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Ukraine-Konflikt

Atomkrieg in Europa?

Erstmals seit Jahrzehnten erscheint ein großer Krieg in Europa wieder möglich. Und damit wird auch das lange Undenkbare wieder zur realen Gefahr: der nukleare Schlagabtausch. Was aber bedeutet das konkret?

Wolfgang Kaufmann
10.05.2022

In einem Krieg wurden Kernwaffen bislang nur zwei Mal eingesetzt. Nämlich im August 1945, als US-amerikanische Flugzeuge Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki warfen. Danach wagte es bis heute niemand mehr, etwas Derartiges zu wiederholen, obwohl die neun Atommächte in der Folgezeit streckenweise um die 60.000 Nuklearsprengköpfe anhäuften und mehr als 2000 Testexplosionen auslösten.

Jetzt allerdings werden Warnungen laut, dass Russland im Zuge des Ukrainekrieges das seit 77 Jahren bestehende Tabu brechen könnte. Dergestalt äußerten sich unter anderem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, William Burns: Angesichts des offensichtlichen Scheiterns von Putins konventioneller Kriegführung in der Ukraine sei es höchst ratsam, die Gefährdung durch russische Atomwaffen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Und tatsächlich sendete der Kreml-Chef auch schon einige beunruhigende Signale aus. So bezeichnete er den jüngsten erfolgreichen Testflug der neuen Interkontinentalrakete RS-28 „Sarmat“ mit 18.000 Kilometern Reichweite und möglicherweise bis zu zwölf einzeln steuerbaren Atomsprengköpfen als Warnung an all jene, „die in der Hitze der aggressiven Rhetorik versuchen, unser Land zu bedrohen“. Zudem versetzte Putin die russischen „Abschreckungswaffen“, zu denen in erster Linie die Kernwaffen zählen, mit Beginn des Ukrainekrieges in erhöhte Alarmbereitschaft und sprach von „Konsequenzen, wie noch nie in der Geschichte erlebt“, sollte sich die NATO in den Konflikt „einmischen“.

Weitere alarmierende Äußerungen kamen vom Kremlsprecher Dmitri Peskow sowie dem stellvertretenden Leiter des Sicherheitsrates, des Ex-Staatspräsidenten der Russischen Föderation und Vorsitzenden der Partei Einiges Russland, Dmitri Medwedew. Beide bezeichneten nicht näher definierte „Aggressionsakte“, welche die staatliche Existenz Russlands gefährden könnten, als möglichen Anlass für Atomschläge der eigenen Streitkräfte.

Russlands Atom-Arsenale sind voll

Und diese verfügen über ein beachtliches Arsenal an Kernwaffen. Wie aus der kürzlich erschienenen Zusammenstellung „Nuclear Notebook. Russian nuclear weapons 2022“ der Federation of American Scientists hervorgeht, besitzt Russland aktuell fast 6000 Atomsprengköpfe, nachdem deren Zahl 1990 noch bei über 30.000 lag. Damit rangiert es knapp vor den USA mit gut 5500 Sprengköpfen. Von den russischen Kernwaffen sind aktuell etwa 4500 einsatzbereit – der Rest wurde ausgemustert und harrt der Demontage. Mehr als die Hälfte der verwendungsfähigen Sprengköpfe zählt zu den strategischen und knapp 2000 zu den taktischen Waffen mit mittlerer und kürzerer Reichweite.

Für den sofortigen Einsatz stehen fast 1600 der strategischen Nuklearsprengköpfe zur Verfügung. Gut 800 davon dienen der Bestückung von mehr als 300 landgestützten Interkontinentalraketen. Fast 600 befinden sich an Bord der 14 Atom-U-Boote der Seekriegsflotte der Russischen Föderation mit Raketenbewaffnung. Und die verbliebenen 200 können von 68 Langstreckenbombern ins Ziel transportiert werden. Die übrigen knapp 1000 strategischen Kernwaffen lagern in Hochsicherheitsbunkern – wie auch die Sprengköpfe für die taktischen Waffen.

