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Der vor 125 Jahren gestorbene Preuße gilt als einer der Vorläufer der Lebensphilosophie
Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat das Bild des philosophischen Hammers als Untertitel seines zentralen Werkes „Götzen-Dämmerung“ (1889) gewählt, um die Art seines Denkens und dessen angestrebter Durchschlagskraft zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich hat dieses Bild seine Wirkung nicht verfehlt, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es hat dafür gesorgt, dass Nietzsche nicht in der Abgeschiedenheit eines vor sich hindenkenden Philosophen lediglich von einem kleinen Kreis zur Kenntnis genommen wurde, sondern auch von den unterschiedlichsten Geistern bis hin zu revolutionären Kräften, die Aspekte seines Denkens auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Das Bild ist aber auch eine Art Leseanweisung, die den unterschiedlichsten Interpretationen Tür und Tor geöffnet hat. Bisweilen erscheinen seine Gedanken wie ein Irrgarten, in dem die Kritiker etwas hilflos herumirren. Und so ist sein Werk zu einer Quelle der unterschiedlichsten, nicht selten extrem voneinander abweichenden Deutungen geworden: Man sieht ihn als Verkörperung des Antichristen oder als einen sich verzehrenden Gottsucher, als Zertrümmerer überkommener Werte oder als Prophet einer neuen Ethik.
Nietzsche war ein europäisches Ereignis, dessen Einfluss schon um die Jahrhundertwende weit über Deutschland hinausging. Dieser schlägt sich nicht nur in der Kunst zahlreicher Länder nieder, sondern wirkte sich auch auf die Haltung verschiedener Staaten zu Deutschland aus. Insbesondere England und die angelsächsischen Mächte mit ihrer utilitaristischen Tradition taten sich mit einem angemessenen Verständnis schwer. Man sah in seinem Denken eine typisch deutsche Haltung, die man bekämpfte. Dagegen wies Frankreich, selbst in der schweren Zeit nach 1945, ein differenziertes Verständnis auf. Italien seinerseits ließ sich in seinem Denken und seiner Kunst, so beispielsweise im Futurismus, stark von Nietzsche beeinflussen. Selbst in der Sowjetunion konnte man sich nicht völlig der Faszination Nietzsches entziehen. Einerseits wurde er als Wegbereiter des Faschismus gebrandmarkt, andererseits fühlte man sich von der ihm zugeschriebenen revolutionären Ausrichtung angezogen.
Nietzsches Wirkung im Ausland
Als Persönlichkeit bestätigt Nietzsche die Erfahrung, dass Söhne protestantischer Pastorenhäuser häufig extrem unruhige Geister sind. Er wurde 1844 im Flecken Röcken, heute ein Ortsteil der Stadt Lützen im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt, geboren. Von 1858 bis 1864 besuchte er das ehrwürdige Internatsgymnasium Schulpforta, aus dem viele große Geister hervorgegangen sind wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Otto von Manteuffel oder Theobald von Bethmann Hollweg. Daran schloss sich ein Studium der Theologie und klassischen Philologie an den Universitäten Bonn und Leipzig an. Nach Abschluss des Studiums eröffnete sich ihm eine einzigartige Karriere: Unter den fördernden Händen seines akademischen Lehrers Albrecht Ritschl erhielt er, obgleich weder promoviert noch habilitiert, an der Universität Basel eine Professur der klassischen Philologie.
Bereits während seines Studiums hatte er seine Seelenverwandtschaft mit Richard Wagner und dessen im Sinne eines Gesamtkunstwerkes gestalteter Musik entdeckt. Diese Geistesbruderschaft ging jedoch kaum über zehn Jahre hinaus, da Wagner nach Ansicht Nietzsches vor dem Christentum schließlich doch „zu Kreuze kroch“. Bereits in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) interpretierte Nietzsche die griechische Kultur völlig anders als die gängige Lehrmeinung und leitete damit letztlich den Bruch mit Wagner ein, den er dann 1878 endgültig vollzog und schließlich mit „Der Fall Wagner“ (1888) und „Nietzsche contra Wagner“ (1888) in aller Ausführlichkeit darlegte – bezeichnenderweise die letzten Schriften.
