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Selbstbewusst in den Endspurt: Vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegt die AfD fast überall vorn. Wird der Osten der Republik damit schon bald zum Trendsetter für das ganze Land?
Foto: imago/Karina HesslandSelbstbewusst in den Endspurt: Vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegt die AfD fast überall vorn. Wird der Osten der Republik damit schon bald zum Trendsetter für das ganze Land?

Avantgarde Ost

Während meinungsbildende Politiker und Journalisten aus dem Westen seit Jahren zumeist herablassend auf die östlichen Bundesländer schauen, könnten sich diese in diesem Spätsommer als Ausgangsort einer abermaligen Zeitenwende erweisen

Werner J. Patzelt
30.08.2024

Wer wird wohl für schuldig erklärt an den Wahlergebnissen vom kommenden Sonntag? Vorzüglich werden sie sein für AfD und BSW, demütigend für Union und Linke, niederschmetternd für SPD, Grüne und FDP. Vermutlich sind dann wieder schlicht „die Ossis“ schuld.

Anders als die Wessis, so die gängigen Erzählmuster, seien sie nicht an Demokratie gewöhnt und stimmten deshalb für die undemokratische AfD. Anders als Westdeutschen fehle es den Ossis auch an politischer Reife und Bildung; also gingen sie Populisten auf den Leim. Und anders als im Westen sei man im Osten provinziell und nicht weltoffen; deshalb wähle man eine ausländerfeindliche, rassistische Partei. Flächendeckend seien die „Jammerossis“ auch undankbar, obwohl man doch vom Westen her die heruntergewirtschafteten Ostländer so toll wieder aufgebaut habe – gar schöner noch, als es oft in den Altbundesländern aussieht. Dennoch bekämen die Ossis den Hals nicht voll und kehrten sich von genau jenen Parteien ab, denen doch alles Gute zu verdanken sei: der Union die Einheit, der SPD soziale Gerechtigkeit, den Grünen die Ahnung von einer fortschrittlichen Zukunft.

Obendrein seien die meisten nicht-linksgrün wählenden Ostdeutschen dumm. Eigentlich könnten sie wissen, dass sich bei starken Wahlergebnissen der AfD kaum mehr ein Ausländer in den Osten traut, weshalb die Beschäftigungslücken bei Wissenschaftlern, Ingenieuren, Ärzten, Pflegern und Handwerkern offenbleiben. Politisch blind murkse man so die gerade wieder hochgekommene Wirtschaft ab. Doch so sei man nun einmal im Osten, nämlich unfähig zum verantwortungsvollen Umgang mit jener Demokratie, die wir Westdeutschen den Ossis mitsamt unserem Geld großzügig beschert haben.

Was den Osten vom Westen tatsächlich unterscheidet
Viel näher am Tatsächlichen liegt ein nun über zwanzig Jahre alter Buchtitel. Er heißt „Die Ostdeutschen als Avantgarde“. Der Verfasser, Wolfgang Engler, macht darin am Fall der Arbeitswelt allgemein Wichtiges klar. Wo nämlich bestehende Strukturen schwach sind, dort werden sie besonders rasch und tiefreichend durch von außen wirkende Schocks oder durch Veränderungen bisheriger Rahmenbedingungen umgeformt.

Die Parteistrukturen der neuen Bundesländer sind nun aber nur auf den ersten Blick denen im Westen ähnlich. Vor allem gibt es wesentlich weniger Parteimitglieder, was jede Partei viel anfälliger für „innere Kündigungen“ politisch enttäuschter Landsleute macht. Und weil ausgedünnte Parteistrukturen nur wenig als Kommunikationsnetzwerke hinein in die Bürgerschaft leisten, sind im Osten die Parteien viel weniger als im Westen des Landes meinungsstabilisierende Strukturen. Das merkt man vor allem, wenn sich in der Bevölkerung Weltbilder, Interessen und Hinnahmebereitschaften verändern. Also kann ein Empörungsfunken, der im Westen rasch verglimmt, im Osten ganze Waldbrände entfachen.

An deren Glut wärmte sich einst die PDS. Die aber verlegte sich unter neuerlichen Wohlstandsbedingungen mehr noch als die SPD auf jene minderheitenorientierte „Identitätspolitik“, die bei den Grünen und der grüngeprägten Medienmehrheit lange Zeit Hochkonjunktur hatte. Die Rolle einer grundsätzlichen Protestpartei wurde somit frei. Zwar hätte es womöglich eine solche gar nicht mehr gebraucht. Es hätte jenes Deutschland, das dank Gerhard Schröders Reformen vom „kranken Mann“ Europas wieder zum Kraftwerk der Europäischen Union geworden war, den eingeschlagenen Kurs vernünftiger Politik durchaus beibehalten können – vor allem bei der Energiepolitik, der Migrationspolitik und der Sicherung von Frieden durch glaubwürdige Abschreckung. Obendrein wäre es in jüngster Zeit nicht nötig gewesen, die Fehler der niederländischen Drogenpolitik zu wiederholen oder die freie Wahl seines Geschlechts zum strafbewehrt hinzunehmenden Regelfall zu machen.

Die Wurzeln der Proteststimmung
Mit allen diesen Politiken stießen die jahrzehntelang tonangebenden Parteien viele Leute im Lande lustvoll vor den Kopf. Noch größere Entfremdungs- und Empörungswirkungen als im Westen erzielten sie dabei im Osten der Republik.

Das liegt, wie Umfragen zeigen, keineswegs an einer dort „mangelnden demokratischen Gesinnung“. Die Prinzipien der Demokratie werden im Osten nämlich ebenso geschätzt wie im Westen. Nur hält man dort deren Praxis für sehr unzulänglich. Nicht nur fühlt man sich – auch zahlenmäßig – von Wählern und Parteimitgliedern aus dem Westen dominiert. Sondern vor allem erlebt man immer wieder deren Unwillen, sich auf ostdeutsche Befindlichkeiten und Prioritäten wenigstens zuhörend und argumentierend einzulassen. Schon gar nicht klagen undankbare Jammerossis einfach über ihre eigenen, seit drei Jahrzehnten verbesserten Lebensverhältnisse. Doch sie wählen AfD und BSW aus großer Sorge darüber, dass eine rechthaberisch-selbstgefällig gewordene westdeutsche Politikerschaft das gemeinsame Land ebenso blindlings und unbelehrbar ruinieren wird, wie es einst die SED mit der DDR schaffte.

Nur wer diese Zusammenhänge begreift, kann sich einen stimmigen Reim auf die ostdeutschen Wahlergebnisse machen, oder findet die Ursachen dessen, warum inzwischen auch in den Westen ausstrahlt, was als Systemprotest im Osten begann. Doch viele Westdeutsche, bis weit hinein in Regierungskreise, wollen einfach keine „Ossi-Versteher“ sein, ja interessieren sich oft sogar ausdrücklich nicht dafür, wie in den neuen Bundesländern über Politik gedacht wird. Also weisen sie jeden Hinweis darauf zurück, dass es für ostdeutsche Politik- und Systemkritik auch gute Gründe geben könne.

Der Aufstieg der AfD
Solche selbstschädigende Arroganz westdeutsch-linksintellektueller Milieus sowie ihrer ostdeutschen Ableger im akademischen Bereich und im Bildungsbürgertum verfestigte sich schon vor zehn Jahren bei den bundesweiten Reaktionen auf die Dresdner PEGIDA-Demonstrationen. Wer da mitlief, müsse wohl völlig meschugge sein, denn niemals entstünden aus aufrichtiger Willkommenskultur irgendwelche Probleme bei der Integration von Zugewanderten; auch zu nennenswerten Gefährdungen der inneren Sicherheitslage oder zu Schwierigkeiten mit Muslimen werde es gewiss nicht kommen. Trotzdem geäußerte Migrationskritik war deshalb zu begreifen als Ausfluss von Rassismus und einer dumpfen Neigung zum Faschismus.

Also wurde Widerstand zur Pflicht. Die AfD, deren Anführer frühzeitig den Zuwachs ihrer Anhängerschaft aus bundesweiten PEGIDA-Sympathisanten bemerkten, war da ohnehin schon als neue, rechtsradikale Partei ausgemacht: Wer den Euro in Frage stelle, bezweifle den Wert und die Werte der EU; und darauf könnten wirklich nur Nationalisten kommen, im deutschen Fall also Rechtsextremisten. Das wirkte nun freilich auf viele klar rechtsstehende Deutsche wie eine massenmediale Werbung für die AfD. Alsbald ergänzten deren – immer wieder neue – Anführer ihr zunächst konservativ-wirtschaftsliberales Politikangebot um PEGIDA-Positionen.

Unterdessen verwilderte die Rhetorik der AfD und wandelte sich deren Mitgliedschaft durch Austritte von Gemäßigten und Eintritte von Verbalrevoluzzern so, dass Parteiführer mit Augenmaß wie Bernd Lucke oder Frauke Petry schon bald abgelöst oder vergrault wurden. Im Zuge dieser Radikalisierung als „Bewegungspartei“ büßte die AfD nicht etwa an Stimmen ein, sondern gewann – unterm Strich – sogar immer mehr Wähler dazu, und zwar nicht nur von früheren Nicht- oder Unionswählern, sondern auch von einstigen Sozialdemokraten oder Linken.

Der Irrweg zu den „Brandmauern“
Die anderen Parteien taten wenig, um dieser Entwicklung zu wehren. Die Union hatte durch ihre Eurozonen-, Energie- und Migrationspolitik überhaupt erst jene Repräsentationslücke rechts von sich entstehen lassen, in der nun die AfD aufwuchs. Und die Parteien links von der Union taten vieles, um durch „woke“ Politikvorhaben immer größere Teile der Bürgerschaft im Lande von sich abzustoßen: vom Schlechtmachen der ganzen deutschen Geschichte über den LGBTQ-Hype bis hin zum Schüren klimakleberischer Katastrophenhysterie.

Die Begleit- und Anschlussschäden dieser bewusst provozierenden Politik hoffte man durch die folgende Strategie einzuhegen: Die Union sollte auf allen Ebenen „Brandmauern“ gegen die AfD errichten, damit niemals die in der Bevölkerung inzwischen entstandene nicht-linksgrüne Mehrheit in parlamentarische Mehrheiten umgesetzt werden könne. Letztlich wurden so „Gefängnismauern“ für eine Union errichtet, innerhalb welcher sie – von der AfD immer weiter geschwächt – zum andauernden Regieren mit Sozialdemokraten oder Grünen gezwungen wurde und inzwischen in Kooperationsverhältnisse mit dem BSW gedrängt wird.

Weil eine solche Mitte-Links-Front gegen eine immer mehr von der AfD geprägte rechte Bevölkerungsmehrheit sich notwendigerweise zulasten der Union und zum Vorteil einer AfD auswirkt, die den Kontakt mit empörten Bürgern pflegt, sahen viele in der AfD diese Form einer sie ausgrenzenden Politik mit kaum verhohlener Genugtuung. Also unterbreitete man der Union jahrelang kaum Kooperationsangebote. Diese wären im Regelfall ohnehin selbstgerecht abgelehnt worden. Allenfalls auf kommunaler Ebene nahm man sie jahrelang an, was das Ausbleiben eines zumindest informellen Zusammenwirkens auf Landes- und Bundesebene umso unplausibler machte. Eines Tages würde man, so das Kalkül der AfD, dank törichter Gegnertaktik so stark sein, dass man die Union entweder an die eigene Seite oder – wie jetzt – in Anti-AfD-Bündnisse mit dem BSW zwingen könnte, welch letzteres zu weiteren Verlusten der Union führen werde.

Parteiensystem vor einer Zeitenwende
Auf diesen Kipppunkt treibt die Entwicklung nun schon lange hin. Wird er in Sachsen, Thüringen und – wenig später – auch in Brandenburg erreicht, so könnte es im deutschen Parteiensystem zu einer nicht rückholbaren Zeitenwende kommen. Die muss man weder erleichtert begrüßen noch sich voller Vorfreude wünschen. Immerhin zeigen die einschlägigen Beispiele deutscher Geschichte, dass sich anfängliche Hoffnungen auf eine bessere Politik dank eines Machtwechsels regelmäßig nicht erfüllten.

Ob es mit der AfD anders käme, lässt sich vorab nicht wirklich wissen. Sicher ist jetzt allein, dass eine solche Zeitenwende erneut durch politische Fehler samt lernunwilliger Arroganz herbeigeführt würde. Einmal mehr wäre dann in der Politik „gut gemeint“ nicht dasselbe gewesen wie „gut getan“.

Prof. Dr. Werner J. Patzelt war von 1991 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden und ist derzeit Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegiums in Brüssel. Zu seinen Werken gehören „CDU, AfD und noch mehr politische Torheiten. Neue Analysen, Interviews und Kommentare 2019–2024“ (Weltbuch 2024) sowie „Ungarn verstehen“ (Langen Müller 2023). wjpatzelt.de


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Kommentare

K. M. am 30.08.24, 05:32 Uhr

Es ist schon erstaunlich, dass unserer jetzige Elite immer von der Demokratie redet, diese aber nicht lebt. Der Kindergarten wäre der bessere Ort für sie, haben sie doch immer noch nicht gelernt, dass es der Osten bereits einmal geschafft hat, eine friedliche Revolution zu führen, um der SED, den zu zeigen, was der Bürger eigentlich möchte von einer Regierung. Jetzt ist es wieder so weit, und die Politik wird abgestraft, für ihre verborte Ideologie.

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