18.11.2025

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden

Deutschland

Wie Horst Teltschik die Vereinigung erlebte

Das komplette Tagebuch des Kanzlerberaters über die „329 Tage zur deutschen Einigung“ liegt seit diesem Jahr in zweiter Auflage vor

Michael Gehler
03.10.2025

In Bonner Journalistenkreisen galt Horst Teltschik als „Kissinger Kohls“. Den „Bahr von Kohl“ nannte ihn der britische Historiker Timothy Garton Ash, während die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte ihn als „eine Art nationalen Sicherheitsberater“ des Bundeskanzlers bezeichnete. Konkret war das am 14. Juni 1940 im nordmährischen Klantendorf im „Reichsgau Sudetenland“ geborene Kriegs- und Flüchtlingskind nach Helmut Kohls Wahl zum Bundeskanzler am 1. Oktober 1982 Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“ sowie stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramts.

1991 war das Tagebuch des Ratgebers erschienen, aber es war nicht vollständig. Damals existierte noch die Sowjetunion, und es galt noch auf Verschiedenes Rücksicht zu nehmen. Die komplette Ausgabe liegt seit diesem Jahr in zweiter Auflage vor.

Agieren, Beobachten, Kommentieren
Die täglichen Aufzeichnungen bieten Einblicke in das Agieren, Beobachten und Kommentieren des maßgeblichen außenpolitischen Kanzlerberaters jener entscheidenden Jahre 1989/90. Offeriert wird ein breites und buntes Spektrum von Entscheidungsfindungen und Stimmungslagen. Teltschik besaß nicht nur die Fähigkeit zur scharfsinnigen Analyse, sondern auch genaue Beobachtungsgabe zu Auftreten, Bekleidung, Charaktereigenschaften, Eigenheiten und Verhaltensmustern von Personen. Er hielt diese nüchtern, fallweise auch mit Ironie und Süffisanz fest. Kohl erscheint nicht immer sicher und zielorientiert, sondern zeitweise abwartend, manchmal sogar enttäuscht und niedergeschlagen sowie auch zaudernd und zögerlich bei Entscheidungen. Hartnäckig, geschickt und kompetent wurde er vom Chefberater nicht nur begleitet und beraten, sondern auch angespornt, motiviert und stimuliert, mitunter auch gedrängt, Maßnahmen zu veranlassen.

Die Gemeinsame deutsch-sowjetische Erklärung in Bonn am 13. Juni 1989 mit Michail Gorbatschow hatte Teltschik mitgestaltet. Er verstand sie als Beschleuniger auf dem Weg zu einem geeinten und selbstbestimmten Europa. „Freiheit vor Einheit“ war das Motto eines wegweisenden Interviews von Teltschik im „Generalanzeiger“ am 6. Juli. Die Unterstützung für Polen verstand er als Vorleistung zur Verständigung mit einem schwierigen Nachbarn. Und die Terminierung der offiziellen ungarisch-österreichischen Grenzöffnung mit Ungarns Reformsozialisten Miklós Németh am 10./11. September sollte als Absicherungsmaßnahme für Kohl auf dem 37. Bundesparteitag der CDU in Bremen vom 11. bis 13. September dienen.

Details über Moskaus Forderungen
Sensationell anmutende Mitteilungen des sowjetischen Emissärs Nikolai Portugalow am 21. November waren der Auslöser dafür, eine neue Deutschlandpolitik in Angriff zu nehmen. In der wegweisenden Bundestagsrede sieben Tage später nannte Kohl mit zehn Punkten die deutsch-deutschen Notwendigkeiten und internationalen Rahmenbedingungen als Voraussetzungen einer aktiveren Deutschlandpolitik, nachdem am 9. November die innerdeutschen Grenzübergangsstellen geöffnet worden waren. Inspiration und Ideengebung für die deutschlandpolitische Offensive gingen auf Teltschik zurück, der am 6. Dezember Kritik daran erfolgreich parierte und den Kanzler zum Festhalten an diesem Kurs ermutigte. Kohls schwierigste Rede in Dresden am 19. Dezember 1989 wurde von Teltschik begleitet.

