Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Der Stauferkaiser Friedrich II. war ein gebildeter und sehr wissbegieriger Mann. Besonders interessierte ihn die alte Frage, welche Sprache die Menschen im Paradies gesprochen haben könnten. Zur Debatte standen damals Hebräisch, Griechisch, Latein und Arabisch. Also ließ er einige neugeborene Kinder an einen abgelegenen Ort bringen und dort von Ammen versorgen, die aber nicht mit ihnen sprechen durften. Auf diese Weise wollte er herausfinden, welche Sprache die Kinder von sich aus untereinander sprechen würden. Doch sie starben alsbald und haben niemals irgendwelche Worte gesprochen.
Dieses zweifellos extrem grausame Experiment zeigt gleichwohl, dass der Mensch zwar die Fähigkeit hat zu lernen, nicht aber „von sich aus“ lernt, sondern ein Gegenüber braucht, das ihn wohlwollend lehrt, in der Welt zurecht zu kommen. Gewissermaßen – einen Lehrer.
Überraschenderweise hat ausgerechnet Sokrates, einer der wirkungsvollsten Lehrer, dessen Schüler – allen voran Platon – ihm in zahlreichen philosophischen Schriften ein bleibendes Denkmal gesetzt haben, mit aller Entschiedenheit bestritten, jemals ein Lehrer (Didaskalos) gewesen zu sein. In seiner Verteidigungsrede (Apologie) vor dem Volksgericht Athens im Jahr 399 v. Chr. sagte er in aller Klarheit: „Ich aber war niemals der Lehrer von jemandem.“ Das wirft die Frage auf, was Sokrates unter einem „Lehrer“ verstand.
Wie Wissen vermittelt wird
Offenbar zählte er sich nicht zu denjenigen, die ihren Schülern (gegen Bezahlung) in einem geschlossenen Monolog verbindlich darlegten, wie die Welt beschaffen sei. Stattdessen war er davon überzeugt, dass philosophische Erkenntnis nur im Dialog zu gewinnen sei. Regelmäßig verwickelte er in aller Öffentlichkeit anerkannte Experten des öffentlichen Lebens in ein Gespräch, in dem er durch konsequentes Nach- und Hinterfragen erreichte, dass der (vermeintliche) Experte erkennen musste, nur über ein Scheinwissen zu verfügen. Dies tat er nicht aus Bösartigkeit, sondern weil die Beseitigung des Scheinwissens die Voraussetzung für philosophische Erkenntnis ist. Natürlich machte er sich aber mit dieser Vorgehensweise – außer bei seinen meist jugendlichen Schülern, die diese öffentlichen Bloßstellungen gebannt verfolgten – beim Establishment nicht gerade beliebt, und er ahnte durchaus, dass es eines Tages für ihn bös ausgehen würde, was dann ja auch mit seiner Hinrichtung geschah. Dennoch ging er beharrlich und unerschrocken seinen Weg bis zum Ende und suchte im Dialog eine Annäherung an die Wahrheit, auch wenn sie, solange der Mensch auf Erden ist, unerreichbar bleibt.
Die sokratische Methode des Nach- und Hinterfragens ist, bei Lichte betrachtet, also keine Lehrkunst (Didaktik), sondern eine Lernkunst (Mathetik). Sokrates selbst verglich sie gerne mit der Hebammenkunst (Maieutik): Zwar ist es die Mutter, die ihr Kind zur Welt bringt, aber sie braucht hierzu eine Hebamme. Auch bei der Geburt der Erkenntnis, die ebenfalls langwierig und schmerzhaft sein kann, braucht der Schüler einen Lehrer.
