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Vertrag von Rapallo

Als Rathenau im Pyjama Politik machte

Vor 100 Jahren schloss das Deutsche Reich mit den Russen ein Abkommen, dessen symbolischer Wert bis heute nachwirkt

16.04.2022

Am 16. April 1922 unterzeichneten in dem bis zur Verschiebung der Ortsgrenze 1928 zum italienischen Badeort Rapallo gehörenden „Im­periale Palace Hotel“ der deutsche Außenmister Walther Rathenau und der russische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Georgij Tschitscherin die als Vertrag von Rapallo bekanntgewordenen Vereinbarungen zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Darum bemüht hatten sich vor allem die Russen, aber dem Reich kam das Ganze nicht weniger zupass. Letztlich wurden beide durch das Agieren der Westmächte zueinander getrieben. Deren Reaktionen waren übereinstimmend negativ, bis hin zur Aufforderung, die Abmachungen für ungültig zu erklären, oder dem Verlangen nach sofortigen Maßnahmen.

Zustande gekommen war der Vertrag von Rapallo am Rande der Konferenz von Genua, die ansonsten kaum greifbare Ergebnisse vorzuweisen hatte. Eingeladen hatten die europäischen Westmächte. Bis auf die USA schickten alle am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten ihre Vertreter. Getagt wurde vom 10. April bis zum 19. Mai 1922. Die Sowjets nahmen erstmals an einer internationalen Konferenz teil.

Zentraler Gegenstand sollte der Wiederaufbau Mittel- und Osteuropas sein, Fragen des internationalen Finanzsystems galt es zu erörtern. Die Franzosen, deren Premierminister Raymond Poincaré demonstrativ gar nicht erst angereist war, hatten allerdings bereits zuvor durchgesetzt, dass die deutschen Reparationen kein Verhandlungsgegenstand sein dürften. Deutschland war nicht in der Lage, die im Versailler Frieden von 1919 festgelegten und im Londoner Zahlungsplan von 1921 konkretisierten Zahlungen zu leisten.

„Im Kern“, so der Historiker Hans-Christof Kraus, „scheiterte die Zusammenkunft an der harten Haltung der Franzosen.“ Der britische Premier David Lloyd George hatte gemahnt, dass „Deutschland nicht in ein Chaos gestürzt werden“ dürfe. Rathenau erklärte resignativ, wenigstens wolle man sich in Genua bemühen, „unseren Standpunkt zur Geltung zu bringen“.

Die Westmächte reagierten negativ

Verlockend für das Reich war zunächst ein von den Engländern im Vorfeld angedachtes Projekt, bei dem ein internationales Konsortium den Wiederaufbau Russlands vorantreiben sollte, und das mit deutscher Beteiligung. Von dieser Beteiligung war später nicht mehr die Rede. Auch sonst wurden die Deutschen auf der Konferenz übergangen. Für die Russen stellte ein derartiges Konsortium eine Bedrohung dar, denn damit wäre deren Wirtschaft unter die Kontrolle des Westens geraten. Dieser setzte Russland auch unter Druck, indem er auf Ansprüche aus den Schulden des Zarenreiches verwies, bot aber zugleich einen Ausweg an. Nach Paragraph 116 des Versailler Friedens hätten die Russen ihre Reparationsansprüche gegenüber Deutschland an die Westmächte abtreten können, was wiederum eine Bedrohung für Deutschland darstellte.

Die Russen, die im Bestreben nach Unabhängigkeit an bilateralen Vereinbarungen interessiert waren und auch schon vor der Konferenz von Genua einen – allerdings erfolglosen – Vorstoß in Deutschland unternommen hatten, ergriffen in dieser Situation die Gelegenheit. Zunächst gaben sie sich den Anschein, die Einigung mit dem Westen stünde kurz bevor. Dann rief Tschitscherin in der Nacht vom 15. auf den 16. April 1922 den als russophil bekannten Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, den Ministerialdirektor Ago von Maltzan, an – man solle doch über ein deutsch-russisches Wirtschaftsabkommen sprechen. Ganz Diplomat, erklärte Maltzan anfänglich, er müsse, da der 16. April ein Sonntag sei und ausgerechnet noch Ostern, zur Kirche und habe keine Zeit für eine Besprechung.

