Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Auch 80 Jahre nach Kriegsende sind längst nicht alle Wunden verheilt. Vielmehr zeigt sich gerade heute, wie wirkmächtig Geschichte ist
„Namen, die keiner mehr nennt“. Unter diesem Titel erschien 1962 der erste Bestseller der ostpreußischen Publizistin Marion Gräfin Dönhoff. Es ist ein noch heute bewegendes Buch der Erinnerung an ihre Heimat weit im Osten und nicht zuletzt ein literarisches Denkmal für deren ganz besondere Menschen wie ihren Vetter Heinrich Graf v. Lehndorff.
Schon damals, nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, hatte die Autorin – wie es der Titel anzeigt – die Wahrnehmung, dass sowohl die Erinnerung an Kernlandschaften unserer Geschichte als auch das Gedenken an die gerade erst stattgefundene Jahrhundertkatastrophe von Flucht und Vertreibung der Deutschen östlich von Oder und Neiße langsam, aber stetig verblasste. Das gilt zumindest für den öffentlichen Raum im geteilten Nachkriegsdeutschland, wo sich die Bundesrepublik ihres Wirtschaftswunders erfreute und die DDR mit Trommeln und Fanfaren ihr real existierendes Arbeiter-und-Bauern-Paradies errichtete.
Im Inneren von Millionen Landsleuten sah es jedoch ganz anders aus. Wer vor der nahenden Front geflohen oder gar von ihr überrollt worden war und so Zeuge grausamer Kriegsverbrechen wurde, trug die Erinnerung daran bis ins hohe Alter mit sich. Ebenso erging es jenen, die im alliierten Bombenhagel ihr Obdach verloren hatten – wie auch denjenigen, die zwischen 1933 und 1945 als Gegner der NS-Diktatur oder als Angehörige einer vom „Dritten Reich“ angefeindeten religiösen, ethnischen oder sozialen Gruppe in ein Zuchthaus oder in ein Konzentrationslager gesperrt worden waren. Der Terror jener Jahre hatte viele Gesichter.
Das alles ist lange her. In wenigen Tagen jährt sich der Beginn der sowjetischen Weichsel-Oder-Operation, die den Auftakt zum Zusammenbruch der Ostfront der Wehrmacht und damit zum Untergang des deutschen Ostens markiert, zum 80. Mal. Kurz darauf folgen der 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sowie des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ und weiterer Flüchtlingsschiffe, mit denen tausende Menschen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken. Auch die Jahrestage der Zerstörung von Dresden, Würzburg und Potsdam wie auch der Befreiung der Konzentrationslager Stutthof, Buchenwald und Bergen-Belsen jähren sich demnächst zum 80. Mal. Und im Mai steht dann der 80. Jahrestag des Kriegsendes an.
Heilt Zeit wirklich alle Wunden?
Angesichts des Ausmaßes der Jahrhundertkatastrophe, für die diese historischen Daten nur einzelne Wegmarken sind, kann es nicht verwundern, dass um deren Deutung lange heftig gerungen wurde. Wobei die öffentliche Erinnerungskultur zumeist den Konjunkturen des Zeitgeistes folgte. Dominierte anfangs das Gedenken an die gefallenen Soldaten des Krieges sowie an Flucht und Vertreibung, so trat in den letzten dreißig Jahren die Erinnerung an die NS-Diktatur und deren Opfer in den Vordergrund.
Fast immer wurde mit der Erinnerung auch Politik gemacht. In den großen Debatten zur Deutschlandpolitik, zur Wiederbewaffnung oder auch zur Aufarbeitung des NS-Unrechts lieferte die Geschichte Argumente für die verschiedensten Positionen. Als angesichts dessen 1986 der Philosoph Ernst Nolte beklagte, dass die jüngere Vergangenheit „nicht vergehen will“, löste dies eine der heftigsten Debatten über den Umgang mit der deutschen Geschichte aus. Dennoch trat die Zeit vor und um 1945 im öffentlichen Bewusstsein zunehmend in den Hintergrund. Was nicht zuletzt daran lag, dass die Erlebnisgeneration allmählich aus dem Leben schied.
Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Und man tut maßgeblichen Akteuren der bundesdeutschen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte sicher kein Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, im Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg allgemein und an das Schicksal des historischen deutschen Ostens im Besonderen auf den Faktor Zeit gesetzt zu haben. Denn in der Nachkriegsbundesrepublik und später im vereinten Deutschland von 1990 erinnerten die Ost- und Westpreußen, Schlesier und Pommern, Ost-Brandenburger und Sudentendeutschen stetig daran, dass längst nicht alle Wunden der Vergangenheit verheilt waren und sind.
