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Kaiserzeit

Als Elsass-Lothringen „Reichsland“ wurde

Vor 150 Jahren machte das Deutsche Reich seinen Landerwerb aus dem Deutsch-Französischen Krieg zum integralen Bestandteil seines Territoriums

Bodo Bost
29.05.2021

Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 trat die im Krieg gegründete Dritte Republik das Elsass und Teile Lothringens mit der Stadt Metz an das im Krieg gegründete Deutsche Reich ab. Bei der entsprechenden Sitzung der französischen Nationalversammlung in Bordeaux, stimmten nur zwei aus Lothringen stammende republikanische Abgeordnete, Edouard Bamberger aus Metz und Isidor Wolff aus Saargemünd, gegen die Abtretung. Sie gehörten zur jüdischen Minderheit in ihrer Heimat, die unter Napoleon ihre Gleichberechtigung erhalten hatte und deshalb am meisten Frankreich nachtrauerte.

Orientierung an der Sprachgrenze

Zu einem integralen Bestandteil des Reichsgebietes im staatsrechtlichen Sinne wurde Elsass-Lothringen vor 150 Jahren, am 28. Juni 1871, mit dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes betreffend die Vereinigung von Elsass und Lothringen mit dem Deutschen Reich vom 9. Juni 1871.

Die Grenzen des neuen Reichslandes Elsass-Lothringen orientierten sich weitgehend an der alten deutsch-französischen Sprachgrenze. Der Vogesenkamm als neue Reichsgrenze bildete fast überall auch die historische Sprachgrenze. Das französischsprachige, altelsässische Gebiet um Belfort vor den Vogesen blieb deshalb als Territorium bei Frankreich. Allerdings kam auch ein großer Teil des seit dem Mittelalter französischsprachigen Lothringens um die Festungsstadt Metz zum Reich. Der Grund war der, dass die Militärs auf deutscher Seite meinten, auf Metz, um das im Deutsch-Französischen Krieg am längsten gekämpft worden war, wegen seiner militärischen Bedeutung nicht verzichten zu können. Nach dem Zuzug von deutschen Beamten und Militärs wurde Metz allerdings als Sprachinsel mehrheitlich deutschsprachig.

Der größte Teil der Bevölkerung des Reichslandes stand der neuen Obrigkeit zunächst überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Französische Revolution mit ihrem Konzept der Staatsnation widersprach fundamental dem deutschen Konzept der Kulturnation, auf der der Gebietswechsel beruhte. Während die Kirche sowie die Mittel- und Unterschicht ihrem „Elsässerditsch“ treu geblieben waren, sprach die Oberschicht im Elsass seit der Französischen Revolution von 1789 Französisch.

Ein Teil der französischsprachigen Bildungselite und des Bürgertums verließ freiwillig die Gebiete nach der Angliederung an das Reich. Er wurde durch deutsche Beamte und Freiberufler ersetzt.

Die sich als Franzosen empfindenden Elsass-Lothringer standen vor der Wahl: Heimat oder Vaterland. Grundsätzlich erhielten die alteingesessenen, nicht aus Zentralfrankreich zugewanderten Bewohner Elsass-Lothringens automatisch die elsass-lothringische Staatsangehörigkeit und galten damit als Angehörige des Deutschen Reichs. Es bestand jedoch bis zum 1. Oktober 1872 die Möglichkeit, sich für die Beibehaltung der französischen Staatsangehörigkeit zu entscheiden und in die Französische Republik überzusiedeln. Ungefähr jeder Zehnte entschied sich für diese Alternative. Allerdings nutzte von diesen sogenannten Optanten nicht einmal ein Drittel diese Option. Insgesamt verließen gut drei Prozent das Reichsland Richtung Frankreich.


In Frankreich sprach man fortan von den „verlorenen Provinzen“. Der Re­vanchegedanke und das verletzte Nationalgefühl wurden wesentliche Merkmale französischer Politik. „Toujours y penser, jamais en parler“ (Immer daran denken, nie davon sprechen) lautete in den Worten von Léon Gambetta die Devise.

Eine Volksbefragung fand nie statt

Elsass-Lothringen hatte im Gegensatz zu den Bundesstaaten keinen Landesfürsten oder Senat an der Spitze. Das Reichsland war vielmehr direkt dem Kaiser unterstellt, der sich durch einen Statthalter vertreten ließ. Abgesehen von seinem Ausnahmestatus wurde die Integration Elsass-Lothringens in das Reich dadurch erschwert, dass es wie Frankreich im Gegensatz zum Reich mehrheitlich katholisch geprägt war. Das gilt insbesondere für die Zeit des sogenannten Kulturkampfes, in der ein großer Teil der katholischen Kirche in die Opposition zum Reich ging, obwohl die katholische Kirche eine starke Bastion der deutschen Sprache im Elsass blieb.

