Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Katholische Immigranten flohen vor drohender Leibeigenschaft – Reichskanzler Otto von Bismarck germanisierte sie später
Im Frieden vom Melnosee vom 27. September 1422 zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen auf der einen sowie dem Deutschen Orden auf der anderen Seite wurde auch die Nordostgrenze des heutigen Ostpreußen festgeschrieben. Danach wanderten bis 1550 an die 30.000 Litauer in die „Große Wildnis“ von Preußisch-Litauen ein, welche südwestlich dieser Linie auf dem Territorium des Deutschen Ordens lag. Dabei kamen die katholischen Immigranten nicht aus Glaubensgründen, sondern wegen der zunehmenden Verbreitung der Leibeigenschaft in ihrer alten Heimat.
Bei der neuen Kreisbildung im Jahr 1818 umfasste das Gebiet mit einer teilweise Litauisch sprechenden Bevölkerung die zehn Kreise Memel, Heydekrug, Niederung, Tilsit, Ragnit, Pillkallen, Insterburg, Gumbinnen, Stallupönen und Darkehmen. Hier lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert etwa 150.000 ethnische Litauer. Bis zum Anfang des 20. Jahrhundert sank deren Zahl auf 114.000.
Erstes Buch in Litauisch
Während es im Großfürstentum Litauen ab 1569 zu einer massiven Zwangspolonisierung kam, förderten der Staat und die Kirche Preußens das Litauertum im eigenen Lande, welches zwar nach und nach einen spezifisch preußischen Charakter annahm, dennoch aber die litauische Kultur in ihrer Gesamtheit befruchtete. Das äußerte sich später beispielsweise in der Herausbildung einer Staatssprache im benachbarten Großfürstentum.
Marksteine dieses lange Zeit nur auf Preußisch-Litauen beschränkten Modernisierungsprozesses waren die Herausgabe des ersten Buches in litauischer Schriftsprache im Jahre 1547, die 1590 fertiggestellte erste Übersetzung der Bibel ins Litauische, die vom Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg in Auftrag gegebene erste litauische Grammatik von 1654, der Druck des ersten weltlichen litauischen Buches im Jahre 1706, der 1818 auf Anregung des preußischen Kultusministers Wilhelm von Humboldt publizierte erste litauische Gedichtband des Pfarrers Christian Donaleitis mit dem Titel „Metai“ (Jahreszeiten) sowie das Erscheinen der ersten litauischen Zeitung namens „Keleiwis“ ab 1849.
Die geübte Toleranz gegenüber der litauischen Kultur und Sprache vergalten die preußischen Litauer lange Zeit mit einer stark ausgeprägten Loyalität gegenüber dem preußischen Staat und seinen Monarchen. Diese zeigte sich beispielsweise 1807/08, als König Friedrich Wilhelm III. auf der Flucht vor Napoleon in Memel weilte und dort Zuflucht und Schutz suchte. Das Fehlen jedweden nationalistischen Zündstoffes war zugleich aber auch eine Folge der freiwilligen Assimilation der Litauer in Ostpreußen, welche ab etwa 1800 erheblich an Tempo gewann. Letzteres resultierte nicht zuletzt aus dem immer häufigeren Verlassen des bäuerlichen Milieus beziehungsweise der Verstädterung, dem Dienst beim Militär, etlichen Mischehen sowie dem sozialen Aufstieg vieler Litauer.
Die weitgehende Harmonie in den von Menschen mit litauischen Wurzeln bewohnten Regierungsbezirken Ostpreußens endete allerdings nach der Reichseinigung im Jahre 1871. Denn nun zeitigte der von Reichskanzler Otto von Bismarck initiierte Kulturkampf negative Folgen, obwohl er sich in erster Linie gegen den Katholizismus richtete. Beispielsweise kam es zu massiven Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts. Das führte 1879 zur Petition an Kaiser Wilhelm I. Doch mit dieser war die Germanisierung der preußischen Litauer nicht mehr länger aufzuhalten, obwohl im gleichen Jahr sogar eine Litauische Literarische Gesellschaft entstand, die sich dezidiert dem Schutz und Erhalt des Litauischen verschrieb. Dessen von außen erzwungene „Entartung und Zersetzung“ schritt weiter fort, wie der Sprachwissenschaftler Carl Capeller überaus betrübt vermerkte.
Aussiedlung in die Bundesrepublik
Noch stärker fiel der Druck während der Zeit des Nationalsozialismus aus. So verschwanden 1938 viele der historisch gewachsenen litauischen Ortsnamen zugunsten ahistorischer deutscher Bezeichnungen. Die schlimmste Zäsur für das preußische Litauertum brachte das Jahr 1945, in dem die Rote Armee Ostpreußen eroberte. Alle Gebiete südlich der Memel gehörten danach zum russisch verwalteten Königsberger Gebiet, dessen Vorkriegsbevölkerung zum größten Teil vertrieben oder ermordet wurde.
Anders gestaltete sich hingegen die Entwicklung im Raum nördlich der Memel, der nun in die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik einging. Die hier lebenden 20.000 Litauer mit preußischen Wurzeln konnten im Lande bleiben, sofern sie die UdSSR-Staatsbürgerschaft annahmen. 6000 davon siedelten allerdings nach Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages vom 8. Juni 1958 in die Bundesrepublik über.
Forschungszentrum gegründet
Späterhin geriet das preußisch-litauische Vermächtnis zunehmend in Vergessenheit, bis Litauen im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion seine lang ersehnte Unabhängigkeit zurückgewann und 1992 ein Forschungszentrum für die Geschichte Westlitauens und Preußens gründete. Außerdem gibt es in der Republik Litauen seit 2006 einen formellen „Tag des
Gedenkens an den Genozid an der Bevölkerung Kleinlitauens“, der auf den 16. Oktober fällt. Dahingegen verzichtet die Bundesrepublik bis heute auf jegliche offizielle Erinnerung an die litauische Bevölkerung in Ostpreußen.