Einen Tiefpunkt in dieser Hinsicht markierte gerade erst wieder Kulturstaatsministerin Claudia Roth, als sie es unlängst fertigbrachte, in ihrem 43-seitigen „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ dem Untergang des deutschen Ostens und der damit verbundenen Erinnerung an die Heimat von prägenden Persönlichkeiten wie den Philosophen Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer und Hannah Arendt, von Schriftstellern wie Gerhart Hauptmann, Ernst Wiechert und Günter Grass oder auch der Begründerin der Arbeiterwohlfahrt, Marie Juchacz, gerade einmal zehn Zeilen einzuräumen, während ein Randthema wie der Kolonialismus breiten Raum bekam.
Die Langzeitfolgen eines historischen Verlustes
Ein fataler Effekt dieser Art von Schlussstrich-Ziehung unter eine unbequeme Geschichte war, dass den Deutschen das Gefühl für den Osten als politischer Landschaft abhandengekommen ist. Wo einst ein reger Austausch bis tief ins Baltikum, nach Russland und in den Balkan hinein bestand, sorgte die gewaltsame Durchtrennung alter Lebenslinien wie auch die Fahrlässigkeit der Deutschen im Umgang mit ihrer Vergangenheit dafür, dass für die heutige Bundesrepublik der Osten ein unbekanntes Land ist, mit dem kaum noch jemand etwas anzufangen weiß.
Spätestens der Ausbruch des Ukrainekriegs vor fast drei Jahren belehrte uns dann, dass die Geschichte östlich der heutigen Staatsgrenzen keineswegs aufhört, nur weil deutsche Politik sich darum nicht mehr kümmern will. Natürlich trägt Deutschland für den gegenwärtigen Konflikt zwischen Russen und Ukrainern keine direkte Verantwortung. Doch hätten frühere Generationen mit einem größeren Verständnis für die Dinge in Ostmittel- und Osteuropa möglicherweise eher erkannt, welche Gefahren dieser Konflikt in sich birgt – und wären vom Kriegsausbruch nicht dermaßen überrascht worden wie die Bundesregierung im Februar 2022.
1951 formulierte der US-amerikanische Schriftsteller William Faulkner in einer Erzählung den Satz: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ In diesem Sinne sind all die vor uns liegenden Jahrestage alles andere als bedeutungslos für die Gegenwart. Vielmehr bietet jedes einzelne Datum Anlass zum Nachdenken darüber, warum das Deutschland von heute zu dem geworden ist, was es ist – und warum unser Land mit sich selbst noch immer nicht im Reinen ist.
Einen Beitrag zu dieser Selbst-Vergewisserung leisten wird auch die Preußische Allgemeine Zeitung, die im April 1950 unter dem Namen Das Ostpreußenblatt erstmals erschienen ist. Auch wenn die PAZ mit ihren nunmehr 75 Jahren allmählich das Prädikat „altehrwürdig“ tragen kann, wird sie nicht müde werden, sich mit ihrer einzigartigen Perspektive in das Zeitgeschehen einzumischen.
Wolf Wilhelmi am 01.01.25, 17:54 Uhr
Die deutsche Geschichte (von 1914 bis 1945) ist eine Wunde, die schmerzt. Das liegt daran, dass man aus der eigenen Geschichte nicht aussteigen kann - so sehr es versucht wird. Hinzu kommt, dass die Geschichtsschreibung sehr stark ideologisch geprägt war und ist. Es geht weniger um das, was tatsächlich geschehen ist, als um moralisch-politische Erziehung der Bevölkerung. Dabei bleibt Historisches unterbelichtet. Ein Beispiel: Der brit. Historiker Avery führt aus, dass die Bombardierung dt. Städte durch die RAF den Tod von Zivilisten zum Ziel hatte - zerstörte Industrie war Beiwerk. Solches liest man in D selten.
Warum können nicht auch dt. Historiker vom Schrecken durch Deutsche von der Gewalt an Deutschen berichten? Die Angst vor Revisionismus und Revanchismus verhindert bei Vielen die Suche nach der ungeteilten historischen Wahrheit. Aber: Niemand hat das Recht, diese uns vorzuenthalten, oder uns ihre Zumutungen und ihren Schmerz zu ersparen.