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Kirche und Gesellschaft

Zeit, die Menschen zu sammeln

In den Festreden zum 3. Oktober blieb ein Aspekt nahezu unerwähnt – der Beitrag der Kirchen, vor allem der evangelischen, zur Friedlichen Revolution und zur Vereinigung 1989/90. Dabei könnten die Erfahrungen der Protestanten aus der DDR auch heute wichtige Impulse geben

Thomas A. Seidel
11.10.2020

„Wir sollten uns als Kirche nicht so sehr mit dem Staat einlassen. Wer weiß, was nach der nächsten Wende passiert!“, äußerte ein evangelischer Bischof einer ostdeutschen Landeskirche 1996. In diesen Sätzen klingen bedenkenswerte Vorbehalte an, die nicht wenige Christen nach dem Ende der DDR in den neuen Bundesländern teilen. Auch unter den evangelischen der „gelernten DDR-Bürger“ (Manfred Stolpe) scheint es zahlreiche Zeitgenossen zu geben, für die es nicht ganz einfach ist, den eigenen „Standort“ in einem weltanschaulich neutralen, demokratisch verfassten Gemeinwesen zu finden. Vorsicht statt Zivilcourage? Rückzug in eine binnenkirchliche Nische? Konzentration auf das kirchliche „Kerngeschäft“? Mission als (pseudo-)evangelikale Dauererregung? Oder doch – wie von der EKD empfohlen – moralisch hochaufgerüsteter, politisch-amtskirchlicher Aktionismus, von der Seenotrettung über Sprachhygiene bis zur Rettung der Welt vor der drohenden Klimakatastrophe?

Kirche im Sozialismus

Die theologischen und politischen Positionen der durch die DDR geprägten evangelischen Christen sind nur verständlich vor dem Hintergrund, dass sich die Kirche im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ stets als Alternative zum politischen System verstand. Der Alltag unter der „Diktatur der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ war geprägt vom Gegenüber zur Totalität des Politischen. Ähnlich wie in den Jahren des Nationalsozialismus stieß die Kirche im marxistisch-leninistischen Weltanschauungsstaat auf ein politisches System, das einen allgemeingültigen, den Menschen in all seinen Lebensbezügen treffenden Wahrheitsanspruch formulierte. Dieser Anspruch verband und trennte Staat und Kirche auf eigentümliche Weise.

Gemeinsam mühten sich beide Seiten, Anknüpfungspunkte zu finden; Ansätze, die eine „friedliche Koexistenz“ ermöglichen sollten. Dazu gehörte, neben den vielfach beschworenen gemeinsamen „humanistischen Grundüberzeugungen“, der Antifaschismus. Die Antifaschismusdoktrin der DDR konnte – aus Gründen ehrlicher Zustimmung und historischer Einsicht, aus schlechtem Gewissen oder aus dem projektiven Bewusstsein, zum „besseren Deutschland“ zu gehören – auf breite Akzeptanz bis hinein ins Oppositionsmilieu der Kirche setzen. Wer hingegen den Antifaschismus als perfides Herrschaftsinstrument der SED „enttarnte“ und kritisierte, musste mit empfindlichen Folgen, bis zu sozialer Ächtung und Inhaftierung rechnen.

Von den Männern und Frauen, die die Friedliche Revolution des Jahres 1989 geprägt und getragen haben, gehören einige der ersten, die meisten jedoch der zweiten und dritten (ost-)deutschen Nachkriegsgeneration an. Sie umfassen die Jahrgänge von 1940 bis 1960. Man könnte sie somit als „Kinder des Kalten Krieges“ apostrophieren. Die Mehrzahl entstammt christlichen Elternhäusern. Vom Krieg, von Hitlerjugend und vom Kirchenkampf der Nationalsozialisten und Kommunisten hörten sie aus den stockenden Erzählungen der Eltern und Großeltern.

Neben den Prägungen durch diese deutschen Kriegs- und Nachkriegstraumata der Altvorderen war diese Generation dem Erleben eines totalen Staates in der Form eines durchgehend ideologisierten Schulalltags ausgesetzt. In wirkungsvollem Kontrast zum DDR-Bildungs(un)wesen stand die Ausbildung in den kirchlich organisierten „Oasen des Geistes“, in denen für aufgeschlossene junge Menschen die Möglichkeit bestand, randständige und zentrale historische, philosophische, politische wie theologische Themen zu debattieren. Neben den zahlreichen privaten Nischen gehörten die Kirchen so zu den wenigen Groß-Nischen des „ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden“. In dieser relativ autonomen Subkultur war es möglich, eine begrenzte, von menschlicher Offenheit und Wärme, aber auch von besonderen, kircheninternen Konflikten geprägte Gegen-Öffentlichkeit zu leben.

