27.07.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden

Abstrahiert, zerlegt und umgeformt

Vor 125 Jahren wurde der in Deutschland beliebte britische Bildhauer Henry Moore geboren – In Berlin finden sich drei seiner Werke

Veit-Mario Thiede
28.07.2023

Die Freiplastiken des Briten Henry Moore sind über die ganze Welt verteilt. Eine besonders enge Beziehung aber hatte der am 30. Juli 1898 in Castleford geborene Sprössling einer Bergarbeiterfamilie zu Deutschland. Über 20 Bronzeskulpturen stehen oder liegen hierzulande im öffentlichen Raum. Zum Beispiel in München, Stuttgart und Düsseldorf. Berlin hat sich gleich drei Werke geleistet. Moore hat mit seinem Schaffen seit Mitte der 1940er Jahre das Gesicht der Nachkriegsmoderne wesentlich mitgeprägt.

Bereits mit elf Jahren stand Moores Entschluss fest, Bildhauer zu werden. Aber es dauerte lange, bis seine Künstlerkarriere Fahrt aufnahm. Internationale Beachtung fanden seine Zeichnungen von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg vor den deutschen Bombenangriffen in die Londoner U-Bahn-Stationen geflüchtet waren. Nachdem Bombentreffer seine Londoner Wohnung zerstört hatten, zog er mit seiner Ehefrau Irina in ein Bauernhaus des Dorfes Perry Green. Dort wurde 1946 seine Tochter Mary geboren.

Der in seiner zweiten Lebenshälfte außerordentlich erfolgreiche Künstler gründete 1977 die gemeinnützige Stiftung „Henry Moore Foundation“. Sie unterhält das als Museum und Galerie genutzte Bauernhaus, sorgt für die Erhaltung der Skulpturen und betreut den Online-Katalog der Werke Moores. Er umfasst bislang über 13.000 Eintragungen: Skulpturen, Zeichnungen, Skizzenbücher, Druckgraphiken, Bildteppiche und Textilentwürfe.

Seit den 1950er Jahren sorgte Moore mit Großplastiken für Furore. In Kassel ließ sich Bundespräsident Theodor Heuss bei seinem Besuch der ersten documenta (1955) vor Moores Bronzeensemble „König und Königin“ (1952/53) fotografieren. Das Herrscherpaar sitzt in langen Gewändern auf einer schlichten Bank ohne Rückenlehne. Ihre abstrahierten Körper sind abgeplattet. Anstelle der Augen weisen die Figuren Löcher auf. Das bizarre, mit der Krone verschmolzene Haupt des Königs ist mit einer Art Schnabel ausgestattet. Nur die Hände und Füße von König und Königin sind annähernd realistisch gestaltet.

Auf der zweiten documenta war als Leihgabe der Wuppertaler Stadtwerke eine von Moore geschaffene „Sitzende“ ausgestellt. Auf der dritten documenta gab es seine „Zweiteilige liegende Figur Nr. 5“ zu sehen, die sich heute in Recklinghausen vor dem Ruhrfestspielhaus befindet. Und 1977 war er auf der sechsten documenta in der Abteilung der Bildhauerzeichnungen vertreten.

Blickfang am Bonner Kanzleramt
In den 1980er Jahren war eine Monumentalplastik Moores das in Deutschland am häufigsten betrachtete Kunstwerk. Jeden Freitagabend bekamen es die Zuschauer in den „Tagesthemen mit Bericht aus Bonn“ im Hintergrund des Studios zu sehen. Den über sechs Meter hohen Koloss aus polierter Bronze mit dem Titel „Large Two Forms“ (1966–1969) ließ Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979 vor dem Bundeskanzleramt aufstellen.

Das Werk besteht aus zwei voluminösen Formen. Sie weisen Rundungen auf, die an Gelenke erinnern. Beide haben eine große Öffnung. Dazu Moore: „Ein Loch kann so viel Formbedeutung haben wie eine feste Masse.“ Die beiden Formen scheinen sich ineinander schieben zu wollen. Schmidt äußerte über dieses Werk seines Freundes Moore: „Für mich ist dieses Kunstwerk ein Zeichen für Leben, ein Symbol für menschliche Verbundenheit.“