Die von US-amerikanischer Seite bestehenden Vorbehalte gegen den „Genscherismus“ – der Außenminister hatte sich gegen eine NATO-Ostausdehnung positioniert – konnten rechtzeitig erkannt und konterkariert werden, die Währungsunion als Initialzündung begriffen und Vorabstimmungen mit Washington unternommen werden, um dafür grünes Licht in Moskau am 10. Februar 1990 zu erhalten. Das Ringen um die NATO-Erweiterung auf das spätere Beitrittsgebiet gestaltete sich schwierig, während zeitgleich die Forcierung der inneren Einigungspolitik erfolgte. Die Regelung der polnischen Grenzfrage erwies sich als Hängepartie, während die Abwehr eines Friedensvertrags mit Reparationsforderungen gelang. Doch waren die Grenzen der Beratertätigkeit und der Kommunikation in der aufgeschobenen polnischen Grenzfrage erkennbar, gleichwohl gelang eine vorläufige Lösung. Westeuropäische Integrationsimpulse konnten vertrauensbildend mit Frankreich gesetzt werden, während deutsch-deutsche Koordinierungsnotwendigkeiten parallel liefen. Letztlich waren es deutsche Kredite für sowjetische NATO-Zugeständnisse infolge einer Geheimmission nach Moskau mit deutschen Bankiers am 14. Mai 1990. Wichtig war eine westliche Einigung über die NATO-Gipfelerklärung am 18. Juni als Signal im Vorfeld des KPdSU-Parteitags in Moskau, bei dem noch offen war, ob Gorbatschow diesen politisch überleben würde. Was die Perspektiven anging, erwartete Kohl frühzeitig „große Schwierigkeiten bei der Umstellung der Betriebe und für den Arbeitsmarkt“ im späteren Beitrittsgebiet. Bemerkenswert war das Vorfeld der Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, bei der neben dem Finanzminister wichtige Beratertätigkeiten notwendig waren.

Gegenspieler Genschers
Weitere Details erfährt der Leser über die sich ins Unermessliche steigernden Moskauer Forderungen von Milliarden-Krediten für die UdSSR, deren Gewährung in der Schlussphase der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die äußere Einheit und die zukünftigen bilateralen deutsch-sowjetischen Beziehungen nicht mehr frei von Erpressungen waren, sowie über die desaströse ökonomische Lage in der UdSSR, über die Teltschik und sein Chef schon seit Anfang 1990 im Bilde waren. Gezielte sowjetische Nötigungsversuche machten eine unvermeidliche Zahlungsbereitschaft auf bundesdeutscher Seite erforderlich. Bonn ging bei den neuerlichen Moskauer Zahlungsforderungen an die Grenzen.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher blieb fast bis zum Ende der Erzfeind, Konkurrent und Rivale Teltschiks, was rückblickend aus Sicht von Vertretern des Auswärtigen Amtes Bestätigung findet. Bei Spannungen mit dem Kanzleramt, die schon vor 1989 bestanden, ging es nicht nur um Kompetenzfragen, sondern auch um inhaltliche Unterschiede in der Deutschland-, Einigungs- und Sicherheitspolitik. Genscher wollte nicht nur eine vorzeitige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens, obwohl der Bundestag dazu eine eindeutige Resolution verabschiedet hatte. Kohl wünschte erst nach den Bundestagswahlen darüber zu befinden, gab es doch unter Abgeordneten und Wählern Heimatvertriebene. Genscher befürwortete auch eine deutlichere Reduktion der Bundeswehr-Mannstärken, konnte sich aber nicht gegen Kohl durchsetzen.

Beim Studium des kompletten Tagebuchs wird deutlich, dass das Zeitfenster zur Einheit nur wenige Monate vom Februar bis September 1990 offen stand. Dass die einmalige Chance erkannt und der neue Handlungsspielraum genutzt wurde, war auch auf Teltschik zurückzuführen. Er kann neben Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble als einer der Architekten der deutschen Einigung bezeichnet werden – mitentscheidend für Helmut Kohl als Baumeister der Einheit. Das wurde aufgrund der engen Abstimmung Teltschiks mit dem Berater von US-Präsident George H. W. Bush, Brent Scowcroft, möglich. Dass Kohl in dieser historischen Phase zur richtigen Zeit die für die deutsche Einigung richtigen Entscheidungen traf, geht neben Seiters und Schäuble maßgeblich auf sein unmittelbares Umfeld, den engen Begleiter und sein Netzwerk der Berater auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der vier Sieger- und Besatzungsmächte zurück.

Prof. Mag. Dr. Michael Gehler ist Herausgeber von Horst Teltschicks dieses Jahr in zweiter Auflage bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienenen Memoirenbandes „Die 329 Tage zur deutschen Einigung. Das vollständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken“.


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS