23.11.2024

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Nicht umsonst vor einem Bücherregal: Agnes Miegel
Foto: ullstein bildNicht umsonst vor einem Bücherregal: Agnes Miegel

Agnes Miegel und ihre Welt

Ostpreußen ist ihr Kompass. Doch Gegenstand ihrer Dichtung ist die Welt

Walter T. Rix
22.11.2024

Wer heute von Agnes Miegel spricht, der blickt vielfach in verständnislose, bisweilen auch ablehnende Gesichter. Nach einer nahezu uneingeschränkten Wertschätzung, die auch in der Namensgebung von Schulen und Straßen ihren Ausdruck fand, setzte ab etwa Mitte der 80er Jahre eine wachsende ablehnende Haltung sowie eine Zurücknahme der öffentlichen Ehrungen ein. In bezeichnender Weise beschloss beispielsweise die Versammlung der Stadtverordneten des hessischen Städtchens Volkmarsen im Oktober 2024, die Agnes-Miegel-Straße zwar nicht umzuwidmen, sie jedoch mit einem erklärenden Schild zu versehen:

„Die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel (1879–1964) zählte zur völkischen Heimatkunst, die den Weg bereitete für die nationalsozialistische Kulturpolitik. Sie bekannte sich in ihren Schriften zum Nationalsozialismus und seiner Rassenideologie und war eine glühende Verehrerin Adolf Hitlers. Heute würde eine Straße so nicht mehr benannt werden.“

Angesichts einer derart ultimativen Einordnung, die offensichtlich dem betreuten Denken geschuldet ist, muss man sich unwillkürlich die Frage stellen, ob ein anderer Denkansatz überhaupt noch möglich ist. Eine derartige Frage leitet wiederum über zu einer weiteren Frage: Haben die Perspektive der unkritischen Wertschätzung einer bestimmten Zeit und die ablehnende Blickrichtung der Folgezeit etwa dazu geführt, dass zentrale literarische Qualitäten der Dichtung Agnes Miegels noch gar nicht wahrgenommen wurden?

Im Gegensatz zu der bis dahin vorherrschenden Lesart konnte Marianne Kopp 1986 in einer richtungsweisenden Arbeit mit dem Titel „Agnes Miegel. Untersuchungen zur dichterischen Wirklichkeit in ihrem Werk“ zeigen, dass die eigentliche Wirklichkeit für die Dichterin als innere Wirklichkeit jenseits der realen Welt liegt, eingebettet in Mythos und Magie, „so daß eine Grenze zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit kaum noch zu ziehen ist“. Diese Erkenntnis wurde jedoch von der Kritik nicht aufgegriffen, zu festgefahren waren die beiden Standpunkte. So blieb Agnes Miegel einerseits die ostpreußische Identifikationsfigur und andererseits die Figur, die der falschen Seite die Hand gereicht hat.

„Das fürchterliche Opfer der Bürgerlichkeit“
Agnes Miegel wurde mit dem Geheimnis der künstlerischen Existenz geboren, einer Daseinsform, die sich der Einflussnahme des bürgerlichen Lebens entzieht. Nichts deutete darauf hin, dass dem geruhsamen Haushalt eines Königsberger Kaufmanns eine Dichterin in die Wiege gelegt wurde. Bereits die frühe Begegnung mit der Kunst in der Kindheit entfachte in ihr ein Feuer, das, einmal entflammt, nie mehr erlöschen sollte und wesensbestimmend wurde. Mit 64 Jahren zurückblickend auf ihren ersten Konzertbesuch mit den Eltern vermerkt sie:

„Da versank auf einmal alles, was mir bis dahin wert und wichtig gewesen war ... Aus Tiefen, von denen ich nichts gewußt, stieg es wie ein dunkler Strom und kam und überflutete alles um mich her und schwemmte den Alltag weg und löschte das satte und vergnügliche Behagen meines Kinderlebens aus wie ein Lichtchen und wirbelte mich davon. Wohin? Ja, hier war kein Ziel zu sehen. Aber ich fühlte und wußte: die Stimme rief, und ich mußte ihr folgen. Alles war fort, und nur sie blieb und würde immer da sein.“

