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Wie das SED-Regime versuchte, mit Privilegien in der Bevölkerung Abhängigkeiten zu schaffen
Am 19. Dezember 1974 stellte ein Heinz B., wohnhaft in Stendal, einen Bauantrag für ein Einfamilienhaus an den Bürgermeister der Stadt Wernigerode. Der Antragsteller trug vor, dass er einen Herzinfarkt erlitten habe und ärztlicherseits empfohlen worden sei, den Wohnsitz in eine ruhigere Gegend zu verlegen. Wörtlich: „Auf Grund meines Alters und des gegenwärtigen Gesundheitszustandes stehe ich unmittelbar vor meiner Berentung, so daß ich den Entschluß faßte, jetzt diesen Antrag zu stellen. Von Seiten der SED-Stadtleitung wurde mir die entsprechende Unterstützung zugesagt.“
Diese Antragstellung war eine große, aber im Hintergrund wohl organisierte Lüge, denn die Akte zeigt heute auf, dass sich Heinz B. als „Strohmann“ von der Staatssicherheit benutzen ließ. Er wusste, dass hier das „konspirative Objekt“ mit der Deckbezeichnung „Schloß Waldblick“, Register-Nummer XV/1758/76, auf den Weg gebracht wurde, was allerdings öffentlich nicht bekannt werden durfte.
B. und der Architekt wurden zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet, und sie zogen das „Bau-Schauspiel“ bis zur Abnahme am 7. April 1976 durch.
Das Einfamilienhaus in Wernigerode war von Anfang an Eigentum der Staatssicherheit. Doch zunächst baute vorgeblich eine Privatperson ein Eigenheim, um es danach als „Gästehaus des Ministerrates“ zur Verfügung zu stellen. Das alles war Tarnung, denn tatsächlich wurde das Haus als „Schulungs-, Ausbildungs-, Erholungs- und Treffobjekt“ für Westzuträger genutzt.
Gewährung von Privilegien als Zuckerbrot
Das Objekt kam in die Rechtsträgerschaft der Versorgungseinrichtung des Ministerrates (VEM), um den wahren Eigentümer zu verheimlichen. Die Abteilung Recht und Grundstücksverkehr der VEM, zuständig für die Verwaltung des Hauses, war eine „Maulwurfseinrichtung“ der Staatssicherheit.
Die Akten belegen, dass sich die Zahl der unter der Scheinadresse der VEM geführten Objekte bis 1990 kontinuierlich verringerte: von zirka 500 im Jahre 1985 über 382 1986 auf 202 1990. 298 Objekte wurden bis 1990 an andere Nutzer beziehungsweise Eigentümer übertragen, sodass ein Rückschluss auf die ursprüngliche Verwendung bis heute kaum möglich ist.
Welche Belohnung Heinz B. für seine „konspirative Mitarbeit“ bekam, war der Akte nicht zu entnehmen, aber wer in so geheime Vorhaben eingebunden wurde, der hatte ganz sicher Vorteile davon. Die Staatssicherheit verfügte beispielsweise über sogenanntes Operativgeld, das für „politisch-operative Zwecke“ wie Geldgeschenke an „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM) zu verwenden war. (Operativgeldordnung vom 15. April 1983 „Vertrauliche Verschlußsache MfS o008-26/83“). Dafür standen Mark der DDR, aber auch „Valutamittel“ zur Verfügung. Allerdings überwies die Staatssicherheit Geldzuwendungen nicht mit eigenem Absender. Am 16. Juni 1984 erhielt beispielsweise der Sportclub Dynamo Berlin 10.000 Mark. In der Geldanweisung heißt es: „Als Absender ist das Konto MdI (Ministerium des Innern) zu verwenden.“
Neben finanziellen Geschenken konnte die Staatssicherheit bei der Erfüllung anderer Wünsche behilflich sein. So war beispielsweise der Posten eines Reiseleiters außerordentlich begehrt, weil diese Personen lukrative Reisen umsonst oder für wenig Geld in Anspruch nehmen konnten. Öffentliche Ausschreibungen gab es für diese Tätigkeit allerdings nicht. Das schanzten sich die SED-Genossen untereinander zu.
Reiseleiter im Tourismus waren nicht nur für organisatorische Fragen zuständig, sondern sie hatten daneben eine politische Aufpasserfunktion, insbesondere dann, wenn die Reise ins westliche Ausland führte. So wurden für eine Schiffsreise, die im September 1979 zum 30. Jahrestag der DDR als Auszeichnung für 451 Personen durchgeführt wurde, 13 Reiseleiter mitgeschickt. Das bedeutet, ein Reiseleiter betreute oder besser beaufsichtigte rund 35 Teilnehmer.
