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Thomas Hüetlin: „Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland“, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro
Thomas Hüetlin: „Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland“, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro

Rathenau-Mord

Zwei Herangehensweisen

Zwei Autoren schildern die Zerrissenheit Deutschlands nach 1918

Dirk Klose
30.07.2022

In den vergangenen Wochen wurde in Politik und Medien an die Ermordung Walter Rathenaus (1867–1922) vor 100 Jahren erinnert (siehe PAZ vom 24. Juni). Der damalige Reichsaußenminister war am 24. Juni 1922 auf offener Straße von einem rechten Kommandotrupp mit Maschinenpistole und Handgranate ermordet worden, was eine ungeheure Erregung in Deutschland auslöste. Zwei Bücher behandeln das Attentat auf ganz unterschiedliche und doch überzeugende Art.

Nüchterne Betrachtung

Der Berliner Zeitgeschichtler Martin Sabrow hat in nüchternem Stil, akribisch und mit fast kriminalistischem Gespür den Mord und seine Vorbereitung in rechtsradikalen Kreisen sowie die folgenden Prozesse beschrieben. Sein Buch hat er in zwei Abschnitte unterteilt: zuerst die Serie der Attentate, zuvor schon auf Erzberger (der 1921 ermordet wurde), dann Rathenau, dann das Attentat auf den rechts so verhassten Publizisten Maximilian Harden, anschließend die großen Prozesse vor dem Leipziger Staatsgerichtshof und eine Analyse der berüchtigten „Organisation Consul“ als Zentrum republikfeindlicher Aktionen.

Er nennt als zentrale Figur aller Anschläge den schon 1920 beim Kapp-Putsch hervorgetretenen Marinekapitän Hermann Ehrhardt, weiter die Hauptverschwörer Fischer, Heinz und den später berühmt gewordenen Schriftsteller Ernst von Salomon. In den spektakulären Prozessen vor dem Leipziger Staatsgerichtshof zeigte sich dann einmal mehr, wie die Justiz – so das bald geflügelte Wort – „auf dem rechten Auge blind“ war.

Ideologische Betrachtung

Ganz anders schreibt der frühere „Spiegel“-Reporter Thomas Hüetlin. Er geht noch stärker als Sabrow auf den Beginn des rechten Terrors gleich nach der Niederlage 1918 ein, schildert beispielhaft an der „Brigade Ehrhardt“ die Entwurzelung vieler Frontsoldaten und die schon ein Jahr vor dem Rathenau-Attentat erfolgte Ermordung des als „Erfüllungspolitiker verhassten Zentrumpolitikers Matthias Erzberger.

Hüetlin charakterisiert treffend sowohl die Verschwörer Fischer, Heinz und von Salomon als auch – ebenso anerkennend wie kritisch – Walter Rathenau selbst, den er weder in der Welt von Wirtschaft und Politik noch auch des Geistes, wo er sich hingezogen fühlte, angekommen sah.

Der Autor formuliert oft drastisch und polemisch („Blutsöldner“, „pompöser Blechnapftrommler“, Preußens Kadettenanstalten als „Koranschulen ihrer Zeit“), aber damit trifft er doch die verquere, verblendete und alle Andersdenkenden verachtenden Milieus auf rechter Seite ziemlich genau. Es sei, sagt er, der schrille Größenwahn einer Generation, die eigentlich durch den Krieg verloren war: „Verkrachte Gestalten mit großem Ego, ohne Perspektive, ohne Zukunft.“

Gemeinsames Thema

Je nach Temperament wird sich der Leser für das materialreiche, nüchtern-formulierte Buch von Sabrow oder das emotionale, parteiisch geschriebene von Hüetlin entscheiden. Beide Bücher beendet der Leser mit dem Erschrecken darüber, wie tief die junge Republik nach 1918 innerlich zerrissen war, was bis an ihr Ende dauerte.


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Kommentare

Chris Benthe am 10.08.22, 09:49 Uhr

Jetzt fehlt nur noch ein Buch, das dieses deutsche Drama aus der sozialpsychologischer Sicht beleuchtet, ohne die jene Attentate uns Morde nicht zu verstehen sind.
Kriegsende, Millionen Tote, Kaiser-Abdankung, Hunger, Elend, Versailler Vertrag katapultierten eine schon längst marode Nation in einen lebendigen, realen Alptraum, in eine alltäglich gelebte Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit, inmitten von Entbehrung und Zukunftsangst. Die Abwesenheit jeglicher Führungsstärke damals verantwortlicher Politiker erzeugte Hass und haareraufende Verzweiflung, bis in die tiefsten Schichten der vergessenen Frontsoldaten, die, nun erwerbslos, Orientierung suchten. Wie vermittelt man einem Volk die Niederlage einer Armee, die tief im Feindesland stand, ohne dass der Gegner je im eigenen Land gesehen worden wäre ? Es war ein Trauma schwersten Grades, das nicht verarbeitbar war. Der "stille" und historisch verdrängte Bürgerkrieg von 1918 bis 1923 kann nicht ohne die Protagonisten der Freikorpsverbände gedacht werden, die, offiziell verleugnet und doch benötigt, einen verzweifelten Kampf an den Grenzen des Reichs führten. Aus diesen Kreisen speiste sich auch der Attentäterkreis, wen sollte es wundern, angesichts der desolaten deutschen Politik, die auch ein Stresemann, trotz vielleicht bester Absichten, nicht retten konnte. Diese Epoche allein von der Sicht auf die rechtsideologische Seite her aufzurollen verkennt das gigantische Ausmaß der USA-inspirierten Zerstörungspolitik.

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