Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Im Fischerdorf Narmeln, Kreis Elbing, wurden Ärzte erstmals mit einem epidemieartigen Auftreten der Fischvergiftung konfrontiert
Im August 1924 entwickelte ein Fischer aus dem ostpreußischen Dorf Narmeln auf der Frischen Nehrung plötzlich unerklärliche Krankheitssymptome. Innerhalb weniger Minuten traten bei dem bislang völlig gesunden Mann starke Muskelschmerzen auf, denen Lähmungen am ganzen Körper folgten – wobei diese Symptome nach einer Weile auf ebenso rätselhafte Weise wieder verschwanden, wie sie gekommen waren.
Genauso traf es in den nächsten Wochen 350 weitere Fischer in den Ortschaften rund um das Frische Haff. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb hierzu: „Es ist ein unvergleichlich tragischer Anblick, wie diese kräftigen Männer hilflos, in völlig steifem Zustande aus den Fischerbooten nach Hause geschafft werden.“
Suche nach dem Verursacher
Anfangs glaubte man, dass arsenhaltige Gase aus Industrieabwässern die Ursache für die sogenannte (Königsberger) Haffkrankheit seien, weswegen die Behörden 600 Gasmasken an die Fischer verteilten. Weil die Betroffenen aber am Tage vor dem Auftreten ihrer Symptome allesamt Fische aus dem Frischen Haff gegessen hatten, drängte sich alsbald der Verdacht auf, dass die Ursache des Leidens vielleicht doch eher in der schlechten Wasserqualität und einer Ansammlung von Schadstoffen in den Meerestieren liege.
Um dem nachzugehen, richtete das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt im Sommer 1925 mit Unterstützung des Berliner Robert-Koch-Institutes das Staatliche Haff-Laboratorium in Pillau ein. Dieses untersuchte zunächst, ob die arsenhaltigen Laugen der Zellstofffabrik in Kosse, die über den Pregel ins Frische Haff gelangten, für die Krankheit verantwortlich seien. Dabei wurde die Hypothese von den Arsengasen, „welche in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang über dem Wasser lagern“, endgültig verworfen.
Zellstofffabrik in Kosse?
Stattdessen konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Forscher auf die Aale, die von den Fischern damals in überreichlichem Maße konsumiert wurden und möglicherweise Umweltgifte wie eben Arsen aus dem Schlamm am Grunde des Haffs aufgenommen hatten. Und tatsächlich fand sich in den Tieren auch eine leicht erhöhte Arsenkonzentration, die als Erklärung allerdings nicht ausreichte. Weil keine weiteren Fälle mehr auftraten, wurde das Pillauer Laboratorium im Oktober 1925 geschlossen.
Allerdings kehrte die Haffkrankheit dann im April 1926 zurück. Die meisten Betroffenen lebten dabei wieder in den Uferregionen des Haffs, in denen sich auch die fäkalienhaltigen Abwässer aus der Kanalisation der Stadt Königsberg konzentrierten und Fäulnisgase im Wasser freisetzten. Hier konnten unter dem Einfluss der Sonneneinstrahlung und des Sauerstoffmangels auf dem Grund Toxine entstehen, die über Mikroorganismen in den Nahrungskreislauf gelangten und sich in den Fischen anreicherten. Diese natürlichen Gifte sorgten dann für ein Krankheitsbild, das heute unter dem Namen Rhabdomyolyse bekannt ist und manchmal zur dauerhaften Schädigung oder gar Auflösung von Muskelfasern führt.
Die leidvolle Erfahrung, dass hieraus auch Todesfälle durch Komplikationen wie Organversagen resultieren können, machte die Bevölkerung rund ums Frische Haff im Jahr 1932, als es erneut zu einem Ausbruch der Krankheit im Bereich der Ortschaften Peyse, Zimmerbude, Groß-Heydekrug, Fischhausen, Rosenberg, Waltersdorf und Narmeln mit insgesamt 178 Betroffenen kam. Während sich die meisten davon wieder erholten, starben der 35-jährige Fischereigehilfe Karl Eim aus Peyse und ein weiterer Mann aus Waltersdorf im Herbst 1932.
Königsbergs Haushalte!
Die nun mit der Aufklärung der Krankheitsursache betrauten Mediziner der Universität Königsberg um den Direktor der Kinderklinik Wilhelm Stoeltzner gingen fälschlicherweise wieder von einer Verseuchung des Frischen Haffs durch säurehaltige Abwässer der Königsberger Zellulosefabriken aus, weil ihnen der Mechanismus der Entstehung der Rhabdomyolyse infolge einer Toxinentwicklung im Faulschlamm auf dem Grunde des Gewässers nach wie vor unbekannt war.
Darüber hinaus zahlte der Staat auch Entschädigungen an 400 gesundheitlich oder wirtschaftlich geschädigte Hafffischer, um den sozialen Frieden zu bewahren, nachdem Pläne der Betroffenen aufgeflogen waren, die Ausläufe der Abwasserkanäle von Königsberg zu verschließen. Eine solche Aktion hätte allerdings wirklich geholfen, weil damit neben den Industrieabwässern auch die tatsächlich für die Misere verantwortlichen Abwässer aus den Haushalten nicht mehr ins Haff geströmt wären.
Wie wenig die Zellstoffwerke der ostpreußischen Provinzhauptstadt Schuld an der Entstehung der Haffkrankheit trugen, zeigten andere, teilweise ebenfalls tödliche Rhabdomyolyse-Ausbrüche, bei denen die Zellstoffindustrie keine Rolle spielte. Diese ereigneten sich zwischen 1947 und 2008 am Juksowski-See unweit von Leningrad, am Sartlan-See bei Nowosibirsk, am sibirischen Kotokel-See und am Onega-See in der russischen Teilrepublik Karelien. Dazu kamen Fälle der Haffkrankheit im Gebiet von Mariestadt in Schweden (1948), in den USA (hier gab es immerhin zehn Ausbrüche zwischen 1997 und 2014) sowie in der chinesischen Metropole Nanjing (2013).