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Architektur

Auf Salpeter gebaut

Backstein-gewordenes Ergebnis eines Überseehandels – Hamburgs Chilehaus wird 100 Jahre alt, doch nicht alle feiern mit

Dagmar Jestrzemski
20.06.2024

In diesem Jahr feiert die Hamburger Kulturszene mit Veranstaltungen und geführten Touren das 100-jährige Bestehen des Chilehauses im Kontorhausviertel. Der schiffsförmige Bau im Stil des Backsteinexpressionismus entstand von 1922 bis 1924 nach Entwürfen des Architekten Fritz Höger (siehe auch Seite 11) und ist bis heute ein bekanntes Hamburger Wahrzeichen.

Finanziert wurde das Chilehaus vom Hamburger Geschäftsmann Henry B. Sloman (1848–1931) mit dessen Gewinnen aus der Gewinnung und dem Verkauf von Salpeter aus Chile. 2016 wurde das Chilehaus zusammen mit der historischen Speicherstadt des alten Hamburger Hafens zum Weltkulturerbe der UNESCO ernannt. In den Jahrzehnten um 1900 war das Natriumnitrat Salpeter ein begehrter Rohstoff. Vor diesem Hintergrund erhielt das Gebäude seinen Namen.

Salpeter wurde über die chilenischen Häfen Iquique und Antofagasta in alle Welt exportiert, überwiegend aber nach Europa. Auch in Deutschland wurde der Salpeter als Dünger für die ausgelaugten Böden dringend benötigt, da die einheimische Düngerproduktion wegen der starken Bevölkerungszunahme nicht ausreichte. Nur durch den Einsatz von Dünger konnten Hungersnöte vermieden werden. Desgleichen wurde Salpeter zur Herstellung von Schießpulver verwendet.

Hamburger Salpeterbaron
Für einen schnellen und sicheren Transport des Salpeters auf ihren robusten Großseglern war die heute noch bestehende Hamburger Reederei F. Laeisz bekannt. Im Norden Chiles befindet sich die weltweit größte Lagerstätte des Caliche, einer steinharten Bodenbildung in der Atacamawüste. Vor Ort wurde daraus der Salpeter ausgewaschen. Zwischen 1870 und 1930 wurden mehr als hundert Minen in der Atacama ausgebeutet.

Neben Chiles „Salpeterbaronen“ investierten vor allem englische und deutsche Geschäftsleute in die Gewinnung und den Export von Salpeter. Die fünf Salpeterwerke des Hamburger Geschäftsmanns Henry M. Sloman in der Atacamawüste bildeten die Hauptquelle seines Vermögens. „Jedes Salpeterwerk war wie eine kleine Stadt mit Produktionsanlagen, Infrastruktur und Häuserblocks, in denen die Arbeiter und ihre Familien lebten. Andere Ortschaften gab es kaum“, berichtet eine Urenkelin von Henry B. Sloman auf der Webseite „Die Chilehaus-Saga“.

Weiter heißt es: „Sloman und ein weiteres Hamburger Handelshaus, Fölsch & Martin (Reederei H. Fölsch & Co.), gehörten zu den größten Minenbesitzern. 1926 importierten die deutschen Unternehmen insgesamt zwei Millionen Tonnen Salpeter pro Jahr.“

Das Verladen der schweren Salpetersäcke auf die Hamburger „Veermaster“ war eine Plackerei für die Matrosen. Diese waren bereits auf der Fahrt von Hamburg nach Chile bei der Umrundung des Kap Hoorn an der Südspitze Südamerikas, wo Atlantik und Pazifik zusammentreffen, wegen des dort vorherrschenden stürmischen Westwindes unvorstellbaren Strapazen ausgesetzt. Die Heimfahrt von den chilenischen Salpeterhäfen Iquique und Antofagasta war meist etwas weniger beschwerlich. Eine Rundfahrt von Hamburg nach Chile und zurück dauerte im Mittel ein halbes Jahr.

