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Über den jüngsten ukrainischen Vorstoß im Raum Kursk, die fehlende westliche Strategie für eine Beendigung des Konfliktes und die noch immer nicht gebannte Gefahr einer Eskalation des Krieges hin zu einem größeren Flächenbrand
In den vergangenen Wochen gab es rund um den Ukrainekrieg verschiedene gravierende Ereignisse. Zum einen startete die Ukraine einen Vorstoß auf russisches Gebiet im Raum Kursk, zum anderen drangen die Russen im Donbass vor. Parallel dazu gab es eine umfangreiche Regierungsumbildung in Kiew. Zudem berief NATO-Generalsekretär Stoltenberg eine Sondersitzung des NATO-Ukraine-Rats ein, und in Ramstein kam die aus rund 50 Staaten bestehende Ukraine-Kontaktgruppe zusammen, wozu auch der Kiewer Präsident Selenskyj anreiste. Zeit also für eine kompetente Analyse des Geschehens.
Herr Kujat, wie bewerten Sie die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen rund um den Ukrainekrieg?
Die Entwicklungen sprechen dafür, dass die Lage der Ukraine immer kritischer wird. Der Vorstoß in Richtung Kursk war durchaus ein politischer Coup. Die Ukrainer haben eine Schwachstelle der Russen entdeckt und ihre Chance mit einem beachtlichen Erfolg ergriffen. Aber letzten Endes stellt sich die Frage, was sie damit erreicht haben. Hat, wie es zunächst von westlichen Medien und Politikern behauptet wurde, dieser Vorstoß den Kriegsverlauf wirklich zugunsten der Ukraine verändert – oder ist er eher ein Vabanquespiel, das dem Land am Ende teuer zu stehen kommt?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Letzteres der Fall ist. Die Ukraine ist mit ihrem Vorstoß ein hohes Risiko eingegangenen, weil sie dafür leistungsfähige Kampftruppen von ihrer unter starkem russischen Druck stehenden Verteidigungsfront im Osten des Landes abziehen musste. Dadurch wurde ihre Verteidigung des eigenen Territoriums geschwächt – und zusätzlich muss sie ihre eroberte Position im Raum Kursk halten.
Angesichts der russischen Lufthoheit und der damit verbundenen Möglichkeiten, Bewegungen des Gegners aufzuklären, wurde spekuliert, ob die Russen den Ukrainern bewusst das Feld überlassen haben könnten, um ihnen damit eine Falle zu stellen. Was halten Sie davon?
Die ukrainischen Vorbereitungen – das Herausziehen von Verbänden aus mehreren Brigaden, die Zusammenstellung eines neuen Kampfverbandes in einem Verfügungsraum nahe der russischen Grenze – können ihnen nicht verborgen geblieben sein. Dennoch glaube ich nicht, dass die Russen eine Falle gestellt haben. Der ukrainische Einbruch gelang nur, weil die russische Grenze in diesem Abschnitt nur mit kurz ausgebildeten und leicht bewaffneten Wehrpflichtigen ohne Kampferfahrung gesichert wurde. Interessant finde ich, dass die Ukrainer über ausgezeichnete Lageinformationen verfügten, die es ihnen erlaubten, den Vorstoß fächerförmig auszuweiten und schnell Verstärkungen nachzuführen.
Die russischen Streitkräfte haben sich anfangs nur darauf beschränkt, die Lage zu stabilisieren. Sie haben jetzt begonnen, die eingedrungenen Kräfte systematisch abzunutzen, um sie zum Rückzug zu zwingen. Diese Strategie haben die Russen bereits in Bachmut und Awdijiwka erfolgreich angewendet.
Das heißt, die Kursk-Operation stellt durchaus eine Blamage für die Russen dar, bedeutet jedoch keine strategische Lageverbesserung für die Ukraine?
So ist es. Die Ukrainer haben zwar einen politischen Erfolg erzielt, aber kein strategisches Ziel erreicht, etwa das Kernkraftwerk von Kursk erobert. Und ein Abzug russischer Kampftruppen aus dem Donbass, der zu einer Entlastung der dortigen ukrainischen Verteidigung führen würde, ist auch nicht erfolgt. Im Gegenteil, die Lage dort wird mit jedem Tag schwieriger.
