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Gesellschaft

Albtraum statt Erholung pur

Lena Gilhaus hat die oft bitteren Erlebnisse von Kindern aufgeschrieben, die in der Nachkriegszeit in Deutschland zur Kur geschickt wurden

Dirk Klose
17.02.2024

Es sind böse Extreme, die Kinder in Erholungsheimen erlebt haben und die Lena Gilhaus an vielen Beispielen auflistet: Bettnässer wurden mit eiskalten Wasser abgespritzt, wer zu vorlaut war, wurde isoliert und in stockdunkle Keller gesperrt, wer sein Essen erbrochen hatte, musste es wieder aufessen. Da wurde eine Kur, die der Erholung und Genesung dienen sollte, zu einer „Albtraumkinderkur“, wie die Autorin schreibt. Aber ist die Geschichte der Kinderkurverschickung wirklich nur eine Horrorgeschichte? Die fast 40-jährige Autorin wurde durch Kindheitserlebnisse ihres Vaters auf das Thema aufmerksam. Ihre Radiosendung „Albtraum Kinderkur“ löste 2017 eine Lawine aus. Viele Betroffene meldeten sich und berichteten über ihre Kurerlebnisse. Jetzt hat sie in „Verschickungskinder“ viele bedrückende Meldungen zu dieser „Geschichte der Kinderkuren“ verarbeitet.

In einem historischen Rückblick zeigt sie, dass die ursprünglich philantropische Idee aufkam, als im 19. Jahrhundert Kinder aus Arbeiterfamilien ein oft elendes Leben führten. Sie überdauerte Kriege und Regime, und schon 1946 wurden in kirchlicher Trägerschaft im Ruhrgebiet wieder erste Kinderkuren organisiert. Nach Schätzungen sind bis etwa 1990 im deutschsprachigen Raum rund 15 Millionen Kinder zu Erholungs- oder, bei Krankheiten, zu Heilkuren zwischen sechs Wochen und drei Monaten Dauer in weit über 1000 Heime und Kliniken an Nord- und Ostsee, in den Mittelgebirgen und in den Alpen verschickt worden.

Die Therapie war annähernd gleich: Die Kinder sollten gut essen („der Teller wird aufgegessen“), stundenlange Luftkuren machen („die nächsten zwei Stunden höre ich keinen Mucks“), konnten wandern, am Strand spielen oder, recht selten, in der See baden. Das Reglement war streng. Die Autorin gibt viele Stimmen wieder, die von Gewalt der „Tanten“ oder größeren Kindern berichten, von Ärzten, die problematische Medikamente verschrieben oder Todesfälle bagatellisierten. Oft werden traumatische Kurerfahrungen den Betroffenen erst Jahre später bewusst. Im Mittelpunkt des Buches steht eine solche Geschichte, die mit dem Selbstmord des Betroffenen tragisch endet. Positive Momente klingen im Buch nur vereinzelt an, so, wenn von den „schönsten Wochen meiner Kindheit“ berichtet wird, wenn Kinder auf Norderney „jubelnd und lärmend“ vom Pferdewagen springen oder wenn von Kindern gesagt wird, dass sie froh sind, von zu Hause weg zu sein. So zögert man als Leser doch, sich dieser Totalkritik in allen Punkten anzuschließen.

Lena Gilhaus: „Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, gebunden, 352 Seiten, 24 Euro


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