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Aufstieg und Niedergang mit Lagerhaft, Verfolgung und Diskriminierung in der Sowjetunion – Irene Langemanns Familienepos spiegelt die Geschichte der Deutschen in Russland von der Zarenzeit bis in die Gegenwart wider
Der Familienroman „Das Gedächtnis der Töchter“ von Irene Langemann entfaltet angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Familie das Schicksal der Russlanddeutschen der letzten 250 Jahre.
Die preisgekrönte Kölner Filmemacherin und Mitarbeiterin des Deutschlandfunks stellt sechs Frauen russlanddeutscher Mennoniten vor. Das Buch beginnt mit einem Stammbaum, bei dem hinter vielen Kreuzen ein Fragezeichen steht, weil das Todesdatum unbekannt ist, da das Leben vieler Vorfahren in der Verbannung oder im Gulag endete.
Virtuos lässt die Autorin ein eng gewobenes Geflecht aus Vergangenheit und Zukunft entstehen, indem sie immer wieder zwischen Geschichte und Gegenwart hin und her schwenkt. Im Zentrum des Romans steht das Suchen nach der Identität als Russlanddeutsche in einer oft als feindlich erlebten Fremde. Langemann wurde 1959 in Issilkul, einem trostlosen Ort im sibirischen Gebiet Omsk geboren. Das Leben ihrer Vorfahren spielte sich jedoch in dem Ort Rosenau in der Ostukraine und in Odessa ab. Irene wuchs in der Verbannung zweisprachig auf. Mit17 Jahren ging sie nach Moskau und studierte Schauspiel und Germanistik. Ab 1980 war sie Schauspielerin, TV-Moderatorin und Theaterautorin in Moskau, 1990 ist sie nach Deutschland ausgesiedelt.
In ihrem Roman stehen die Schicksale der Frauen stellvertretend als bewegte Kollektivgeschichte der russlanddeutschen Minderheit. Von Zaren zum Aufbau des Landes gerufen, mit Privilegien ausgestattet, wurden sie nach Ablauf der Privilegien ausgegrenzt. Unter dem religionsfeindlichen Sowjetregime wurden die strenggläubigen Christen verbannt, entrechtet und in Arbeitslager gesteckt.
Die ursprünglich ab 1790 aus der Gegend von Danzig und Westpreußen ausgewanderten Mennoniten bevölkerten die Steppengebiete der heutigen Ostukraine, beginnend mit der Stammsiedlung Chortitza, einer Insel auf dem Dnjepr, die vorher ein Kosakenzentrum war. Zitate aus dem eigentlich ostpreußischen Dialekt der Mennoniten durchziehen, wie Wortfetzen aus dem Russischen, das gesamte Buch.
Diese Gebiete waren unter Katharina der Großen für das Zarenreich erobert worden. In den Gebieten lebte aber auch die Tradition der Saporoscher Kosaken fort, auf die jetzt die Ukraine ihre Freiheitsgeschichte zurückführt. Auch deshalb bekämpfen sich heute in der einstigen Heimat dieser Menschen Russland und die Ukraine. Als Journalistin begleitet Langemann über Jahrzehnte die politischen Entwicklungen in Russland und der Ukraine kritisch. In dem derzeitigen Krieg sieht sie auch eine Chance der deutschen Gesellschaft, Empathie für die Geschichte der Deutschen aus den postsowjetischen Staaten zu vermitteln.
Das Buch erzählt die Geschichte der elfjährigen Vera, die von ihren Mitschülern auf einer menschenleeren Straße als Faschistin beschimpft wird. Das gedemütigte Mädchen begibt sich mit seiner Mutter auf die Suche nach seinen Wurzeln. Als Mutter Anna sie in die Familiengeschichte einweihte, begann für Vera eine Reise in die Vergangenheit. Vera erfuhr von packenden Lebenswegen, die sich durch die Jahrhunderte bis heute spiegeln: vom bescheidenen Wohlstand der frommen Kolonisten in der Zarenzeit über unmenschliche Entbehrungen, existentielle Not und Diskriminierung in der Sowjetunion, bis hin zu den idyllischen Sommern an der Küste Georgiens in den 70er Jahren. Das „Gedächtnis der Töchter“ ist die mitreißende Chronik einer deutschen Familie, die versucht, im krisengebeutelten Russland Wurzeln zu schlagen.
Langemann zeichnet sensibel und anschaulich die Entwicklung und Identitätssuche ihrer Hauptfigur Vera nach. Sie glänzt durch genau recherchiertes historisches Faktenwissen. Die Sprache dieses knapp 500-seitigen, dichten und komplexen Familien-Epos wechselt zwischen erzählerischer Prosa und Essayistik, dabei werden verschiedene Stil- und Zeit-Ebenen eindrücklich miteinander verwoben.