Am 11. April 1974 fasste das Präsidium des Ministerrates einen Beschluss zum Reiseverkehr als „Vertrauliche Verschlußsche B 2 – 93/74“, und dort ist zu lesen: „Reiseleiter müssen bewußte sozialistische Staatsbürger sein.“ Ernst K. war ein solcher Reiseleiter mit dieser Begründung: „Kollege Ernst K. ist seit 34 Jahren hauptamtlicher Staats- und Gewerkschaftsfunktionär. Klassenbewusst und parteiverbunden ist sein gesamtes Wirken darauf gerichtet, die Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und unserer Klassenorganisation konsequent zu erfüllen ... Wir sind davon überzeugt, dass Kollege Ernst K. als Gewerkschaftsfunktionär in der vorgeschlagenen Funktion als Hauptreiseleiter die Interessen unserer Klassenorganisation und unseres sozialistischen Staates würdig vertreten wird.“
Entzug von Privilegien als Peitsche
Auch Heinz B. aus Stendal wäre ganz sicher ein zuverlässiger Reiseleiter geworden, denn im Antrag für den angeblichen Bau seines Einfamilienhauses in Wernigerode berief er sich auf seine stramme politische Karriere als SED-Mitglied und Bataillonskommandeur der Kampfgruppen und darauf, dass er seit 1968 ehrenamtlicher Mitarbeiter der SED-Stadtleitung Magdeburg, Abteilung Sicherheit, war.
Vielleicht war es aber auch der Wunsch von Heinz B., bevorzugt mit einem Pkw versorgt zu werden. Diese Möglichkeit gab es durchaus für politisch ausgesuchte Personen. Am 23. Juni 1977 bat beispielsweise der 2. Kreissekretär der SED-Kreisleitung Eberswalde um eine „vorrangige Belieferung mit einem PKW Wartburg 353“ für einen „langjährigen Mitarbeiter der SED-Kreisleitung“. Dem Antrag wurde stattgegeben und der „Parteiarbeiter“ bekam das Fahrzeug, auf das die sonstigen DDR-Bewohner über zehn Jahre lang warten mussten.
Die Staatssicherheit und die SED waren über die Mangelwirtschaft in der DDR bestens informiert und nutzten den Wunsch nach ein wenig Luxus und nach Privilegien in der geschlossenen Gesellschaft gezielt aus. Allerdings veröffentlichten sie keine konkreten Rechtsansprüche. Es war eine gönnerhafte und willkürliche Gebermentalität hinter vorgehaltener Hand, um Abhängigkeiten zu schaffen. Die Staatssicherheit nannte es „Ausnutzen der materiellen Interessiertheit“.
Am 26. Januar 1993 gab Thomas Ammer auf der 25. Sitzung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ zu Protokoll: „Allgemein bekannt ... sind die Privilegien, wie sie nur unter den Bedingungen einer Mangelwirtschaft, wie sie in der DDR bis 1989 bestand, zu verstehen sind, also bevorzugte Wohnraumzuweisung, Zuweisung hochwertiger Konsumgüter, teilweise bessere Entlohnung als im Durchschnitt, berufliche Karrierechancen, bessere Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder ... Tatsache ist jedenfalls, daß der Besitz dieser echten oder auch scheinbaren Funktionärsprivilegien die Besitzer in eine Art Abhängigkeitsverhältnis von der SED und dem Apparat brachte, aus dem man sich nur schwer lösen konnte, weil eben bei Insubordination der Privilegienverlust drohte ... also alles Verluste, die doch recht schwer wogen und viele daran gehindert haben, einmal ein deutliches Wort zu sprechen. ... Regeln wie ‚demokratischer Zentralismus', Parteidisziplin, Fraktionsverbot und wie das alles heißt, haben nicht nur für die Einhaltung der Hierarchie gesorgt, sondern bis unmittelbar vor dem Ende des Regimes weitgehend offene Diskussionen verhindert, dringend nötige Entscheidungen verzögert oder unmöglich gemacht ...“
Das krampfhafte Festhalten an Privilegien und die Drohgebärden gegenüber jedermann, der es wagte, das Unrecht anzuprangern, konnten den Untergang des SED-Staates nicht verhindern.
Heiko Rübener am 12.10.22, 08:21 Uhr
Vielen Dank für diesen wertvollen und hochinteressanten Artikel.
Zwei Jahrzehnte habe ich diese Zeit mittendrin erlebt. Für mich hat sich dieser Artikel eingeprägt unter der Rubrik „Zuckerbrot und Peitsche - Radaukommunisten und Jubelsozialisten“
Chris Benthe am 03.10.22, 09:01 Uhr
Interessanter Artikel. Das Privilegienwesen der DDR, welches die kritischen Münder schloss, erinnert mich an die Gegenwart. Man fragt sich, wo der Aufschrei der kritischen Münder bleibt, die Deindustrialisierung Deutschlands betreffend. Industrie-, Landwirtschafts- und Handelsverbände, Gewerkschaften, Interessensvereinigungen, etc. Wo bleibt deren Aufschrei, wo der sichtbare Protest ? Wie profitieren die Scnweiger und Verschweiger ? Oder ist es simpel Feigheit ?
Georg Schmidt am 03.10.22, 07:57 Uhr
Die DDR ist "untergegangen" weil sie Pleite war.
Die UDSSR merkte, dass sie hier nichts mehr rausholen können.
Wäre das nicht gewesen, wäre es mit den Montagsdemonsstrationen schnell vorbei gewesen.
Am Ende haben sich auch Parteisoldaten wie Gauck daran beteiligt um in der neuen Konstellation wieder zu Einfluss zu kommen.
Wie wir derzeit merken ist dies bestens gelungen.
Solche Verdrehungen haben Tradition.
War es doch auch so bei Mahatma Gandhi hat diese Darstellung doch wie auch die DDR_Untergangsdarstellung dazu geführt, dass es Revolutionen mit friedlichen Mitteln gibt. Das schafft Sicherheit für die Regime.