Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Auch 35 Jahre nach der Einheit sind die Deutschen keine Nation wie andere. Zum Fremdeln mit der eigenen Kultur und Geschichte kommen nun die Folgen ungesteuerter Zuwanderung – begleitet von Realitätsverlust in einflussreichen Milieus
Wie die Zeit vergeht. Wer heute 40 Jahre alt ist, wird sich gewiss nicht an den historischen Augenblick erinnern, als die untergegangene DDR, das größte und spektakulär gescheiterte sozialistische Experiment in der deutschen Geschichte, am 3. Oktober 1990 gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitrat. Nicht einmal ein Jahr nach dem Fall der Mauer im November 1989 wurde jene „deutsche Einheit“ zur Realität, die in den Jahrzehnten zuvor so oft beschworen worden war – vor allem in Sonntagsreden. Doch so hoffnungsfroh die „Wiedervereinigung“ – freilich ohne den historischen deutschen Osten – von der Mehrheit der Bürger auch gefeiert wurde, so scharf, ja unversöhnlich fiel die Kritik einer lautstarken linken Minderheit daran aus.
Viele Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und „Kulturschaffende“ lehnten die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten vehement ab, darunter nicht wenige, die die Zustände in der DDR zuvor entweder ignoriert, verharmlost oder beschönigt hatten. Manchem Intellektuellen erschien sie auch nach dem Scheitern irgendwie als der „bessere deutsche Staat“, und immerhin war es einen Versuch wert gewesen, den Kapitalismus zu „überwinden“, wie auch viele linke Sozialdemokraten glaubten. Wer dagegen, wie der ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, die Unterdrückung der Freiheit in der DDR und die Schüsse an der Mauer ein ums andere Mal zum Thema gemacht hatte, galt als unverbesserlicher, „revanchistischer“ Rechter.
Das Fremdeln der linken Intellektuellen
Nun war der realsozialistische Arbeiter- und Bauernstaat also Geschichte, und die Linken schrien voll Inbrunst: „Nie wieder Deutschland!“ Anders als sein Freund Willy Brandt, der schon in der Nacht des Mauerfalls rief, nun wachse zusammen, was zusammengehöre, warnte etwa der spätere Literaturnobelpreisträgers Günter Grass vor der Einheit und dekretierte: „Die Geschichte hat uns auferlegt, dass wir in zwei Staaten leben.“ Dass dieser Lesart nach die historische Strafe für die NS-Verbrechen allein die DDR-Bürger zu bezahlen hätten, machte dem hochdekorierten Großschriftsteller („Die Blechtrommel“) aus dem Westen nichts aus. Wie viele andere befürchtete er einen „nationalen Taumel“, gar ein „Viertes Reich“, das abermals Krieg und Verderben über Europa bringen würde. Erst viele Jahre später bekannte er dann, 1944, im Alter von 17 Jahren, der Waffen-SS beigetreten zu sein und in der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“ gedient zu haben. Einen Teil seiner Strafe dafür hätte er also auch in der DDR absitzen müssen.
Auch viele Ost-Intellektuelle trauerten damals dem „unsterblichen Ideal des Sozialismus“ (Gregor Gysi) nach und imaginierten sich als Opfer einer gnadenlosen Rache der neuen westdeutschen Machthaber und ihrer „Treibjagd“ auf frühere SED-Schergen und Stasi-Spitzel. Der DDR-Schriftsteller Fritz Rudolf Fries, zum Beispiel, phantasierte sich in einem Zeitschriftenbeitrag in einen fiktiven Berliner S-Bahn-Zug, von dem aus er beobachtet habe, wie berühmte DDR-Literaten „in einer Reihe angetreten“ waren. Dann hieß es „Feuer frei!“, und in den Staub Brandenburgs sanken Heiner Müller, Stephan Hermlin, Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Günter Kunert, Erich Loest und Monika Maron. Die Botschaft des Albtraums war klar: Die „Wessis“ liquidieren die geistige Elite der DDR.
In diesem Fall erwies sich später, dass der moralische Anklagevertreter Fries jahrelang für die Stasi gespitzelt hatte. Und so sah man in den Jahren der Einheit die Welt nicht nur als Wille und Vorstellung, sondern auch als Leugnung, Verdrängung und projektive Schuldzuweisung. Es war zugleich die Zeit, da, andererseits, westdeutsche Beamte, die zum Aufbau des Rechtsstaats nach Bonner Muster in den Osten abkommandiert wurden, eine „Buschzulage“ erhielten, als ginge es ins wilde Kurdistan.
Der Philosoph Jürgen Habermas prangerte derweil einen eroberungswütigen „D-Mark-Imperialismus“ an, während sich die niederen Chargen des akademischen Milieus über die Konsumgewohnheiten der „Ossis“ lustig machten. Die linke Satirezeitschrift „Titanic“ zeigte auf ihrem Titel eine junge Frau namens „Zonen-Gaby“, die eine halb geschälte Gemüsegurke in der Hand hielt. In großen Lettern stand daneben: „Meine erste Banane“.
Schwierige Annäherung
Das war lustig, aber auch gemein. Ressentiments ersetzten Reflexion, das wechselseitige Ossi-Wessi-Bashing nahm seinen Lauf. Bis heute hält sich die Rede vom „abgehängten Osten“ und den „Menschen zweiter Klasse“, die angeblich zwischen Rügen und Erzgebirge leben. „Jammerossis!“ schallt es zurück, „Heult leiser!“
Die neunziger Jahre waren von großen politischen Auseinandersetzungen geprägt – den zahlreichen Konflikten mit der Treuhand, Massenentlassungen, Stasi-Aufarbeitung und Strafprozessen gegen Honecker, Mielke & Co. wegen der Mauertoten –, während die ökonomischen und ökologischen Aufräumarbeiten weitergingen. Die Weltgeschichte nahm darauf jedoch keinerlei Rücksicht. Ob Irak- oder Balkankrieg, Srebrenica-Massaker oder islamistischer Terror – die Erde drehte sich weiter.
Es war ein kleines Wunder, dass die deutsche Einheit trotz alledem, trotz aller Krisen und Konflikte, eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Womöglich hat dabei geholfen, dass im ersten Jahrzehnt nach Mauerfall und Vereinigung auch der Humorstandort Deutschland einen gewissen Aufschwung nahm. Ein Schwabe namens Harald Schmidt wurde zum ungekrönten König der „Spaßgesellschaft“, zu der die frivole Nackedei-Show „Tutti Frutti“ ebenso gehörte wie die Comedy-Serie „RTL Samstagnacht“, Hape Kerkeling, Anke Engelke, Dirk Bach und Otto Waalkes. Die politische Korrektheit war noch nicht erfunden, und so kam es zu ausgedehnten Entspannungsübungen der – frei nach Helmuth Plessner – verspäteten Lachnation, die sich mal weniger ernst nahm als üblich.
Die islamischen Terroranschläge vom 11. September 2001 beendeten abrupt diese Phase, die im Rückblick gewiss heiterer erscheint, als sie wirklich war. Dann folgte eine Krise nach der anderen: Der Afghanistan-Krieg gegen Al-Kaida und die Taliban, der zweite Irak-Krieg 2003, Weltfinanzkrise 2008, Flüchtlingskrise 2015, Corona 2020, Russlands Überfall auf die Ukraine 2022, das palästinensische Massaker an über tausend Juden vom 7. Oktober 2023 und der anschließende Krieg in Gaza. Auch dies ist nur eine kleine Auswahl jener Ereignisse, die den Alltag des wiedervereinten Deutschland maßgeblich beeinflussten, ja, zutiefst erschütterten und dauerhaft veränderten.
Alte und neue Spaltungen
Heute verläuft die oft zitierte „Spaltung der Gesellschaft“ weniger entlang des innerdeutschen Konflikts zwischen „Ossis“ und „Wessis“, sondern vielmehr zwischen oben und unten. Freilich geht es dabei nicht um einen Klassenkampf, denn die sozialökonomische Entwicklung seit 1990 hat alles in allem dafür gesorgt, dass das Wohlstandsniveau deutlich gestiegen ist und sich die Lebensverhältnisse, verglichen mit 1989, angenähert haben.
Die Missstimmung, die sich im Osten wie im Westen des Landes festgesetzt hat und in den Wahlstimmen für die AfD ihren politischen Ausdruck findet, rührt vor allem von einem unangenehmen Gefühl her: dass die Regierenden, die politische Klasse, zu der auch die großen, zumal öffentlich-rechtlichen Medien gehören, nicht mehr in demselben Land leben wie die Bürger. Der Vertrauensverlust bei den Wählern entspricht dem Realitätsverlust der Politiker, die kaum noch wagen, drängende, offenkundige Probleme beim Namen zu nennen.