Der Prozess der deutschen Vereinigung

Nach 1990 wurde die kirchliche Standortfindung in den neuen Bundesländern zum Teil durch die Dynamik des Wiedervereinigungsprozesses erschwert. Viele Westdeutsche erwarteten eine rasche Anpassung und nicht zuletzt Dankbarkeit der „Ossis“. Viele Ostdeutsche verlangten nach einer raschen Angleichung des Wohlstandes. Manche der „friedlichen Revolutionäre“ wollten vom Westen lernen, dabei aber auch ihre Erfahrungen einbringen. Als sie erlebten, dass dieses nicht gewollt war, fühlten sie sich überrumpelt, verletzt und gekränkt.

Auch kirchliche Mitarbeiter gerieten durch die vollkommen andere Verortung von Kirche, Pfarramt und akademischer Theologie in Westdeutschland und die ganz andere Definition des Beziehungsgefüges Kirche-Gesellschaft-Staat in eine beträchtliche Verwirrung. Die Rolle des Pfarrers und der Pastorin als gesellschaftliche Repräsentanten von Transzendenz war und ist für viele nicht nur völlig neu, sondern oft auch völlig unannehmbar. Damit verbundene „Indienstnahmen“ im öffentlichen Raum und die Aufforderung zur politischen und gesellschaftlichen Mitgestaltung verstehen manche Pfarrer als unangemessene, theologisch nicht vertretbare Stabilisierung des „Establishments“.

Auf westdeutscher Seite wurde und wird allerdings zu wenig realisiert, dass die Kirchen in den neuen Bundesländern Volkskirchen auf niedrigem Niveau sind. Die besondere Situation von Kirche in einem weitgehend entkirchlichten Umfeld scheint in ihrer besonderen missionarischen Herausforderung kaum wirklich erfasst. Es bleibt jedoch ein Verdienst der zumeist kleinen Gruppen der DDR-Bürgerbewegung, mit der Friedlichen Revolution des „Oktoberfrühlings“ 1989 zum Ende einer politisch und ideologisch erstarrten Ein-Parteien-Diktatur beigetragen zu haben. Dass vor allem evangelische Christen diesen, in der deutschen Geschichte nahezu beispiellosen emanzipatorischen Akt, das von vielen erstmals praktizierte Heraustreten aus Unmündigkeit und Untertanengeist wesentlich mitgeprägt haben, darf nicht vergessen werden.

Im Rückblick mutet es allerdings etwas eigentümlich an, wenn von den Kirchen selbst die Ereignisse des Herbstes 1989 kleingeredet werden. Natürlich fanden die oppositionellen Gruppen in den Kirchen einen provisorischen Schutzraum, der verlassen werden konnte, nachdem die Öffnung der Gesellschaft auch die Schaffung von Öffentlichkeit und offenen Räumen nach sich zog. Die vielfach vertretene Meinung, dass die in den Friedensgebeten angesprochenen Fragen und Probleme nichts oder nur am Rande mit Sinn und Aufgabe der Kirche Jesu Christi zu tun gehabt hätte, offenbart jedoch ein eigentümlich weltloses Verständnis von Christentum und Kirche. Als habe die Sehnsucht nach Freiheit, als habe der „Auszug aus der Knechtschaft“, als habe die Suche nach einem selbstbewussten, solidarischen und demokratischen Miteinander nichts mit dem biblischen Zeugnis zu tun.

Christsein heute

In der Gegenwart fällt auf, dass das notwendige Nachdenken um Ausdrucks- und Gestaltungsformen von Kirche und Frömmigkeit stark von einem „binnen-kirchlichen Blick“ geprägt ist. Die Diskussion vermittelt mitunter einen etwas theologieschwachen und weltfernen Eindruck, so, als würde es ausreichen, die treuen Gemeindeglieder „bei der Stange zu halten“. Daneben treten moralpietistisch anmutende Appelle zur Erhöhung des religiösen Verbindlichkeitsgrades und die blutleere Utopie der Buchhalter, die „die Sicherung der kirchlichen Kernbereiche“ als missionarische Aufgabe feilbietet.

Bei den anstehenden Blick- und Perspektivwechseln könnte die geringe Verwobenheit in die Debatten der alten Bundesrepublik den Christen in den neuen Bundesländern dann von Vorteil sein, wenn sie dazu anregt, die eigene kirchliche und politische Standortbestimmung unbeschwerter und vorurteilsfreier zu versuchen. 75 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen und 30 Jahre nach dem Ende einer sich „internationalistisch“ bezeichnenden kommunistischen Diktatur sollte auch von deutschen Protestanten danach gefragt werden, warum unsere bisherigen politischen Begriffe und Zuordnungen wie links, rechts, konservativ, liberal, faschistisch, antifaschistisch nicht mehr wirklich greifen. Liegt es vielleicht daran, dass die „Parteien der Mitte“ in Europa und auch in Deutschland konzeptionell unklar, ja, in wichtigen Politikfeldern untereinander austauschbar geworden sind?

