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Mit der Absetzung von Abdülmecid II. begann vor 100 Jahren zwar nicht „die kaiserlose, die schreckliche Zeit“, aber dafür die kalifenlose
Das arabische Wort „Khalifa“ (Kalif) bedeutet so viel wie Nachfolger. „Khalifa Rasul Allah“ (Nachfolger des Gesandten Gottes) war der Titel für die Nachfolger des Propheten Muhammad. Das Kalifat entstand nach dem Tod des Propheten im Jahr 632, der keinen männlichen, sondern lediglich weibliche Nachkommen hinterlassen hatte. Die ersten vier Nachfolger Mohammeds wurden von den Prophetengenossen auf verschiedene Weise gewählt oder bestimmt. Die Namen der vier sogenannten rechtgeleiteten Kalifen Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali, ein Neffe und Schwiegersohn des Propheten, finden sich in vielen Moscheen unter dem des Propheten. Ähnlich wie der Prophet gelten die vier „rechtgeleiteten Kalifen“ als Gottgesandte, und ihnen haftet die Aura der Unfehlbarkeit an.
Nach der Ermordung von Kalif Ali im Jahr 661 beanspruchte Mu'āwiya in Damaskus die Nachfolge für sich. Darüber kam es zu einer den Islam bis heute schwächenden Spaltung. Die Sunniten erkannten Mu'āwiya als Kalifen an, die Schiiten nicht.
Mu'āwiya begründete das Kalifat der Omajjaden. Ihnen folgten 750 die Abbasiden in Bagdad. Beide favorisierten ein dynastisches Nachfolgeprinzip. Ab 1517 hatten dann die Osmanen das Kalifenamt inne.
Seit das Kalifenamt erblich geworden war, verwässerte das Prinzip, dass der Kalif als Nachfolger des Propheten über besondere moralische und religiöse Tugenden verfügen müsse. Auf die „rechtgeleiteten Kalifen“ folgte so eine lange Reihe von Erb-Kalifen, mit oft zweifelhaftem menschlichem Charakter. Oftmals bekämpften oder bekriegten sich auch mehrere Kalifatsanwärter. Der Kalif verlor immer mehr von seiner politischen Aura und wurde mit der Zeit nur noch zum religiösen Oberhaupt der Islamgemeinde.
1517 übernahmen die Osmanen
Am Ende des osmanischen Kalifats ein Jahr nach der Ausrufung der Republik in der Türkei hatte dieses Amt nicht mehr viel mit den Vorstellungen der islamischen Urgemeinde gemein. Die Osmanen hatten das Kalifat zur Legitimierung der Herrschaft über ihre arabischen Kolonialgebiete missbraucht, zu denen die Heiligen Stätten Medina und Mekka gehörten, die im Ersten Weltkrieg verloren gingen.
Der letzte osmanische Kalif, Abdülmecid II., war ein westlich gebildeter, allerdings seit seiner Kindheit durch die Ermordung seines Vaters vor seinen Augen traumatisierter Mensch. Nach der Absetzung seines Vetters, des Sultans und Kalifen Mehmed VI., im Jahre 1922 wurde das Sultanat abgeschafft. Die weltliche Herrschaft ging auf den Präsidenten der als Nachfolger des Osmanischen Reiches gegründeten Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, über. Das Kalifat blieb indes vorerst erhalten. So konnte Abdülmecid wenigstens in dieser Funktion das Erbe seines Cousins Mehmed antreten. Am 19. November 1922 wählte die Große Nationalversammlung in Ankara Abdülmecid zum neuen Kalifen. Auf die bislang üblichen Zeremonien zur Amtseinführung wurde verzichtet.
Abdülmecid II. versuchte sein Amt wieder mit religiösen Inhalten auszufüllen, indem er möglichst viele Gebete in Moscheen in Konstantinopel selbst leitete.
Dies machte ihn für den Laizisten Kemal Atatürk, der die Religion zurückdrängen wollte, über die Maßen gefährlich. Deshalb wurde Abdülmecid II. vor 100 Jahren, am 3. März 1924, vom türkischen Parlament wie zwei Jahre zuvor sein Vetter abgesetzt und musste innerhalb von zwei Tagen mit seiner gesamten Verwandtschaft das Land verlassen. Behördenvertreter brachten ihn aus seinem Palast zum Orient-Express, der ihn ins Exil fuhr. Über die Schweiz und Italien gelangte er schließlich in das Land, das später auch Ayatollah Khomeini und Präsident Abolhassan Banisadr Exil gewährte. Der 101. Kalif starb gut zwei Jahrzehnte nach Sturz und Vertreibung, am 23. August 1944 in Paris, in den letzten Tagen der deutschen Besatzung.
Die Abschaffung des osmanischen Kalifats wurde in der islamischen Welt wie ein Weltuntergang erlebt, weil man sich das Überleben des Islam und der islamischen Gemeinschaft ohne das Kalifenamt zunächst nicht vorstellen konnte. Deshalb unternahm bereits 1925 der Scharif von Mekka, der Haschemit Husayn, den Versuch sich selbst zum Kalifen auszurufen. Aber schon wenig später wurde er von den saudischen Wahhabiten aus Mekka verjagt.
Versuche, das Vakuum zu füllen
1931 fand in Jerusalem ein islamischer Kongress zur Kalifatsfrage statt, bei dem sich eine große Mehrheit der Islamgelehrten drauf verständigte, dass man notfalls auch ohne Kalifat die Einigkeit der arabischen Völker und den religiösen Zusammenhalt stärken sollte, ähnlich wie es die Schiiten mit der Vertreterherrschaft des obersten Ayatollah bis zur Wiederkunft des verborgenen siebten beziehungsweise des zwölften Imams tun. Dieser Kongress in Jerusalem unter Leitung von Amin al Husseini, der von Adolf Hitler später zum Obermufti von Jerusalem ernannt wurde, war der Vorläufer der panarabischen Bewegung, aus der 1945 schließlich die Arabische Liga, sozusagen als Ersatz des Kalifats, entstand. In der Arabischen Liga war Ägypten federführend, weil hier mit der Azhar-Universität die letzte zentrale Instanz des modernen sunnitischen Islam fortbesteht.
Seit dem Wiedererstarken des politischen Islam infolge der Entstehung des schiitischen Gottesstaates im Iran 1979 und dem eigenen Aufstieg zur weltgrößten Ölmacht gehen von Saudi-Arabien Bestrebungen aus, überall in der islamischen Welt radikale islamische Strömungen zu unterstützen. Die Wahhabiten, die Angehörigen des Wahhabitentums beziehungsweise Anhänger des Wahhabismus, einer puristisch-traditionalistischen Richtung des sunnitischen Islam, die in Saudi-Arabien Staatsreligion ist, wollen zurück zur Urzeit des Kalifats im Islam, und sie schreiben dies auf ihre schwarzen Banner. Das eigene Königshaus zum Kalifat auszurufen, ist in Saudi-Arabien aus genealogischen Gründen nicht möglich.
Einher mit dem Aufstieg des politischen Islam ging ein Machtverlust der Arabischen Liga, die einst angetreten war, das durch den Untergang des Kalifats entstandene Vakuum auszufüllen. Aus dem Kalifatsvakuum entstand eine Kalifatsnostalgie, die sich mittlerweile auch Untergrundorganisationen zunutze machen. Kalifatsgründungen von Untergrundorganisationen hat es in den letzten Jahren bereits in vielen islamischen Regionen länderübergreifend gegeben. Das vom Islamischen Staat (IS) 2014 in Mosul vom selbsternannten Kalifen Abū Bakr al-Baghdādī ausgerufene Kalifat war der mächtigste derartige Versuch. Der Name „Islamischer Staat“ sollte demonstrieren, dass nunmehr kein anderer islamischer Staat auf der Welt eine Daseinsberechtigung habe. Aber das IS-Kalifat, das mit Bomben und Terror errichtet wurde, konnte an die vom Propheten herrührende religiöse Legitimität nicht anknüpfen.