Im Deutschen Reichstag waren die Elsass-Lothringer mit 15 Abgeordneten vertreten. Anfänglich handelte es sich dabei mehrheitlich um der Annexion negativ gegenüberstehende sogenannte Protestler. Aus diesem Kreis wurde im Reichstag wiederholt beantragt, die Elsass-Lothringer selbst über die Zugehörigkeit ihrer Heimat zu Deutschland oder Frankreich abstimmen zu lassen. Ihre entsprechenden Anträge wurden jedoch stets mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Elsass-Lothringer wurden letztendlich weder von den Franzosen noch von den Deutschen nach ihrer Meinung über ihre staatliche Zugehörigkeit gefragt.

Mit der Zeit wandten sich die Elsass-Lothringer indes immer mehr den reichsdeutschen Parteien zu. Ab der Reichstagswahl von 1890 spielten die sogenannten Protestler keine wesentliche Rolle mehr. Der strikte Laizismus in Frankreich ab 1905 entfremdete die katholische Bevölkerung in Elsass-Lothringen von der Grande Nation. 1911 endlich wurde das Reichsland den Bundesstaaten weitgehend gleichgestellt. Erstmals in seiner Geschichte bekam Elsass-Lothringen mit dem Landtag ein eigenes souveränes Parlament in Straßburg, das zudem analog zum Reichstag auf Reichsebene demokratisch gewählt wurde.

Was 1918 von 1871 unterschied

Zur Steigerung der Akzeptanz der Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zum Reich trug auch die äußerst positive Entwicklung der wirtschaftlichen Lage im Reichsland bei. Die junge Generation verstand sich mit großer Selbstverständlichkeit als Deutsche. Die 1872 in der Hauptstadt Straßburg gegründete Kaiser-Wilhelms-Universität erlangte sehr schnell einen internationalen Ruf. Die Professoren kamen aus dem gesamten Reichgebiet, aus Königsberg die neuen Bücher als Ersatz für die den vorausgegangenen Kriegshandlungen zum Opfer gefallene Bibliothek. In den nicht einmal fünfzig Jahren der Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zum Deutschen Reich brachte die Universität Straßburg mehr Nobelpreisträger hervor als danach in den hundert Jahren Zugehörigkeit zu Frankreich.

Während nach dem Anschluss an das Reich 1871 keine Elsässer mit Gewalt vertrieben wurden, wurden nach der Niederlage Deutschlands 1918 innerhalb weniger Wochen etwa 15 Prozent der Bevölkerung des Reichlandes gezwungen, ihre Heimat Richtung Restreich zu verlassen. Darunter war auch die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des Reichslandes. Ihre Loyalität gegenüber Frankreich hatte sich ab 1894 grundlegend geändert, als der aus dem elsässischen Mülhausen stammende jüdische Offizier Alfred Dreyfus ungerechtfertigterweise der Spionage für Deutschland beschuldigt und auf die französische Gefängnisinsel Cayenne verbannt wurde.

Während das Französisch gleichberechtigte Sprache im frankophonen Teil des Reichslandes gewesen war, hat das Deutsche seit 1918 jeglichen Status als Amtssprache im gesamten ehemaligen Reichlandgebiet verloren. Das hat sich auch nicht nach dem deutsch-französische Freundschaftsvertrag aus dem Jahre 1963, dem sogenannten Élysée-Vertrag, geändert.

Straßburg und Metz sind jedoch bis heute im Städtebau mehr von der knapp fünfzigjährigen deutschen Zeit mit ihrer wilhelminischen Architektur geprägt als von Dreieinhalbjahrhunderten Zugehörigkeit zu Frankreich. Wenn man genau hinschaut, kann man heute noch in der Turmspitze des Bahnhofs von Metz den Kopf von Kaiser Wilhelm mit Pickelhaube erkennen.


