Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Jörg Ulrich Stange widmet sich in seiner Arbeit „Ostpreußen unter der Zarenherrschaft 1757–1762“ einem fast vergessenen Kapitel preußischer Geschichte
„Nicht nur, daß er [...] den Deutschen zum gemeinsamen Helden wurde, zu einem
Symbol, in dessen Verehrung ihr zerissenes Gefühl sich zum erstenmal wieder einigte, sondern seine Taten und Leiden erwarben ihm die Teilnahme, die populäre Begeisterung aller Völker. Ja, seine Niederlagen nicht
weniger als seine Siege beschäftigten nah und fern die Herzen der Menschen [...].“
Lange ist es her, dass Thomas Mann so in seinem Essay „Friedrich und die große Koalition“ über Friedrich den Großen und den Siebenjährigen Krieg schrieb: bissig-ablehnend und zugleich mit verständiger Verehrung, kritisch- und zugleich zugewandt-fragend nach dem Wesen, dem Wirken, der einsamen Größe König Friedrichs II. von Preußen.
Man war damals – 1914 – deutlich weiter im Nachdenken über den Großen König als heute. Viel grundlegend Neues kam seither an Forschungen kaum hinzu, viel einseitig Unsinniges schon. Mittlerweile verklingen zwar die verdrehtesten Angriffe von Historikern gegen Friedrich, und doch wird „der Große“ gerne in Anführungszeichen gesetzt oder des Königs Handeln aus dem europäischen Kontext und den europäischen Zwängen herausgelöst, um sein kriegerisches Handeln oder sein Kirschenessen zu isolieren und zu verurteilen. Das ist durchschaubar und langweilig – aber leider bis heute sehr wirkmächtig.
Vermeintliche Gewissheiten
Auch Jörg Ulrich Stange folgt in seiner hier zu besprechenden Studie „Ostpreußen unter der Zarenherrschaft“ manch vermeintlicher Gewissheit über Friedrich den Großen, unter anderem der von der vermeintlichen „Verantwortungslosigkeit“ des Königs, weil er Ostpreußen im Stich gelassen habe, als er 1757/58 die Provinz den Truppen der russischen Kaiserin preisgab. Aber Stanges Kritik entspringt seiner Zuneigung für Ostpreußen, und so sei ihm dieser das ansonsten sachliche Buch durchziehende Tick nicht verübelt.
Ende Juni 1757 war es, als mit der russischen Kanonade auf Memel der langsame Einmarsch der Armee Zarin Elisabeths in Ostpreußen begann. Erst am 30. August kam es zur größeren Schlacht; die Russen unter General Stepan Apraxin siegten über die Preußen bei Groß Jägersdorf nahe Wehlau. Damit war auch Ostpreußen zum Kampfplatz im Siebenjährigen Krieg geworden, jenem weltumspannenden Krieg, in dem England und Frankreich um ferne Kolonien kämpften; Österreich erneut versuchte, Schlesien zurückzugewinnen, sowie Russland, Frankreich, zahlreiche Reichsfürsten und dann sogar Schweden Österreichs Maria Theresia gegen Friedrichs Preußen beistanden. Dem waren diplomatische Gespräche, Intrigen, Bestechungen, Verwicklungen und Bündniswechsel vorangegangen – und Stange zeichnet dieselben im ersten Viertel seines Buches gut nach, um sich dann Ostpreußen, dessen Schicksal im Siebenjährigen Krieg im Zentrum seiner Arbeit steht, immer mit dem Blick auch nach St. Petersburg zuzuwenden.
Lob der älteren Literatur
Dass Stange dabei auf wichtige ältere Literatur zurückgreift, muss ihm angerechnet werden, denn im Gegensatz zur gerne angerufenen „neueren Forschung“ bleiben diese Werke zur Geschichte Preußens und dem großen König hinter den gründlichen Forschungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück. Diese waren mit den seit 1886 erschienenen drei Friedrich-Bänden von Reinhold Koser zum König nicht nur grundlegend, sondern nicht zuletzt mit Essays wie jenem von Thomas Mann gedanklich anregender als manches heute als Standardwerk gepriesene Buch. Daher nennt Stange zu Recht Koser, aber weder Christopher Clarks „Preußen“, da Ostpreußen in ihm kaum eine Rolle spielt, noch Johannes Kunischs „Friedrich der Große. Der König und seine Zeit“, das seitenlang bis zur Reihenfolge von Zitaten auf Koser fußt.