Der durch die Kunst an sie ergangene Ruf versetzte sie in eine andere Existenz, die nichts mehr mit dem Alltag gemeinsam hatte: „Der Alltag war da, alles war wie immer. Nur ich selber war anders“. Ihren weiteren Weg geht sie wie unter dem Einfluss einer höheren Macht: Diese ist unerbittlich und kompromisslos. Die unkontrollierbare Reaktion auf die Begegnung mit der Kunst war das unumkehrbare Überschreiten der Schwelle zwischen bürgerlichem Leben und künstlerischer Existenz, der unwiderstehliche Eintritt in eine Sphäre, die mit Anderssein und den damit einhergehenden Schmerzen, aber auch mit Schöpfung und Erkenntnissen verbunden ist, die jenseits der für andere gültigen Horizonte liegen. Als sie nach dem Tod ihres Vaters einen Lebensplan aufstellen muss, schreibt sie an ihre Freundin Lulu von Strauß und Torney am 7. November 1921:

„Das fürchterliche Opfer der Bürgerlichkeit, das ich meinem Vater brachte, ist jetzt, wo ich in den letzten zwei Jahren innerlich ganz selbständig wurde, zu einer Farce geworden, die ich täglich mehr als unwürdig empfinde, und daß ich sie aus der gemeinsamen Rücksicht auf Geld und schlechte Zeitverhältnisse bringe, bringen muß einfach um zu leben, ist mir täglich abscheulicher.“

„Wir Ostpreußen haben Weltblut! Die Welt gehörte zu uns“
Bezeichnet Agnes Miegel dieses überwältigende und untergründige Drängen als einen „dunklen Strom“, so bezieht sich diese Bemerkung nicht nur darauf, dass sich der Wandel zum Künstlerischen im Unbewussten abspielt und sich der Rationalität entzieht, sondern der Begriff „dunkler Strom“ schließt auch ein Phänomen ein, das zu einem entscheidenden Gestaltungskriterium ihrer Literatur wird: die Schöpfung aus dem Unbewussten. Bewegt sie sich in einer anderen Wirklichkeit, so muss sie nach einer Form suchen, die das Geschaute mitteilungsmöglich macht. Der Weg, das Unsagbare sagbar zu machen, das Unbe­wuss­te zu kommunizieren, ist der Mythos. Dieser Mythos als Zentrum ihrer Dichtung verästelt sich sowohl in den Erzählungen als auch in den Gedichten in Gestalt von sinntragenden Bildern, den Mythemen. Ein solches Gestaltungsprinzip, das auch ein visionäres Schauen erlaubt, kann natürlich keine Grenzen kennen. Zweifellos ist Ostpreußen der Kompass von Agnes Miegel, aber dieser Kompass weist auch in die Welt. Die Schriftstellerin Ilse Reicke-von Hülsen notiert nach einem Gespräch mit der ostpreußischen Dichterin in den 30er Jahren die folgende Aussage Agnes Miegels:

„Wir Ostpreußen haben Weltblut! Die Welt gehörte zu uns. Gerade weil meine Dichtung über Ostpreußen hinausgeht, ist sie typisch. Ostpreußen sah, fühlte weiter, sah über sich hinaus.“

Das Gesamtwerk von Agnes Miegel setzt sich aus drei Bereichen zusammen: Lyrik, Feuilleton und Erzählungen. Dazu kommen noch einige Märchen und Theaterstücke. Alle Bereiche hängen im Grunde zusammen, da sie sich aus demselben Mythos speisen. Mit ihrer schon früh erfolgten Hinwendung zum Mythos entspricht Agnes Miegel dem Weg anderer Künstler der Zeit, die nach neuen Wegen des Schauens suchten. Als besonders charakteristisches Beispiel wäre hier der Lyriker Wilhelm Lehmann mit seiner Vorstellung des Grünen Gottes zu nennen.

Seinen Ursprung nimmt der Mythos Agnes Miegels in ihrer tiefen Religiosität. Zwar verleugnet diese Religiosität nicht ihren christlichen Ursprung, aber sie setzt sich über Dogmatik und Heilserwartung hinweg. Bis zu einem gewissen Grade ist sie in dieser Hinsicht ein Kind der Religionskritik ihrer Zeit. Es ist höchst bezeichnend, dass sie sich bereits bei ihrer Einsegnung damit durchsetzte, „ein eigenes kleines Glaubensbekenntnis sagen zu dürfen“. Ihr Mythos transportiert ein völlig anderes Wirklichkeitsverständnis, das Gottesverständnis erfährt eine nahezu unitarische Erweiterung, und Schöpfungsehrfurcht sowie der Gedanke der Wiedergeburt treten in das Zentrum ihres Mythos. Daraus ergeben sich wiederum Rückwirkungen auf die literarische Gestaltung von Raum und Zeit. Allgemein gilt Börries von Münchhausen als derjenige, der in der frühen Entwicklungsphase wesentlichen Einfluss auf ihr Werk genommen hat. So vermerkt beispielsweise Jürgen Manthey in „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ (2015) dazu:

„Münchhausen nahm sie ins Schlepptau, er wird sie bis ganz zuletzt ... nicht aus seinen Fängen lassen. ... Agnes Miegel geriet früh, gleich mit den ersten Talentproben, unter den Einfluß dieses Brauchtumsideologen und reaktionären Strategen.“

Jedoch nach einer kurzen, aber heftigen Liebesbeziehung, die für Münchhausen nur ein Spiel war, bestand keine weitere geistige Übereinstimmung. Bereits im Dezember 1918, als die Monarchie zerbrach, erkannte Agnes Miegel: „Er war so ausgesprochen, so bewußt der Dichter jenes anciene régime ... daß ich eigentlich immer das Gefühl hatte, er müßte mit jenem Untergang auch untergehen.“ Schon 1915 hatte sie in einem Brief an Lulu etwas maliziös über ihn bemerkt: „Eitelkeit ist doch eine fatale Intelligenzbremse.“ In kurzer Zeit hatte sie erfahren müssen, dass sie ihm intellektuell weit überlegen war; ein Einklang konnte sich nicht einstellen.
„Eitelkeit ist doch eine fatale Intelligenzbremse“
Die Entwicklung dieses Mythos lässt sich bereits in den frühen Gedichten nachweisen. Besonders deutlich wird dies in dem Gedicht „Das Lied der Toten“ (1920), welches die Außenwelt verlässt und sich in die Psyche der bereits Verstorbenen versetzt. Das Gedicht „Das Kriegskind“ (1920) berichtet von einer jungen Frau, die Opfer einer russischen Vergewaltigung wird und ein Kind erwartet. Der Bruder der Frau will das Kind töten, um die Schmach zu tilgen. Doch die angehende Mutter bekennt sich zu dem Kind aus Verantwortung gegenüber dem Prinzip der Schöpfung. Auch dieses Kind wird in den Kreislauf von Werden und Vergehen eintreten,

Als Agnes Miegel 1920 nach dem Tod ihres Vaters mit leeren Händen dastand, bot sich im Journalismus die Chance, literarische Neigung und Broterwerb miteinander zu verbinden. Von 1920 bis 1926 schrieb sie für das Feuilleton der „Ostpreußischen Zeitung“. In dieser Zeit verfasste sie nicht weniger als 248 Artikel. Am 1. Oktober 1926 wechselte sie zur „Königsberger Allgemeinen Zeitung“, die sie 1932 verließ, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Ihre Feuilletonbeiträge stellen gleich in mehrfacher Hinsicht ein einzigartiges Quellenmaterial dar, dessen Bedeutung aber bislang noch nicht erkannt wurde, was teilweise mit den Kriegseinwirkungen auf die Archivbestände in Zusammenhang steht. Glücklicherweise wurden von Helga und Manfred Neumann 54 Feuilletonbeiträge publiziert („Wie ich zu meiner Heimat stehe“, 2000), die aber bisher von der Forschung nicht zur Kenntnis genommen wurden. Dabei wohnt ihnen ein besonderer Reiz inne, denn sie stellen die spezielle Form des literarischen Journalismus dar, die nicht nur die weite Spanne des Denkens von Agnes Miegel erkennen lässt, sondern mit ihrer sorgfältigen Komposition die Wesenszüge der vorausgegangenen Lyrik aufnimmt und die Gestaltungskriterien der nachfolgenden Erzählliteratur weitergibt.

Vor der Flucht bekannte Agnes Miegel wiederholt, dass ihre dichterische Kraft ohne Ostpreußen versiegen würde. Doch sie lebte in ihrem Mythos und dieser erwies sich als unzerstörbar. In der Zwischenzeit ist so viel an Material in Bezug auf Biographie und Korrespondenz aufgearbeitet worden, insbesondere durch die Publikationen der Anes-Miegel-Gesellschaft, dass sich eine unvoreingenommene Kritik herausgefordert fühlen muss, das zu erkennen und darzulegen, was Agnes Miegel einen angemessenen Platz im Kanon der deutschen Literatur zuordnet.


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