Das Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883–1885), das in vier Lieferungen erschien, erweist sich bis heute als großer Wurf, der lebhaft, auch in der Öffentlichkeit, diskutiert wird. Der Leser dieser Schrift sieht sich allerdings mit grundsätzlichen Problemen konfrontiert, denn das ihm entgegenstehende philosophische Gebäude gleicht einem nur schwer durchschaubaren System, in dem sich derjenige etwas hilflos bewegt, der das an Erkenntnissen gewinnen will, die der Urheber in ihm angelegt hat. Was dieses System in scheinbar widersprüchlicher Weise so schwer zugänglich macht, sind außerdem seine Züge der Spontanität, das heißt Gedanken, die offenbar willkürlich aufblitzen, sich jedoch einer höher geordneten und umfassenden Perspektive unterordnen und in ihren Bezügen nicht sofort erkennbar sind.
Mit dem Propheten Zarathustra schuf sich Nietzsche eine Kunstfigur, die sich an den iranischen Religionspropheten Zoroaster anlehnt, und die er als Maske benutzt, um seine eigene Weltsicht vorzutragen. Die Sprache des Buches ist in biblischer Diktion gehalten und von Bildern des Jugendstils durchzogen. Entsprechend gehen die Interpretationen auseinander. Es kristallisieren sich jedoch vier Punkte heraus, aus denen sich weitergehende Deutungen ableiten lassen.
Der Zweck von Zarathustra
Zum einen ist es die völlige Umkehr des moralischen Maßstabes: „Wandel der Werte, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muß.“ Nietzsche will im Menschen die dionysische Komponente wecken, jene berauschende, in der Überwindung des Alten zugleich schöpferische Kraft, die er der griechischen Kultur zuschreibt. Sein zentrales Angriffsziel ist dabei das Christentum, dessen Bekenntnis zur Nächstenliebe er für eine kulturelle Nivellierung verantwortlich macht.
Weiterhin rückt der Ruf nach dem Übermenschen in das Zentrum: „Gott starb: nun wollen wir, – daß der Übermensch lebe.“ Mit seinem spielerischen Umgang mit der Sprache hat Nietzsche reichhaltig Material für das Missverstehen dieser Vorstellung geliefert, was auch vielfach geschehen ist, so wenn beispielsweise Zarathustra verkündet: „Das Böseste ist nötig zu des Übermenschen Bestem.“ Zweifellos greift Nietzsche mit dieser Idee sehr hoch, aber der Übermensch ist alles andere als eine körperliche Erscheinung. Er erweist sich im Grunde als ein zu erstrebender, nahezu seelischer Zustand des Menschen, der ihn von der Metaphysik des Christentums befreit und ihm den Abglanz des Göttlichen verleiht. Auch hier muss die Idee in ihrer zeitlichen Einbettung gesehen werden. Es war die Zeit des Individualismus, in welcher der einzelne mit seiner Tatkraft die sonst üblichen Schranken überspringen konnte.