Stanges gesamtgeschichtliche Darstellung etwa zur Diplomatie, dem Kriegsablauf oder den Regierungswechseln in Russland 1762 stimmen zum Beispiel mit dem weitgehend vergessenen zweibändigen Meisterwerk von Wilhelm Oncken „Das Zeitalter Friedrichs des Großen“ (1881/82) überein. Und wenn Stange Oncken auch nicht nennt, so doch zahlreiche jener Werke, auf denen schon Onckens Darstellung fundiert war.
Auf breiter Grundlage also entsteht mit „Ostpreußen unter der Zarenherrschaft“ nach tatsächlich sehr langer Zeit eine lesenswerte Zusammenfassung der Ereignisse, die all jenen zu empfehlen ist, die die ältere Literatur – vor allem Xaver von Hasenkamps „Ostpreußen unter dem Doppelaar“ (1866) – nicht zur Hand haben. Stange führt durch die fünfeinhalb Jahre der Besatzungszeit, schildert die große Politik, das Grauen des ersten Russeneinfalls 1757, das dann friedliche, feierreiche und leichte gesellschaftliche Zusammenleben von Russen und Preußen in Königsberg und endet mit dem Frieden 1762. Das liest sich kurzweilig, teilweise spannend, wobei hier und da die kritischen Anmerkungen des Autors mit Gewinn zu lesen sind.
Was bewegte Friedrich den Großen?
Bei dieser detailreichen Darstellung hätte es der Autor belassen können, um geschichtlich interessierten Lesern ein ausgewogenes Bild von den Jahren 1757 bis 1762 in Ostpreußen zu vermitteln. Aber Jörg Ulrich Stange scheint mehr zu wollen, meint, sich gegen „vaterländisch gesinnte Historiker des 19. Jahrhunderts“, gegen die vermeintlich „stark nationalistisch gefärbte Darstellung Xaver von Hasenkamps“, aber auch russische Autoren absetzen zu müssen. Stange will „die erste Monografie dieses Gegenstandes, die frei von borussophiler Siegerverklärung und antirussischer Voreingenommenheit“ sei, vorlegen. Das ist viel gewollt, zumal wenn man nicht ins Archiv geht, russische Quellen kaum zur Kenntnis nimmt – auch nicht John Keeps auf denselben aufbauenden Aufsatz „Die russische Armee im Siebenjährigen Krieg“ (1989). Dabei zeigen nicht zuletzt das Werk Hasenkamps oder auch Fritz Gauses Königsberger Stadtgeschichte, dass der Autor in dieser Hinsicht nichts wirklich Neues zu berichten hat.
Nicht zuletzt mit Blick auf die wichtigen Forschungen, die Stanges Literaturverzeichnis auflistet, verwundern seine Urteile. Vor allem, dass er bei den schon die Zeitgenossen beschäftigenden Rätseln und Vermutungen bleibt, wo andere Historiker, wie Wilhelm Oncken, Alexander Brückner, John Keep oder Wolfgang Neugebauer, sich deutlicher positionierten, etwa wenn Stange nach den Gründen für den Abzug Apraxins oder dem Befehl Friedrichs II., seine Armee aus Ostpreußen nach Pommern abzuberufen, fragt. Dabei weiß er durchaus um die langjährige Freundschaft zwischen dem russischen Kaiserhaus und den preußischen Königen, er weiß um Friedrichs II. Hoffnung, dass mit dem Tod der ihm feindlich gesonnenen Zarin Elisabeth zu rechnen war, und dass ihr Nachfolger Peter III. einer seiner Bewunderer war, von dem er Frieden erwarten durfte – und bekam.
Statt bei einer neutralen Darstellung zu bleiben, wiederholt sich der Autor mit seiner Meinung von der vermeintlichen Arroganz, ja dem Verrat des Königs gegenüber Ostpreußen. Allein die Behauptung, dass es ein „schwerer strategischer Fehler“ gewesen sei, den Feind ins eigene Land einmarschieren zu lassen, müsste dann doch mit Blick auf die militärische Gesamtlage Brandenburg-Preußens 1757/58 genauer belegt werden. Stange referiert hier nur verschiedene ältere Überlegungen, moralisiert und blendet die anderen Kriegsschauplätze aus. So muss er dann doch gefragt werden, was dem König bei der gegen ihn stehenden Allianz europäischer Großmächte anderes übriggeblieben wäre, als Ostpreußen den Russen zunächst (!) zu überlassen?