Auch wenn der Vergleich schief ist: Ehemalige DDR-Bewohner fühlen sich zuweilen an alte Zeiten der Fünfjahres-Pläne erinnert, selbst wenn die Bundesregierung nicht das Politbüro der SED ist und die Deutsche Bahn kein VEB Großkombinat Schwarze Pumpe.
Neben den genannten Krisen und Kriegen, zu denen auch die Dauerbedrohung durch islamistischen Terror und das alarmistische Grundrauschen der „Klimakatastrophe“ gehören, gibt es zwei zentrale Scheidelinien: Die Corona-Pandemie und der staatliche Umgang mit ihr, mehr noch aber alles, was mit der Migrations- und Integrationspolitik der letzten zehn Jahre zusammenhängt – Kontrollverlust, Unsicherheit und das verbreitete Gefühl, dass sich das unter Mühen vereinte Deutschland kulturell massiv verändert hat – und zwar zu seinen Ungunsten.
Sehnsucht nach einem verlorenen Land
Fremdheitsgefühle stellen sich ein. Jüngst fragte ein befreundeter Psychotherapeut beim Abendessen, wo denn eigentlich unser altes Deutschland geblieben sei. Nein, er meinte weder das Kaiserreich noch die Adenauer-Republik, aber vielleicht jenes Land, in dem die Fahrpläne der Deutschen Bundesbahn noch verlässlich waren, öffentliche Räume nicht zu Messerverbotszonen erklärt werden mussten und die Grundvertrautheit mit der heimatlichen Umgebung auch daher rührte, dass man sich mit den anderen Menschen im gleichen kulturellen Raum bewegte.
An dieser Stelle meint man den Aufschrei „Das ist doch Rassismus pur!“ von Katrin Göring-Eckardt zu hören. Unvergessen sind ihre naiv-weltfremden Äußerungen aus dem Jahr 2015, als über eine Million Migranten nach Deutschland kamen: „Wir kriegen jetzt Menschen geschenkt. Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freu mich drauf. Am Ende profitieren wir alle davon – mit mehr Sicherheit, übrigens auch sozialer Sicherheit.“
Der groteske Realitätsverlust des immer noch einflussreichen links-grünen Milieus trägt massiv zum allgemeinen Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Klasse insgesamt bei. Zusammen mit Angela Merkels historischem Bekenntnis, letztlich eine Kapitulationserklärung, man könne die deutschen Grenzen sowieso nicht schützen, ergibt sich das Bild eines Landes, auf dessen Schicksal diejenigen, „die schon länger hier leben“ (Merkel), immer weniger Einfluss haben.
Und das genau ist der Punkt, die Schmerzgrenze für viele. Er trifft auch die wachsende Dysfunktionalität des Staates, von den Zuständen in Schulen, Schwimmbädern und dem öffentlichen Nahverkehr bis zur ausufernden Bürokratie und einer kriselnden Wirtschaft, die den aufgeblähten Sozialstaat nicht mehr finanzieren kann. Nicht wenige Bürger sprechen von einem Niedergang, dem man wie einem epischen Auffahrunfall in Zeitlupe zuschaut.
„Warte nicht auf bess're Zeiten!“ sang einst Wolf Biermann, und vielleicht kommt die Hoffnung ja auch aus der Erfahrung: Zwei Staaten mit komplett gegensätzlichen gesellschaftlichen Systemen zusammengeführt zu haben, wenn auch mit Ach und Krach – das sollte eigentlich die Zuversicht stärken, die unter so vielen Anstrengungen gebildete gemeinsame Republik wieder auf Vordermann zu bringen – mit vereinten Kräften.
Eine andere Chance gibt es nicht.
Reinhard Mohr ist freier Autor und schreibt unter anderem für „Die Welt“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Zuletzt erschien unter dem Titel „Good Morning Germanistan! Wird jetzt alles besser?“ die Fortsetzung seines mit Henryk M. Broder geschriebenen Bestsellers „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“ (2023, beide Europa Verlag).
www.europa-verlag.com