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Kommentare

Simon Nothhelfer am 06.06.21, 07:43 Uhr

Es ist nicht unbedingt so, das sich die Bevölkerung Elsass-Lothringens als Franzosen fühlte.
Vielmehr wollte die Bevölkerung weder eine Französische noch eine deutsche Oberherrschaft, sondern einen Autonomiestatus.
Unter Frankreich, das zentralistisch Richtung Paris ausgerichtet war (und bis heute ist) verarmten große Teile der Bevölkerung und z.B. die Landwirtschaft war am Boden.
Der Deutschen Übernahme als „Reichsland Elsass-Lothringen“ wurde natürlich skeptisch entgegen gesehen, da dem Preussen das militärische und kalte nüchterne Wesen anhaftete.
Im Großen und Ganzen war die Zeit des Reichslandes aber eine Zeit der Toleranz im Sinne eines großzügigen Autonomiestatus, Industrie und Agrar blühte auf und es wurden Grundzüge einer Sozialversicherung gelegt, da denkt heute keiner mehr daran.
Nach 1918 ging es eher wieder bergab, von Autonomie nichts mehr zu spüren, es wurde die deutsche Sprache in bestimmten Ämtern verboten. Ebenso an Schulen wurde die deutsche Sprache rigoros untersagt. Aber man muss bedenken das große Teile der Elsass-Lothringer eine deutsche Mundart sprachen und kein Französisch!
Ebenso wurden die Wortführer des Autonomiebestrebens rigoros verfolgt und ohne Belege hinter Gitter gesteckt.
Und und und....

Als Quelle das Top Buch von Bernard Wittmann „ Die Geschichte des Elsass: Eine Innenansicht“

Chris Benthe am 31.05.21, 05:58 Uhr

Danke für diesen wunderbaren Beitrag. Es ist beruhigrnd, dass die alte Gegnerschaft zu den Franzosen der Vergangenheit angehört. Andererseits ist das geschichtliche Wissen um die differierende Behandlung der Bevölkerungsgruppen durch die jeweiligen Mächte wichtig. Das sollte man im Auge behalten, um sich bewusst zu werden, dass Deutsche oftmals moderater im Umgang mit Minderheiten waren als man es ihnen angedichtet hat.

Wolf Mittag am 30.05.21, 08:59 Uhr

Immer sehr interessante und lehrreiche Beschreibungen der Geschichte
Danke

Bernhard Russ am 30.05.21, 04:59 Uhr

Nach dem Anschluss an das Reich, wurde kein Franzose enteignet. Alle durften ihre Häuser behalten. Nicht so, nach 1918. Die Deutschen wurden von den Franzosen enteignet. Sehr wichtig ist auch, dass die eigentliche Grenze zwischen Deutschland und Frankreich vertragsgemäß westlich von Wirten verläuft. Wirten ist nichts anderes als Verdun, was wir heute als urfranzösich betrachten. Die beiden Enkel Karls des Großen legen diese Grenze im Jahre 848 fest und die hielt bis 1648, als mit dem Vertrag von Münster und Osnabrück, dem Ende des 30-jährigen Krieges, Frankreich zum ersten Mal erfolgreich die Grenze nach Osten verschieben konnte. Es war Frankreich, das Gustav-Adolf den Einfall ins Reich finanzierte und jahrelang alimentierte, bis es dann, nach der Erschöpfung aller, selber als Kriegspartei auftrat.

Siegfried Hermann am 29.05.21, 09:59 Uhr

Die PAZ bringt es auf den Punkt!
Man hat durch die Jahrhunderte seit der Reichsteilung nach dem Tod von Karl den Großen NIE gefragt, was sie wollen....bis heute nicht. Ganz im Gegenteil. Der Rotschuld-Clan hat dafür gesorgt, das die traditionelle Region "von weit weg" regiert werden soll. Das hat selbst die französische Bevölkerung empört. Die PAZ hatte darüber sehr intensiv berichtet.
Ergänzend:
Das preußische Militär hatte noch sehr weitgehende Okkupations-wünsche, insbesondere die Besetzung der Festung Belfort hielt man damals für unverzichtbar. Bismarck hatte aber darauf verzichtet, um die Gemüter nicht noch weiter hochzukochen... was letztendlich nix genutzt hat.
Juden
Das ist nicht ganz richtig. Seit der Reichsgründung wanderten, bevorzugt aus Osteuropa Juden lieber ins Reich ein, als nach Frankreich oder England, weil Preußen schlicht die liberalste und freundlichste Einwanderungspolitik betrieb. Quasi als Dank haben sich dann gerade diese Juden begeisternd 1914 freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet und tapfer gekämpft.
Kann mit den heutigen "Schutz-suchenden" so rein gar nicht gleichsetzen. Das wäre mehr als beleidigend!

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