Sloman ein Ausbeuter?
Aus Anlass der Jubiläumsfeier des Chilehauses sind für Juli und August weitere Veranstaltungen angekündigt. Unterdessen veranlasste kürzlich eine Schulklasse im Hamburger Stadtteil Veddel die zuständigen Behörden, den dort verlaufenden Sloman­stieg in Castellonstieg umzubenennen. Namensgeber ist der hierzulande unbekannte chilenische Minenarbeiter und Gewerkschaftsvertreter Jesus Castellon Lazarte (1931–2010). Dieser hatte für bessere Arbeitsbedingungen und die Rechte der Arbeiter in den Salpeterminen gekämpft. Ersetzt wurde aber nur der „Stieg“, nicht die Slomanstraße, in die er mündete.

Die Umbenennung geht auf die Recherchen einer Schulklasse zurück. Vor drei Jahren hatten die damaligen Siebtklässler angefangen, über die Geschäfte der Hamburger Reederei Robert M. Sloman (1783–1867) und seines Neffen Henry B. Sloman zu recherchieren. Sie stießen auf Berichte über menschenunwürdige Zustände auf den Schiffen von Robert M. Sloman, der neben der Frachtfahrt auch den Transport von Emigranten nach Nord- und Südamerika betrieb.

So wurde der Dreimaster „Leipzig“ von 55 Metern Länge und zehn Metern Breite für den Transport von 570 Emi­granten nach New York umgebaut. Sowohl der Platz als auch der Proviant und die täglichen Wasserrationen waren zu knapp bemessen. Bei der zweiten Fahrt waren nach 70 Tagen 105 Passagiere verstorben. Die Überlebenden wurden auf ein Hospitalschiff gebracht.

Die verdreckte „Leipzig“ wurde als „Pesthöhle“ bezeichnet, und die Deutsche Gesellschaft der Stadt New York warnte deutsche Auswanderer davor, „sich der Schiffe des Hrn. R. M. Sloman in Hamburg anzuvertrauen“.

Katastrophale Arbeitsbedingungen
Desgleichen fanden die Schüler Berichte über die überaus harten Arbeitsverhältnisse und Lebensbedingungen der Arbeiter in der Salpeterindustrie. Im heißen Klima der vegetationslosen Atacamawüste arbeiteten insgesamt über 70.000 Wanderarbeiter meist indigener Herkunft im Staub unter katastrophalen Bedingungen. Eine Spätfolge dieser Arbeit war die Staublunge. Es gab Kinderarbeit. Bei Streiks und Protesten wurden in Chile immer wieder Arbeiter getötet.

Viele Arbeiten wurden in der prallen Sonne, an Kohleöfen oder bei den Becken mit heißer Lauge ausgeführt, wo der Salpeter aus dem Gestein gelöst wurde. Als Lohn gab es kein Bargeld, sondern Kupfermünzen, die in den lokalen Lebensmittelgeschäften der Minengesellschaften einzulösen waren. In seinem Werk „Canto General“ prangerte der Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda die Missstände in den nördlichen Salpeterprovinzen an.

Die Urenkelin von Henry B. Sloman betont jedoch, dass die Bewohner der Salpeterwerke ihres Urgroßvaters in ihrer Freizeit und an Festtagen ein lebenswertes Leben führen konnten. „Das war für damalige Verhältnisse äußerst ungewöhnlich. Er baute nicht nur Schulen, Hospitäler und Kirchen für die Familien in den Oficinas (Salpeterwerken), sondern ermöglichte ihnen auch Kultur (Musik, Theater und Tanzkurse) und große Festveranstaltungen.“

Die meisten Salpeterwerke sind heute verlassen. 1909 erfanden die deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch ein chemisches Verfahren zur Synthese von Ammoniak. Es ermöglichte in den 1920er Jahren die preisgünstige Massenproduktion von Stickstoffdünger. Seitdem fanden die Salpeterfahrten nach Chile immer seltener statt.


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