Die Erkenntnisse der pädagogischen Forschung sind eindeutig
Die Bedeutung des Lehrers für das schulische Lernen bestätigt auch John Hatties monumentale Studie „Visible Learning“ mit einer empirischen Grundlage, die es in diesem Ausmaß in der Erziehungswissenschaft noch nicht gegeben hat. Waren bei der Erstveröffentlichung 2009 noch etwa 800 Meta-Analysen enthalten, so umfasst der Datensatz heute über 2100 Meta-Analysen mit über 120.000 Einzelstudien und geschätzt über 400 Millionen Schülern. Damit haben Hatties Forschungsergebnisse eine Aussagekraft, an der auch deutsche Ideologen nicht so ohne weiteres vorbeikommen. Sollte man meinen.
Aber bekanntlich geht man in Deutschland jede ideologische Sackgasse bis zum Ende. So wird nach wie vor in der Pädagogik die Bedeutung des Lehrers abgewertet und das „fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch“ als „Frontalunterricht“ verunglimpft sowie als antiquiert und autoritär verworfen. Guter Unterricht, so heißt es noch immer, sei derjenige, in dem sich der Lehrer auf die Rolle des „Lernbegleiters“ reduziert, der den Schülern den Klassenraum aufschließt, das Smartboard hochfährt und dann, in einer Ecke sitzend, für das Sekretariat statistische Fragebögen ausfüllt, während die Schüler selbstorganisiert in Gruppen lernen.
Indessen hat Hattie in seiner Studie die Faktoren untersucht, die zu einem effektiven Unterricht beitragen. Die Effektivität von Unterricht hat er sinnvollerweise am Lernfortschritt festgemacht. Der entscheidende Faktor für effektiven Unterricht ist – so das Forschungsergebnis der Hattie-Studie auf einen Nenner gebracht – der Lehrer. Aber natürlich nicht der Lehrer, der 45 Minuten lang munter vor sich hin doziert, während die Schüler schlafen, sondern der Lehrer, der seinen Unterricht stringent plant, schülerorientierte und zielführende Methoden wählt, auf größtmögliche Transparenz achtet, den Schülern kontinuierlich eine Rückmeldung über ihren erzielten Lernfortschritt gibt und der dabei sich selbst durch die Augen seiner Schüler kritisch betrachtet. Ein Lehrer, der mit Leidenschaft für seine Fächer eintritt und den ihm anvertrauten Schülern Wohlwollen entgegenbringt, ein Lehrer, der fördert, indem er fordert, und der sich seiner Vorbildfunktion (auch im Hinblick auf Stilfragen) bewusst ist.
Wenn der Lehrer fehlt
Wie wichtig ein Lehrer ist, der Lernprozesse organisiert und anleitet, hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht. Denn alle Auswertungen zeigen übereinstimmend, dass gerade die Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten während der monatelangen Schulschließungen häufig eben nicht „selbstorganisiert“ gelernt und durch die staatliche Vernachlässigung einen Nachteil erfahren haben, den sie nur schwer, wenn überhaupt, ausgleichen können.
Natürlich muss der Bildungsbegriff unseres demokratischen Rechtsstaates über messbare kognitive Fachleistungen, die in der Hattie-Studie untersucht wurden, hinausgehen. Am Ende muss er immer – gewissermaßen als letzte Dimension von Schule überhaupt – auf die Entfaltung einer freien und verantwortungsbewussten Persönlichkeit zielen. Doch, wenn schon das kognitive Lernen eines Lehrers bedarf, um wieviel mehr bedarf die Persönlichkeitsbildung des Schülers der Persönlichkeit des Lehrers?
Eine Gesellschaft, in der die schulische Gewalt geradezu eskaliert – im Jahr 2024 wurden von 14 Bundesländern zusammen knapp 27.000 Gewaltdelikte an Schulen gemeldet – braucht Werteerziehung. Erziehung zu Demokratie, Gerechtigkeit und Toleranz. Die geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft müssen jeder nachwachsenden Generation jeweils neu vermittelt werden. Deshalb gilt heute mehr denn je: Auf den Lehrer kommt es an!
Burghard Gieseler war von 2004 bis 2015 Landesvorsitzender des Niedersächsischen Altphilologenverbandes sowie von 2016 bis 2024 Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Osterode Ostpreußen e.V.