Moores Hauptthema ist die menschliche Figur, sehr oft als „Mutter und Kind“ und als weibliche Liegende. Aber Moore abstrahierte, zerlegte und formte den menschlichen Körper radikal um. Dabei dienten ihm Knochen, Muscheln und löchrige Feuersteine als Inspirationsquellen. Manche Figuren erinnern an zerklüftete Felsformationen. Ein erschreckendes Exemplar, das eine Anklage gegen den Krieg verkörpert, liegt auf Moores Wunsch hinter der Kaiserpfalz von Goslar. Anlässlich des 1975 an den Bildhauer vergebenen „Goslarer Kaiserrings“ gab Moore dieser Bronzegestalt den Titel „Goslarer Krieger“. Der abstrahierte und verstümmelte Krieger ist zu Boden gestürzt. Er bäumt sich vor seinem Ende ein letztes Mal auf, wie das erhobene Haupt signalisiert. Moore war der erste Träger des inzwischen hoch angesehenen Goslarer Kaiserrings, den nach ihm zum Beispiel Max Ernst, Josef Beuys und Christo erhielten.

Viele Werke ließ Moore in der Berliner Bildgießerei Hermann Noack anfertigen. Das traditionsreiche Unternehmen, dessen wohl bekanntestes Produkt die Qua­driga auf dem Brandenburger Tor ist, rühmt sich, für Moore mehr als 1000 Bronzen gegossen zu haben. Die Zahl relativiert sich, wenn man bedenkt, dass die Bronzegüsse in Auflagen von zumeist vier bis sechs Stücken plus Künstlerexemplar entstanden sind.

In Berliner Gießerei angefertigt
Auch die drei im öffentlichen Raum Berlins platzierten Moores lieferte Noack. Im Hanseatenweg räkelt sich seit 1961 vor der Akademie der Künste die „Liegende“ auf einem rauen Waschbetonsockel. Träge wälzt sie sich auf die linke Seite und scheint sich mühsam aufzurichten. Ihr kleiner, mit Höhlungen versehener Kopf ist deformiert. Ihr fehlen die Füße und die Hände. Die Armstümpfe sind wie bittend aneinandergelegt. Das ganze Gegenteil dieses versehrten Zustandes bietet die fast schon erotisch anmutende, voluminöse Rückenansicht. Die vielfach gerillte Oberfläche wirkt wie faltige Haut.

Auf der Terrasse der Neuen Nationalgalerie steht der 2,6 Tonnen schwere und 3,5 Meter hohe „Bogenschütze“ (1964/65). Das knorpelartige Gebilde besteht aus unregelmäßigen, abgerundeten Formen, scharfen Kanten und glatten Schnittflächen. Seinen Titel verdankt es einer bogenartigen Form. Beim Umrunden stellen sich immer neue Eindrücke ein. Aus einem Blickwinkel meint man, eine Gestalt zu sehen, die mit erhobenem Arm und vorgebeugtem Rumpf zum Kopfsprung ansetzt.

Den Eindruck von Bewegung vermittelt auch das „Große geteilte Oval: Schmetterling“. Der auf einem Podest im Spiegelteich vor dem Haus der Kulturen der Welt stehende Zehntonner scheint über der Wasserfläche, die sich in ihm spiegelt, zu schweben. Er erinnert an ein voluminöses Flügelpaar, dessen Symmetrie gestört ist. Der posthum aufgestellte „Schmetterling“ ist das letzte Werk des 1986 in der Grafschaft Hertfordshire gestorbenen Künstlers.


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentare

Kersti Wolnow am 28.07.23, 07:22 Uhr

Moore hat mit seinem Schaffen seit Mitte der 1940er Jahre das Gesicht der Nachkriegsmoderne wesentlich mitgeprägt.

Warum gibt es seit genau dieser Zeit keine Kunst mehr im Sinne von Schönheit? In Güstrow studiert, wurden wir als Studenten mit dem Werk von Barlach bekanntgemacht. Ich hatte in der EOS in Kunst immer eine 1, obwohl meine Zeichenkünste überschaubar waren, aber ich konnte sehr gut Gemälde interpretieren. Das waren aber solch abstrakte, auf denen noch etwas Erkennbares waren. Barlach war für mich nur häßlich, sein Engel in der Güstrower Kirche ähnelt einem Maikäfer, genau wie das gesamte Werk dieses Henry Moore.
Kunst ist immer dann gefesselt, wenn sie mit Staatspropaganda und Preisgeldern einhergeht.
Warum sich der gesamte Wertewesten diesem Unsinn verschrieben hat, weiß nur er allein. In Theatern fließt Schweineblut, Konzerte sind heulende und jaulende Dishamonien. Nicht mal die Unterhaltungsmusik ist erträglich. Mittlerweile fürchte ich mich vor dem Wort "modern".

Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS