Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Ein Buch, seine Autorin und ihre Leser
Marianne Günther ist gerade 20 Jahre alt, als sie nach bestandener erster Lehramtsprüfung im Oktober 1941 die Einberufung auf ihre erste Dienststelle bekommt. Bei Weigerung erfolgt „Streichung von der Lehramtsanwärterliste“. Es herrscht Krieg, es fehlen Lehrer, eine Wahl hat sie nicht. Gertlauken liegt 1300 Kilometer von Köln entfernt. Kreis Labiau. Ein Dorf, das man auf der Landkarte suchen muss. Hier soll Marianne 120 Kinder unterrichten, in drei jahrgangsübergreifenden Klassen, ganz allein. Beherzt tritt sie die dreitägige Reise in das fremde Ostpreußen an. Sie ist das, was man früher „patent“ nannte: lebenstauglich, lösungsorientiert, zupackend. Für ihre Aufgabe ist sie nach verkürztem Studium kaum ausgebildet. Aber die Eltern haben ihr, neben dem anerzogenen Pflichtbewusstsein, auch einen breiten Fundus an Bildung mitgegeben, dazu ein stabiles Selbstvertrauen und Neugier auf die Welt.
In Köln fallen schon die Bomben. Und so schreibt Marianne ihren Eltern unentwegt Briefe. Sie schreibt aus Sorge, aber auch, weil sie sich mitteilen will und eine unbändige Freude am Erzählen hat. Marianne schreibt von Schülern, ihrem Unterricht und pädagogischer Überforderung. Von den Menschen im Ort, die zu Freunden werden, und von Erkundungen der Landschaft, die sie mit dem Fahrrad unternimmt. Sie erzählt von dem hohen ostpreußischen Himmel, den weißen Dünen Niddens, von klirrender Kälte und langen Wegen zu Fortbildungen, die sie auf dem Rad zurücklegen muss, bei Regen, Matsch und Gegenwind, 20 Kilometer hin und zurück. Während es anfangs noch still ist in Gertlauken, kommt dann mit den evakuierten Kindern aus Hamburg, Königsberg und dem Memelland der Krieg immer näher. Bis er hörbar wird und da ist. Am 20. Januar 1945 gehen auch die Gertlaukener und ihr „Schulfräulein“ auf die Flucht.
Von Untergang und Idylle
Marianne Peyinghaus ist über 60 und in einem Alter, in dem man an den eigenen Nachlass zu denken beginnt, als sie die verwahrten Briefe aus dem Schrank holt. Sie sind in Sütterlinschrift verfasst. Um sie für ihre Nachkommen lesbar zu machen, tippt Marianne Peyinghaus sie ab. Die Reaktionen der Leser aus dem unmittelbaren Umfeld bestärken sie darin, eine Veröffentlichung zu versuchen. Im November 1984 setzt sie eine Anzeige in die „Zeit“: „Verleger gesucht für Briefe aus Ostpreußen 1941/45“. Sie findet den Gesuchten in Günther Elbin. Der gebürtige Schlesier ist Reiseschriftsteller und Herausgeber einer Reihe von Büchern über fremde Länder und Landschaften.
„Stille Jahre in Gertlauken. Erinnerungen an Ostpreußen“ erscheint im Sommer 1985 und wird ein überwältigender Erfolg. Noch im Jahr des Erscheinens folgt eine zweite Auflage, danach in kurzer Zeit etliche Neuauflagen, Taschenbuch- und Lizenzausgaben, die bisher letzte beim Rautenberg Verlag im Jahr 2019. Der jüngste Leserkommentar auf der Internet-Plattform Amazon stammt aus dem Jahr 2021. Wie erklärt sich dieser Erfolg?
Als das Buch 1985 erscheint, leben die erst vorwiegend ostpreußischen Leser mit dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges: dem Untergang Ostpreußens. Dieses Wissen lädt die in den Briefen geschilderte Idylle zusätzlich noch einmal emotional auf. Im Spannungsbogen dieser Pole entfaltet das Buch seine ganz besondere außergewöhnliche Wirkung.
Die Tiefenwirkung des Buches drückt sich in den zahlreichen Leserbriefen aus, die zum Glück erhalten sind. Sie füllen zwei pralle Aktenordner. Oft sind die Briefe sieben und mehr Seiten lang. Nach einem höflichen Anfang mit einer kurzen, sehr positiven Rückmeldung, folgt dann in der Regel ein Satz wie: „Nur kurz zu meiner Person“. Damit bricht der Damm. Eruptiv kommt zum Ausbruch, was verdrängt und vergessen war. Traumata, Erinnerungen, Sehnsüchte. Die Leser schütten der Briefschreiberin ihr Herz aus. Nun erzählen sie selbst.