Christsein heute darf nicht länger Selbstgespräch einzelner Bischöfe, Kirchenfunktionäre, Landeskirchen und/oder „Aktivisten“ sein. Die kulturelle Verschiedenheit der beiden deutschen Teile und ihrer Kirchen ist als historische Gegebenheit zu reflektieren, die erst in der wechselseitigen Beschreibung und Erzählung von Biographien ihre verborgenen Chancen zum Vorschein bringen kann. Einheit von oben, politische Sonntagsreden, die pathetisch das Niederreißen der „Mauer in den Köpfen“ fordern, können ein unaufgeregtes, schrittweises Zusammenwachsen von unten weder vorwegnehmen noch ersetzen.

Reformbedarf auch im Westen

Auch die westdeutschen Kirchen sind inzwischen in einen Transformationsprozess geraten, dem die Theologie Rechnung wird tragen müssen. Der Übergang politischer und wirtschaftlicher Macht an junge Eliten, deren christliche Sozialisation nur noch schwach ausgebildet ist und deren Karrierebewusstsein mitunter quer zur Tradierung bestimmter Gemeinschaftswerte liegt, wird auch hier das konstantinische Zeitalter beenden. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft bedarf es der Entwicklung einer theologischen Kritik der politischen und ökonomischen Vernunft sowie einer politisch und ökonomischen Kritik der Theologie. In Ost und West brauchen wir sowohl einen evangelisch offenen und unverstellten Blick auf die Wirklichkeit als auch die „Lust am Wort des Herrn“. Weltoffenheit und Gottvertrauen gehören zusammen. Dies kann uns helfen, die biblischen Quellen der Weisheit und des Lebensmutes zu erschließen.

Gerade vor dem Hintergrund, dass die Christen im Osten unserer Republik in einer Minderheitensituation sind, kann der Blick in die Geschichte zeigen, dass viele geistige Bewegungen von Minderheiten ausgegangen sind (die Friedliche Revolution 1989 ist ein gutes Beispiel dafür). Entscheidend dafür sind die innere Überzeugung, eine geistige und geistliche Lebendigkeit und die Entschlusskraft von Minderheiten. Mit Luther – obgleich er und seine Mitstreiter erheblichen Anteil an der Zerstörung monastischen Lebens haben – ließe sich sagen: „Es ist an der Zeit, dass Stifte und Klöster wieder in der Weise geordnet würden, wie sie zu Anfang unter den Aposteln und lange hernach waren, als sie alle offen standen für jeden, um darin zu bleiben, solange er Lust hatte. Fürwahr, es sollten alle Stifte und Klöster auch so frei sein, dass sie Gott mit freiem Willen und nicht mit erzwungenen Diensten dienten.“ Oder, um es mit Dietrich Bonhoeffer zu formulieren: „Die Restauration der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.“

• Dr. Thomas A. Seidel ist Leiter der Ev. Bruderschaft St. Georgs-Orden und (gemeinsam mit seiner Frau Cornelia) Gründer der Ökumenischen Collegiatsgemeinschaft. Seit 2018 ist er Leiter der Diakonenausbildung am Eisenacher Diakonischen Bildungsinstitut (dbi) Johannes Falk. Davor war er u.a. Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen und 2010 bis 2018 Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums „Luther 2017“.

www.georgsbruderschaft.de  
www.via-collegiata.de


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Kommentare

Michael Holz am 11.10.20, 11:23 Uhr

Sehr geehrter Herr Dr. Seidel,
was hat sich an der ostelbischen Kirche geändert? Sie ist immer noch ein Steigbügelhalter der Macht, eben "Kirche im Sozialismus", auch wenn es nicht so krass ausgesprochen wird, wie ich es denke. Als "Nichtgläubiger" fällt es mir schwer, für das Christentum noch Sympatie zu empfinden, wenn ich diese traurigen Gestalten an der Klagemauer sehe, welche ihr Kreuz verstecken. Einfach widerlich, wie auch Schlepperboote zu finanzieren. Diese "Christen" sägen an dem Ast, auf denen sie hocken. Die Moslems werden in ihrem Eroberungsfeldzug diesen Verrätern an der eigenen Religion dankbar sein.
Gott sei mit Ihnen!

Siegfried Hermann am 11.10.20, 10:18 Uhr

"Oasen des Geistes..."
Nicht etwas zu viel träumerische Folklore angesichts
eines Gaucklers, der alles, nur nicht christliches vorlebte und schon gar nicht moralisch war.
Und wie viele durch den Talar getarnte IM´s waren, werden wir wohl nie erfahren.
So ma als Besserwessi.
Das sollte man in den heutigen Tage der abartigen Anbiederung am bunt-faschistischen Zeitgeist nicht vergessen werden.

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