Angesichts dieses Bestandes hat Putin drei grundsätzlich unterschiedliche Optionen für den Einsatz des russischen Kernwaffenpotentials gegen die Ukraine oder die NATO. Zum Ersten wäre ein plötzlicher „Enthauptungsschlag“ mit dem Gros der strategischen land- oder seegestützten Raketen und Bomber möglich. Allerdings besitzt Russland keine Chance, dabei die komplette nukleare Zweitschlagskapazität der USA, Frankreichs und Großbritanniens zu neutralisieren. Denn die beläuft sich auf 22 in den Tiefen der Ozeane patrouillierende Atom-Unterseeboote mit Hunderten von ballistischen Raketen, weitere 400 landgestützte Raketen und zahllose Flugzeuge, die gemeinsam mehr als 4000 Sprengköpfe ins Ziel tragen können.

Damit dürfte ein Erstschlag unweigerlich zum Selbstmord geraten, was übrigens auch für den extrem unwahrscheinlichen Fall gilt, dass der Gegenschlag doch nicht stattfindet oder Russland diesen übersteht. Denn auf die Zündung von 100 oder mehr strategischen Kernwaffen würde der „Nukleare Winter“ folgen. Dies ist eine Klimakatastrophe aufgrund der in die Atmosphäre geschleuderten Mengen an Asche und Staub, welche den Himmel über zwei bis drei Jahre verdunkeln.

Moskau hat verschiedene Optionen

Darüber hinaus käme es zur Freisetzung von erheblicher Radioaktivität, wobei der strahlende Niederschlag bei modernen Sprengköpfen aber geringer ausfällt als gemeinhin angenommen. Fast alle heutigen Atombomben sind Wasserstoffbomben, die nur relativ wenig Uran oder Plutonium enthalten. Deshalb läge die Radioaktivität im Zielgebiet zwei Wochen nach der Explosion lediglich noch bei einem Tausendstel des Anfangswertes.

Zum Zweiten könnte Putin sehr viel zurückhaltender agieren und sogenannte Demonstrationsschläge anordnen. Dabei handelt es sich um die Zündung von taktischen Kernwaffen mit geringerer Detonationskraft in großer Höhe und über weitgehend menschenleeren Regionen wie beispielsweise der Ostsee oder dem Schwarzen Meer. Das würde die Entschlossenheit Russlands zeigen, ohne dass es aber zu Schäden oder einer gravierenden radioaktiven Verseuchung am Boden käme. Die Frage ist freilich, ob die USA bei einem Demonstrationsschlag bereit wären, passiv zu bleiben. Immerhin entsandte die US-Luftwaffe im Februar vier B-52-Bomber mit „nuklearen Ressourcen“ nach Großbritannien.

Und zum Dritten hat Putin die Möglichkeit, den Einsatz taktischer Kernwaffen auf den Gefechtsfeldern der Ukraine oder gegen NATO-Einheiten anzuordnen. Von diesen Sprengköpfen besitzt Russland knapp 2000 Stück – und an Trägersystemen wie Kurz- oder Mittelstreckenraketen, Marschflugkörpern, Torpedos und Kampfflugzeugen herrscht gleichermaßen kein Mangel. Durch den kleineren Sprengkopf wären die Auswirkungen der Explosionen deutlich geringer als bei strategischen Nuklearwaffen, weshalb es anschließend nicht nur eine atomare Wüste zu erobern gäbe.

NATO-Szenario zum Baltikum

Andererseits birgt ein solches Vorgehen ebenfalls unkalkulierbare Risiken. Denn die Hemmschwelle in Bezug auf den Einsatz von taktischen Kernwaffen scheint aufseiten der NATO schon seit geraumer Zeit deutlich gesunken zu sein. Vier Wochen vor Ausbruch des Ukrainekrieges berichtete das US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ über Pläne der eigenen Militärs, einen begrenzten atomaren Schlagabtausch mit Russland billigend in Kauf zu nehmen: „Die nukleare Option folgt der Strategie der Abschreckung möglicher Angreifer, auch in Europa, wie es das groß angelegte Manöver ‚Global Lightning' im vergangenen Jahr verdeutlichte, mit dem Szenario einer angenommenen russischen Invasion in den baltischen Staaten, die schließlich zum Einsatz von Atomwaffen führte.“

Ähnliche Töne konnte man bereits 2014 auf einer Konferenz der NATO-Strategieschmiede Joint Air Power Competence Centre (JAPCC) mit Sitz in Kalkar hören: „Die zwei Jahrzehnte lang geltende Annahme, dass es in Europa keinen größeren Krieg geben wird, ist anzuzweifeln ... Die Konferenz fordert vor diesem Hintergrund einen angemessenen Mix aus nuklearen und nicht-nuklearen Fähigkeiten.“ Noch deutlicher wurden die militärischen Experten aus 16 NATO-Staaten, welche unter dem Kommando des Befehlshabers der US-Luftstreitkräfte in Europa und Afrika standen, auf einer späteren Konferenz im Jahre 2017: Die Strategie der konventionellen Abschreckung sei weiterhin umsetzbar, allerdings sehr kostspielig.

