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Ansichten eines kritischen Kolumnisten

Karlheinz Lau
08.01.2020

Kundige Zeitgenossen kennen Jakob Augstein als Herausgeber und Chefredakteur der linken Wochenzeitung „Der Freitag“, aber auch als scharfzüngigen Diskussionspartner des bekannten Journalisten Nikolaus Blome von einer großen Boulevardzeitung. Der Interessent kann also ahnen, was ihn bei der Lektüre des Titels „Im Zweifel Links“ erwartet. 70 ausgewählte Kolumnen zu wichtigen politischen Vorgängen in Deutschland seit 2011 in „Spiegel-Online“ hat er in seinem Buch zusammengestellt. Er gliedert sie nach selbst gewählten Überschriften wie „Leben unter Merkel“ oder „Alles über Russland“ oder „Demokratie und Kapitalismus“, gewissermaßen ein Kessel Buntes. Unter jedem Beitrag wird das Datum des Erscheinens genannt, die Zeitspanne reicht von 2011 bis 2018, häufig sind noch aktualisierte Kommentierungen angefügt. Augsteins Aussagen müssen also zeitbezogen gesehen werden. Da könnten sich gewisse Wahrnehmungen unterscheiden, in der Regel tun sie es allerdings nicht; stellvertretend seien Merkel und Kohl genannt.

Kanzlerin negativ beurteilt

Die Beurteilung der Kanzlerin Angela Merkel ist eindeutig negativer als die Bilanz des Altkanzlers Helmut Kohl, dem der Autor attestiert, seine Projekte, Visionen, Hoffnungen, Europa und die Deutsche Einheit, zu verfolgen, Letztere als „Bismarcks gemütlicher Wiedergänger“ ohne Blut und Eisen. Merkel hingegen – so Augstein – habe nichts von dem, ihr einziges Ziel sei der Erhalt der Macht. Mit dieser Behauptung beginnt der Kolumnist sein Buch; er begründet diese mit dem Fall Guttenberg 2012, der die Kanzlerin keineswegs beschädigt hatte. Diese Argumentation ist einfach zu dünn und wenig überzeugend, um daraus für die Jahre der weiteren Kanzlerschaft Merkel eine Globaleinschätzung zu konstruieren, und diese reicht bis in unsere unmittelbare Gegenwart: „Angela Merkel schleppt sich in ihre vierte Amtsperiode, ... sie schlurft durch die Gänge der deutschen Politik ohne Orientierung, ohne Ziel.“

Konkrete Punkte, die angeblich von der Kanzlerin/CDU nicht angepackt worden seien, lastet Augstein der SPD an, die dabei versage. Das ist reine Schwarz-Weiß-Malerei, die auch bei anderen Politikfeldern zu beobachten ist. Dabei findet er fantasiereich originelle Formulierungen wie: „Das Kanzleramt ist zum Zentrum für sozialdemokratisch betreutes Wohnen geworden“. Dass in Mehrparteien-Regierungen, in einer Großen Koalition bei strittigen Fragen in den meisten Fällen das Ergebnis ein Kompromiss ist, leuchtet dem Kolumnisten offensichtlich nicht ein; dass der Kompromiss zum Wesen einer Demokratie gehört, sollte klar denkenden Menschen bewusst sein. Bei Augstein sind Zweifel angebracht, wenn man Sätze liest wie diesen: „Stellt dieser Kanzlerschaft die lebenserhaltenden Systeme ab. Angela Merkel gehört in Rente. Und die SPD gehört in die Opposition.“

Und wie weiter? In der letzten im Buch veröffentlichten Kolumne – als eine Art Quintessenz – fordert er, dass die SPD wegmüsse. An ihre Stelle solle die von Wagenknecht gegründete Sammlungsbewegung treten; in ihr verberge sich eine große Sehnsucht, beispielsweise nach gerechten Löhnen, bezahlbaren Mieten oder Kindern ohne Armut. Das hat der Autor am 13. Augut 2018 geschrieben. Diese „radikalen“ Forderungen stehen aber auch auf den Zetteln der Regierungsparteien sowie der Linken. Offensichtlich sieht Augstein das nicht so. Die Konsequenz für ihn: Er werde zu einer radikalen Haltung gezwungen. Dies ist dann seine stramm linke Position. „Im Zweifel Links“ drückt sich beim Autor in allen Politikfeldern aus, die er in seinen Kolumnen zu kritisieren vermeint. Nicht überall bietet er konkrete Alternativen an.

Die Überspitzungen, ironischen, satirischen und manchmal auch persönlichen Formulierungen in beinahe allen Texten machen ohne Zweifel den Charme dieses Buches aus; man liest die einzelnen Beiträge gern und hat häufig sogar Spaß an den Formulierungen und Wortschöpfungen – zum Beispiel „Polit-Hasardeur Lindner“ oder „sozialpsychologische Kernschmelze“ in der berühmten Kölner Silvesternacht, aber hinter diesen stilistischen Eigenheiten stehen ernst zu nehmende Aussagen und Positionen, die man nicht teilen muss, sie bieten jedoch Stoff zur Auseinandersetzung.

Diese Form der Darstellung ist von Augstein bewusst gewählt, wie er im Vorwort seines Buches begründet. Der Untertitel „Vom aufhaltsamen Untergang des Abendlandes“ fällt in diese Kategorie, man könnte sogar von Spaßfaktor sprechen. Die Inhalte des Buches sind für eine eigene Urteilsbildung gut geeignet.

Jakob Augstein: „Im Zweifel Links. Vom aufhaltsamen Untergang des Abendlandes“, DVA/Spiegel, München 2019, gebunden, 299 Seiten, 20 Euro


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