Nachdem Tschitscherin allerdings die Meistbegünstigungsklausel zugesagt hatte, verlor der Kirchgang für Maltzan an Bedeutung. Mitten in der Nacht, es war gegen 2.30 Uhr, suchte er Außenminister Rathenau in dessen Hotelzimmer heim. Der Überlieferung nach traf er diesen sinnierend im malvenfarbenen Pyjama an. Maltzan musste Rathenau erst davon überzeugen, nicht aus naiver Loyalität zunächst den britischen Premier von dem russischen Ansinnen zu informieren, sondern stattdessen ohne Rücksprache auf das Angebot einzugehen. Der ebenfalls in Genua anwesende Reichskanzler Joseph Wirth stellte sich hinter das Vorhaben.

Als am nächsten Tag in Rapallo die Verhandlungen zwischen den Deutschen und den Russen stockten, gab Lloyd George unbeabsichtigt den Ausschlag für die Unterzeichnung. Der britische Premier tat dies, indem er telefonisch den Wunsch äußerte, Rathenau „so bald wie möglich“ zu sehen. Dies ließ auf russischer Seite Befürchtungen hinsichtlich einer deutsch-britischen Annäherung aufkommen, und sie gab deshalb letzten deutschen Änderungswünschen nach.

Lloyd George gab den letzten Impuls

„Gemessen an der allgemeinen Aufregung“, so der Historiker Hagen Schulze, sei der Inhalt des Vertrages von Rapallo „sehr harmlos“ gewesen. Die beiden Seiten einigten sich auf einen Generalverzicht. Die Russen brauchten nichts von dem in ihrem Land durch sie enteigneten deutschen Besitz zurückzugeben und verzichteten dafür im Gegenzug auf Reparationsforderungen gegen Deutschland, die ihnen der Versailler Frieden zugestanden hätte. Diplomatische Beziehungen wurden aufgenommen und wirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbart. Letzteres, vor allem der Vermerk in der entsprechenden Klausel, die Reichsregierung werde Privatfirmen unterstützen, wird auch als Absprache bezüglich einer militärischen Zusammenarbeit unter Umgehung von Restriktionen des Versailler Friedens interpretiert.

Der Vertrag von Rapallo gilt als erster Schritt, mit dem Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg seine außenpolitische Handlungsfähigkeit zurückerlangte. In den Reparationsfragen waren die Alliierten, allen voran Frankreich, nun jedoch noch weniger konzessionsgeneigt. Der symbolische Wert sowie die westlichen Befürchtungen hinsichtlich einer deutsch-russischen beziehungsweise -sowjetischen Annährung und einer exklusiven deutschen Position zwischen Ost und West haben die praktische Relevanz des Vertrages von Rapallo nach übereinstimmendem Urteil stets weit überschritten. Jedoch hat sich Rapallo zum Schlagwort entwickelt, sobald in den vergangenen einhundert Jahren irgendwer glaubte, ein „zu enges“ deutsch-russisches Zusammengehen zu wittern.


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Kommentare

Berlin 59 am 17.04.22, 22:32 Uhr

Interessant, die Initiative ging von den Sowjets aus und traf auf reges Deutsches Interesse. Genau wie später der Hitler - Stalin Pakt, auch fruchtlose Verhandlungen mit den Westen
und dann ging alles mit Deutschland sehr schnell. Zu schnell.

Chris Benthe am 16.04.22, 09:11 Uhr

Fast möchte man meinen, ein neues Rapallo wäre überfällig. Die derzeitige Situation ist unerträglich, Deutschland sind die bilateralen Hände gebunden - so scheint es. Eine Regierung, die gegen die ureigenen deutschen Interessen handelt, unter der Knute der USA. Das muss endlich ein Ende haben. Deutschland benötigt den Austausch des politischen Personals durch kompetente Akteure auf diplomatischer Bühne. Zudem ist eine Abkehr von der NATO-Doktrin oberstes Gebot, entgegen den völlig unsinnigen Beitritts-Trends in Skandinavien, ein völlig falscher Schritt. Es ist noch ein weiter Weg zur deutsch-französischen Allianz gegen die amerikanische Europa-Hegemonie, ich hoffe, ich erlebe das noch, hin zu fruchtbarer Koexistenz mit Russland.

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