Die Briefe kommen aus Westdeutschland oder anderen westeuropäischen Ländern und Übersee, in die es die Ostpreußen verschlagen hat. Nicht aus der DDR. Über ihre Herkunft und die Erlebnisse bei Flucht und Vertreibung durften die „Umsiedler“ nicht sprechen. Als sich mit der Wende der westliche Buchmarkt für den Osten öffnet, erobert das Buch einen weiteren Leserkreis. „Wie oft“, schreibt eine Leserin aus Neuruppin 1993, „habe ich seit der Wende Ihre Briefe aus Gertlauken gelesen! Jedes Mal war ich tief berührt.“
Marianne Peyinghaus hat, wie Notizen auf den Briefen belegen, jeden Brief beantwortet, sich mit manchen Briefschreibern auf eine Tasse Kaffee getroffen oder sie besucht. Ehemalige Schüler hat sie in ihr Haus in Bad Breisig (Landkreis Ahrweiler, Rheinland-Pfalz) eingeladen. Zu manchen ist daraus eine Freundschaft unter Erwachsenen geworden. Mit ihren Schülern von einst reiste sie 1995 ins jetzt russische Nowaja Derewna, und beteiligte sich auch an Hilfsaktionen für die Menschen dort. Marianne Peyinghaus hat aus einem inneren Bedürfnis heraus das betrieben, was heute „Autorenbindung“ genannt wird und Marketing-Strategie ist.
Anteil an dem Erfolg des Buches hat unzweifelhaft auch der Herausgeber Günther Elbin (1924–2007). In seinem Nachwort zum Buch schweigt er zu Umfang und Art der Eingriffe, aber dass er aus dem „Konvolut von 382 eng beschriebenen Seiten“ auswählen musste, liegt auf der Hand. Die Parteizugehörigkeit der jungen Marianne wird am Anfang des Buches erwähnt, ihre Hitlergläubigkeit teilt sich mit. Sprachliche Glättungen sind anzunehmen. Den Lesern, die von den authentischen Schilderungen gepackt sind, fallen diese Eingriffe kaum auf. Das Buch wird als ein natürliches Gesamtkunstwerk empfunden und verschlungen wie ein Roman. Nur der Historiker mag stutzen, wenn vom Herbst 1944 erzählt wird, ohne dass „Nemmersdorf“ genannt wird, ein für die Ostpreußen traumatisches Datum. Die Auslassung ist der vielleicht deutlichste Hinweis auf das Konzept des Herausgebers: Der Leser soll die „Stillen Jahre in Gertlauken“ so lange wie möglich genießen dürfen.
Die verkaufte Auflage der Bücher, die 2020 vom Random House Konzern mit 156.350 angegeben wird, enthält nicht die Auflagen der Lizenzausgaben. Sie sagt insbesondere nichts über die Zahl der Leser aus, die um ein Vielfaches höher liegt und vermutlich über die Millionengrenze weit hinausgeht. Denn die Bücher wandern von Hand zu Hand, werden in Antiquariaten und auf Onlineplattformen gehandelt und erreichen mit jedem neuen Verkauf weitere Leserkreise.
Erst Roman, dann Geschichtsbuch
Ab dem Jahr 2000 nehmen die persönlichen Briefe an die Autorin ab. Sie stirbt am 5. April 2014, zehn Tage vor ihrem
93. Geburtstag. Die neue Generation Leser, oft Nachfahren von Ostpreußen, postet ihre Gedanken nun im Internet. Sie bedauern, den Erzählungen von Eltern und Großeltern nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben, und begeben sich mit diesem Buch auf die Wurzelsuche. Touristen, die nach einer Reise die „Magie Ostpreußens“ entdecken, kommen als neue Lesergruppe dazu. Das Buch wird jetzt als Bericht aus einer fremden, vergangenen Welt gelesen. Die neuen Leser verschlingen „Stille Jahre in Gertlauken“ nicht mehr als Roman, sondern als Geschichtsbuch. Im Spiegel der Briefe reflektieren sie ihre eigene Wirklichkeit.
Was ist das Geheimnis dieses Longsellers? Abgesehen von der Erzählkraft der Autorin und der Authentizität des Geschilderten könnte es in der Faszination liegen, die von der kraft- und vertrauensvollen Persönlichkeit der Briefschreiberin ausgeht und die im Leser das Verlangen nach einem inneren Dialog weckt. Auch der Brite, der 2020 auf Amazon seinen Kommentar einstellt, rückt die Persönlichkeit der Autorin ins Zentrum: „... written by a gentle, intelligent and observant young woman. Brilliant, beautiful book!“
Anmerkung: Der Einblick in den Nachlass von Marianne Peyinghaus verdankt sich einem gemeinsamen Projekt mit Agata Kern, Ostpreußisches Landesmuseum, zum Thema „Schule im Krieg“. Wolfgang Peyinghaus und Rosemarie Horbach (Briefsammlung) sei dafür herzlich gedankt.