Offenbar ist die strategische Priorität Russlands nach wie vor, kontinuierlich jene vier Verwaltungsgebiete zu erobern, die Präsident Putin im September 2022 annektiert hat. Der aktuelle Schwerpunkt ist die Stadt Pokrowsk in der Oblast Donezk. Diese ist ein wichtiger Knotenpunkt verschiedener Verkehrswege, der von den ukrainischen Verteidigern als logistische Drehscheibe für die Versorgung der eigenen Linien mit Nachschub genutzt wird. Der sich abzeichnende Verlust hätte gravierende Auswirkung auf die Verteidigung, und für die Russen würde sich ein Weg in Richtung der ehemaligen Verwaltungsgrenze von Donezk öffnen.
Napoleons „Grande Armée“ ist 1812 mit rund 450.000 Mann bis Moskau gekommen – und musste dennoch abziehen. Die Wehrmacht ist 1941 sogar mit einem Millionenheer in die Sowjetunion einmarschiert und damit bis nach Leningrad, Moskau und Stalingrad vorgedrungen – und musste ebenfalls abziehen. Was sagt vor diesem Hintergrund der Jubel vermeintlicher Experten über das Eindringen von ein paar tausend ukrainischen Kämpfern nach Russland über deren Kompetenz aus?
Er zeigt, dass die Wortmeldungen vieler, vor allem deutscher Kommentatoren von Wunschdenken geprägt sind und nicht von einer unvoreingenommenen Lagebeurteilung.
Daneben wird wieder einmal deutlich, dass wir für die Beendigung dieses Konflikts keine Strategie haben. Es gibt lediglich Beschwörungen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss und Russland ihn nicht gewinnen darf – jedoch keinerlei Aussagen dazu, was das bedeutet und wie es erreicht werden soll. Seit Ausbruch des Krieges hat der Westen Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt, die ukrainischen Streitkräfte mit immer leistungsfähigeren Waffen und wichtigen Aufklärungsinformationen beliefert sowie den Staatshaushalt mit zig Milliarden subventioniert. Trotzdem ist die Situation für die Ukraine kontinuierlich schlechter geworden.
Ist es wirklich so schwierig zu verstehen, dass dem Land bei Fortsetzung dieses Weges eine katastrophale militärische Niederlage droht? Spätestens jetzt sollte die Lage schonungslos analysiert und die für die Ukraine verheerende Entwicklung durch einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung verhindert werden. Den Preis für das westliche Nichthandeln zahlen die Ukrainer, deren Blutzoll – ohne realistische Aussicht, die besetzten beziehungsweise annektierten Territorien zurückzugewinnen – täglich höher wird.
Immerhin war in jüngsten westlichen Wortmeldungen die Bereitschaft zu Verhandlungen zu vernehmen. Kanzler Scholz äußerte vor einigen Tagen sogar die Möglichkeit eines Friedensgipfels mit dem russischen Präsidenten Putin.
Der Bundeskanzler sagte nach einem Vier Augen-Gespräch mit Präsident Selenskyj: „Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen als das gegenwärtig den Eindruck macht.“ Damit lässt er erkennen, dass Selenskyj ihn über den Ernst der Lage informiert hat und nach einem Weg aus dem militärischen Dilemma sucht. Allerdings setzt der Bundeskanzler darauf, der sogenannte Selenskyj-Friedensplan könnte Erfolg haben, wenn Russland zu der nächsten Gipfelkonferenz eingeladen wird. Wer sich näher mit diesem Plan beschäftigt, wird jedoch feststellen, dass es eine Sackgasse ist, was bereits die letzte Konferenz in der Schweiz gezeigt hat.
Selenskyj plant offenbar, aus Anlass der UN-Generalversammlung in die USA zu reisen, um mit US-Präsident Biden seinen „Siegesplan“ zu besprechen. Bislang gibt es nur die vage Andeutung, dass er versuchen will, durch diplomatische und wirtschaftliche Mittel den Krieg mit Russland zu beenden und der Ukraine einen Platz in der „Sicherheitsinfrastruktur der Welt“ zu sichern.
Parallel dazu verfolgt Selenskyj nach wie vor eine militärische Lösung, Ein entscheidendes Element dieser Strategie ist die Lieferung und Freigabe westlicher Langstreckenwaffen für Angriffe auf strategische Ziele in der Tiefe Russlands. Zusammen mit westlichen Garantien für eine weitere Unterstützung hofft die ukrainische Führung offenbar, doch noch einen militärischen Sieg zu erringen.
Die Freigabe weitreichender westlicher Systeme für Einsätze gegen Ziele auf russischem Territorium ist jedoch innerhalb der NATO nach wie vor umstritten.
