, zuletzt in L'Aquila. Dort wurde er respektiert, sogar geehrt – doch die deutsche Gesellschaft war noch nicht bereit für seinen Mut.

Erst 1994, fast 130 Jahre nach dem Münchner Tumult, wurde das Strafrecht gegen männliche Homosexualität vollständig aufgehoben. Und obwohl andere Namen – wie Magnus Hirschfeld oder später Rosa von Praunheim – stärker im kollektiven Gedächtnis verankert sind, bleibt Ulrichs die Urgestalt des homosexuellen Emanzipationskampfes. Sein Denken war seiner Zeit weit voraus. Er kämpfte nicht für Toleranz als Gnade, sondern für Gleichbehandlung als Recht.

Heute gilt Karl Heinrich Ulrichs als einer der ersten, die nicht nur ihre Stimme, sondern ihre Existenz gegen das Schweigen setzten. Ob der vor 200 Jahren geborene Jurist allerdings das schrill-öffentliche Auftreten und sogar öffentliche Kopulieren der rechtlich Gleichgestellten auf den heute exzessiv zelebrierten „Christopher Street Day“-Tagen unterstützt hätte, darf bezweifelt werden.


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