Leider werden auch jene nicht tot zu kriegenden Legenden von der Unversöhnlichkeit des Königs gegenüber der der Zarin huldigenden Provinz und von des Königs Vernachlässigung Ostpreußens nach dem Siebenjährigen Krieg bemüht. Mag Friedrich der Große noch lange gegrummelt haben, mag er Ostpreußen nicht mehr bereist haben – weil andere Provinzen seiner Aufmerksamkeit bedurften –, so kann von einer Vernachlässigung Ostpreußens nicht die Rede sein. Immerhin liegen noch zahlreiche Akten zur Heilung der Kriegsschäden vor. Und außerdem lässt sich bei aller Zuneigung zu Ostpreußen nicht leugnen, dass die Provinz im 18. Jahrhundert (!) hinter den kulturell reicheren westlichen Gebieten des Staates und besonders hinter dem vom König gewonnenen österreichischen Schlesien durchaus zurückstand. Dies war aber nicht allein des Königs und nicht nur des 18. Jahrhunderts Meinung, wenn auch zumindest Immanuel Kant dies – sein Königsberg preisend – durchaus anders sah.
Eine wichtige Arbeit über ein lange vernachlässigtes Thema
So gründlich Stanges Heranziehung selbst seltener Literatur ist und so sauber die allermeisten Abschnitte des Buches redigiert sind, so unverständlich sind jene groben Fehler, die ihm auf den Seiten 79 bis 81 unterlaufen, wenn er Herzog Albrecht ohne männliche Erben sterben lässt, Friedrich Wilhelm I. zum ersten König in Preußen macht, dann Friedrich I. zum Nachfolger Friedrich Wilhelms I. erklärt und schließlich Friedrich Wilhelm I. erst 1726 nach Ostpreußen kommen lässt. Gerade dieser König, Vater Friedrichs II., war es, der mit größter Zugewandtheit seine von der Pest verheerte Provinz wieder auf die Höhe brachte und sie wirtschaftlich erholt und neu bevölkert dem Erben hinterließ, wobei die Domänen dem Gesamtstaat wichtige Einnahmen lieferten, es also nicht „nur um die finanzielle Unterstützung der entfernten und rückständigen Provinz ging“. Finden sich dann noch Ungereimtheiten wie: „Die Menschen zwischen Weichsel und Memel waren in ihrer östlichen Randlage eigentlich Fremde im Staate Brandenburg-Preußen“, so fasert der Autor gegen Ende durch sein Steckenpferd, den Versuch einer Rehabilitierung Zar Peters III., sein Buch leider aus. Hilfreich sind wiederum die ausführliche Zeittafel und der Wiederabdruck zahlreicher wichtiger Dokumente – leider auch dies nur aus der Literatur (erneut Hasenkamp!), nicht aus eigenem Aktenstudium.
Trotz der Kritikpunkte ist Jörg Ulrich Stanges Buch eine wichtige Arbeit über ein lange vernachlässigtes Thema ostpreußischer Landesgeschichte. Zudem spielt der Autor, dem manches übereilte Urteil aufgrund seiner Zugewandtheit zu Ostpreußen zu verzeihen ist, schließlich auf aktuelle Ereignisse an und erinnert dankenswerterweise an das durchaus friedliche Zusammenleben und -wirken von Russen und Preußen vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Und so mag sein Buch auch als ostpreußischer Beitrag zur Überwindung der Feindschaften unserer Tage gelesen werden.
Dr. Wulf D. Wagner ist Architektur-historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören eine zweibändige Geschichte des Königsberger Schlosses (Schnell & Steiner 2008 und 2011) sowie „Die Altertums- gesellschaft Prussia. Einblicke in ein Jahrhundert Geschichtsverein, Archäologie und Museumswesen in Ostpreußen (1844–1945)“ (Husum 2019). www.verlagsgruppe.de