Ja. Der britische Premierminister Keir Starmer hat diese Frage zu seinem Hauptanliegen bei seinem Antrittsbesuch am 13. September in Washington gemacht. Großbritannien ist dazu bereit, Frankreich unter bestimmten Auflagen. Starmer wollte jedoch ausdrücklich Bidens Zustimmung einholen, um eine gemeinsame Strategie der USA, Großbritanniens und Frankreichs in dieser Frage zu schmieden. Präsident Biden war dazu wie bisher nicht bereit, um, wie er mehrfach sagte, einen „dritten Weltkrieg zu vermeiden“.
In der Tat könnten erneute Angriffe mit leistungsfähigen westlichen Systemen auf das nuklearstrategische Frühwarnsystem oder Flugplätze der strategischen Bomberkräfte – mit Drohnen hat die Ukraine derartige Angriffe bereits durchgeführt – zu einer Eskalation des Krieges auf die Ebene der beiden nuklearen Supermächte führen und damit die Natur des Krieges grundsätzlich verändern. Biden will dieses Risiko offenbar auch in Zukunft vermeiden. Deshalb erbrachte sein Gespräch mit Starmer kein Einvernehmen, und der britische Premierminister erklärte danach lapidar: „Wir hatten eine umfassende Diskussion über Strategie.“
Genau das ist des Pudels Kern: Es geht nicht um eine völkerrechtliche, sondern eine entscheidende strategische Frage. Denn völkerrechtlich ist ein Angriff auf das Gebiet eines Angreifers selbstverständlich erlaubt. Die Ukraine ist jedoch für die Einsatz- und Zielplanung von Angriffen auf strategische Ziele im russischen Hinterland völlig auf die Unterstützung durch westliche Spezialisten angewiesen. Sollten die USA diese leisten, würden sie einen großen Schritt in Richtung einer direkten Kriegsbeteiligung unternehmen. Die amerikanische Regierung fürchtet offenbar, dass Russland dann reziprok vorgehen und beispielsweise den Iran in die Lage versetzen könnte, amerikanische Stützpunkte und militärische Kräfte im Mittleren Osten anzugreifen.
Ob die amerikanische Entscheidung Bestand hat, wenn sich die Lage der Ukraine weiter verschlechtert, ist nicht sicher. Zwar wären die von F-16 Kampfflugzeugen einsatzbaren Luft-Boden-Abstandsraketen (JASSMs) geeignet, russische Ziele in 360 Kilometern Reichweite zu bekämpfen, ohne dass die Flugzeuge den ukrainischen Luftraum verlassen. Jedoch zeigt eine rationale strategische Bewertung der Zweck-Mittel-Relation, dass der Einsatz weitreichender westlicher Waffen weder geeignet ist, die Bedrohung durch russische Gleitbombenangriffe abzuwenden noch eine Änderung der strategischen Lage zugunsten der Ukraine herbeizuführen. Russland hat die Einsatzflugzeuge für Gleitbomben außerhalb der Reichweite der britischen und französischen Marschflugkörper und der amerikanischen ATACMS-Raketen nach Osten stationiert, und die Offensivfähigkeit der russischen Streitkräfte würde nicht grundsätzlich beeinträchtigt.
Ist der Eindruck korrekt, dass die USA in letzter Zeit die Unterstützung der Ukraine stärker auf die Europäer verlagern?
Das ist richtig. Zum Beispiel durch die Schaffung der NATO-Koordinierungsstelle in Wiesbaden für die militärische Unterstützung der Ukraine. Zudem haben Deutschland und andere europäische Staaten auf Veranlassung der USA bilaterale Sicherheitsvereinbarungen mit der Ukraine geschlossen.
Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung der USA, Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren, wodurch Deutschland wie kein anderes europäisches Land zum Vorfeld der amerikanischen Russland-Strategie wird.
Jeder, der unvoreingenommen auf die Geschichte blickt, weiß, dass Kriege nur politisch gelöst werden können. Halten Sie eine solche Lösung derzeit für eher oder für weniger wahrscheinlich?
Aus meiner Sicht hängt viel vom Ausgang der US-Präsidentenwahl am 5. November ab. Dann werden wir sehen, ob der wichtigste Unterstützer der Ukraine künftig von einer Administration geführt wird, von der eine Fortsetzung des bisherigen Kurses zu erwarten ist oder von einem Mann, der mehrfach erklärt hat, er beabsichtige nach seiner Wahl, den Krieg sofort zu beenden.