„Finanziell günstigere Variante“

Daher lautete die Empfehlung des JAPCC: „Alternativ dazu könnte eine Senkung der Nuklearschwelle und die Wiedereinführung von nuklearen Mittelstreckenkräften in Betracht gezogen werden.“ Alles weitere blieb dann freilich geheim. Dabei ist aber davon auszugehen, dass die Anregungen des NATO-Kompetenzzentrums auf fruchtbaren Boden gefallen sind und die Option eines begrenzten Nuklearkrieges als finanziell günstigere Alternative zum konventionellen Schlagabtausch nicht sang- und klanglos unter den Tisch fiel. Wobei die russischen Nachrichtendienste dies sicher aufmerksam registrierten und die Moskauer Führung entsprechend informieren.

Insofern könnten all jene Recht behalten, welche nach den drohenden Ankündigungen der russischen Seite und den darauffolgenden Alarmrufen von Burns und Selenskyj wieder Entwarnung gaben. Der ehemalige Chef der Russlandabteilung der CIA, Steven Hall alias Stephen Holmes, bezeichnete die Verlautbarungen aus dem Kreml als „nukleares Säbelrasseln“ ohne Konsequenzen, mit dem gegenüber der eigenen Bevölkerung Stärke demonstriert werden solle. Von „Symbolpolitik“ sprach auch der Leiter des Forschungsbereiches Rüstungskontrolle und Neue Technologien am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH), Ulrich Kühn, während andere Militärfachleute an ähnliche russische Drohgebärden während der Annexion der Krim erinnerten.

Sicher ist sich niemand

Und der frühere Chefphysiker der Schweizer Armee Walter Rüegg verwies zudem darauf, dass Russland vollkommen außerstande sei, die territorial weit zerstreuten NATO-Streitkräfte mit taktischen Atomschlägen zu paralysieren, weshalb Putin sicher nur bluffe und Panik bei der Gegenseite auslösen wolle. Ebenso meinte der Direktor des renommierten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Dan Smith: „Ich glaube nicht, dass ein Atomkrieg eine wahrscheinliche Folge dieser Krise ist.“

Allerdings gab es bekanntlich auch zahlreiche Experten, welche noch kurz vor dem 24. Februar 2022 prophezeit hatten, Putin würde es niemals wagen, in das Nachbarland einzufallen. Insofern ist Vorsicht angeraten, wenn es um mögliche zukünftige Schritte Russlands geht. In die Köpfe der Kreml-Führer kann niemand hineinschauen – auch wenn westliche Geheimdienstler, Wissenschaftler und Journalisten gerne den gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchen. Genauso wenig ist klar, wie weit der Konflikt in der Ukraine durch das Zutun der beiden Akteure und deren jeweilige Unterstützerschar noch eskalieren wird.


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Kommentare

Mike Wehrmann am 10.05.22, 20:03 Uhr

Was für ein dummer Kommentar. In dem Fall sind wir alle am Arsch und zwar richtig!!! Ist eigentlich nicht schwer zu verstehen.....

Berlin 59 am 10.05.22, 18:40 Uhr

Ob mit oder ohne Atomschläge, Putin-Russland wird den Krieg verlieren.

Reinhard Lünsdorf am 10.05.22, 17:45 Uhr

Es stellt sich mir zuallererst die Frage, was die NATO und vor allem die USA in der Ukraine oder deren Nachbarstaaten zu suchen hat und wie diese Kräfte es wagen können, Russland zu provozieren und damit einen Krieg mit Millionen Toten in Europa zu veranlassen!?

sitra achra am 10.05.22, 07:48 Uhr

Es ist nicht auszuschließen, dass Russland einen Atomwaffenangriff auf die Nato auslöst. Dann müsste sichergestellt werden, dass als Antwort darauf Russland samt seinen Bewohnern vollständig von der Landkarte verschwindet.

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