Mit der Verneinung Gottes konnte der Mensch nun selbst zum Schöpfer und Weltenbauer werden, wofür die zeitgenössische Kunst zahlreiche Zeugnisse liefert. Ein bezeichnendes Beispiel ist James Joyces Protagonist Stephen Dedalus in dem Roman „Porträt des Künstlers als Junger Mann“ (1916), der sich vor dem jesuitischen Prüfungsausschuss weigert, Gott zu dienen. Da er sich als Künstler begreift, will er als Gegenspieler Gottes seine eigene originäre Welt schaffen. Nicht ohne Grund taucht das Lucifer-Motiv in der Kunst der Jahrhundertwende so häufig auf. Lucifer als gefallener Erzengel und Gegenspieler Gottes wird zur Identifikationsfigur des Künstlers. Die dritte Komponente ist der „Wille zur Macht“, die positive Wendung von Schopenhauers „Wille zum Leben“: „Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille um Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht!“ Nietzsche zählt zu jenen, die nach der Verneinung Gottes nach einem Prinzip suchen müssen, mit dem sie die Schöpfung erklären können. Er legt daher eine allmächtige, vom Menschen nicht zu kontrollierende Kraft zugrunde, die in ihrem unermesslichen Wirken alles Sein beherrscht. Eine derartige Konstruktion ist gleichfalls zeittypisch. Sie findet sich beispielsweise bei dem französischen Philosophen Henri Bergson als élan vital oder bei dem Iren G.B. Shaw als Life Force.
Als vierte Komponente kommt die Zeitauffassung hinzu. Es ist der „Ring der ewigen Wiederkehr“: „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf; ewig läuft das Rad des Seins.“ Das zyklische Zeitverständnis steht in direktem Widerspruch zu der auf Linearität beruhenden teleologischen Zeitvorstellung des Christentums und dessen Heilsbotschaft. Mit dieser Botschaft will Nietzsche jeglichen metaphysischen Bezug abwerfen und Existenz innerweltlich verpflichten.
Nietzsches Wirkung bis heute
Die Frage nach der in allen Denkbereichen auf der ganzen Welt bis heute anhaltenden Wirkung von Nietzsches Gedanken ist nicht einfach zu beantworten. Zweifellos wollte Nietzsche gehört werden. Er verlieh seinen Gedanken daher ganz bewusst die Gestalt eines sprachlichen Kunstwerkes mit der darin angelegten Wirkung. Hierin erreichte er eine Vollkommenheit, die ihm Interesse und Aufmerksamkeit sicherte. Allerdings offenbart sich die in dem Kunstwerk vorgetragene philosophische Position nicht in Form eines geschlossenen Systems, vielmehr ist sie in Fragmenten mit unterschiedlichen Aussagewerten gehalten, sodass der Rezipient sich herausgefordert fühlt, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Da sich auf diese Weise Philosophie und Kunstwerk in vollkommener Ausführung miteinander verbinden, schafft Nietzsche ein einzigartiges Zeugnis seines Denkens, das schon für sich allein in der Kulturwelt seinen angemessenen Platz findet. Zugleich diagnostiziert er ebenso feinfühlig wie mit unerbittlicher Schärfe die offenen und auch verborgenen Krankheiten unserer Zivilisation. Wie einige Kritiker nicht ganz zu Unrecht meinen, geht ein Teil der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt, auf die überraschte Wahrnehmung unserer von ihm offengelegten zivilisatorischen Misere zurück.
Das Ende des großen Philosophen war weit entfernt von der Vision eines Übermenschen und der Vorstellung eines philosophischen Hammers. In einem Anfall geistiger Umnachtung, möglicherweise ausgelöst durch einen Gehirntumor, soll er 1889 in Turin voller Mitleid den Hals eines misshandelten Droschkengauls umarmt haben. Fortan dämmerte er unter der Obhut seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die eifersüchtig über sein Werk wachte, bis zu seinem Tode am 25. August 1900 in Weimar dahin. Das Nietzsche-Archiv durchlebte eine wechselhafte Geschichte, bis es schließlich nach der deutschen Vereinigung von der Stiftung Weimarer Klassik übernommen wurde. Seit 2025 wird der Nachlass auch als Bestandteil des UNESCO-Programms „Weltdokumentenerbe“ geführt. Die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari 1967 bis 1977 erstellte kritische Studienausgabe des Gesamtwerkes umfaßt 15 Bände und gilt heute als verlässliche Textgrundlage.
Dr. Walter T. Rix ist Autor der 1974 in Kiel veröffentlichten Dissertation „George Bernard Shaw und Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur englisch-deutschen Literaturbeziehung“.