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Musikalisches Überraschungsei zu Ostern – Die Uraufführung von Johann Sebastian Bachs fehlender „Lukas-Passion“ in Hamburg
Bach war nicht anwesend. Die „Premiere“ eines seiner Werke konnte er nicht miterleben, fand sie doch gut 250 Jahre nach seinem Tod statt. Auch ohne ihn war das vorösterliche Konzert in Hamburg mit der neu geschaffenen Version seiner „Lukas-Passion“ ein umjubelter Erfolg.
Zwei Musiker aus München, Vater und Sohn, Christoph und Lorenz Eglhuber, haben dieses Werk als sogenanntes Pasticcio rekonstruiert. Hansjörg Albrecht hat als Dirigent und Cembalist die Aufführung mit dem Carl-Philipp-Emanuel (CPE)-Bach-Chor und dem Dresdner Festspielorchester geleitet. Die beiden Autoren der Rekonstruktion haben darin mitgewirkt: Christoph spielte die Theorbe, ein Saiteninstrument, und Lorenz das Krummhorn. Neben weiteren Gesangssolisten trat mit Daniel Johannsen einer der besten Interpreten der Evangelisten-Partie auf. Der schöne emotionale Klang, das große Engagement aller Musiker und die Perfektion der Darbietung – all das haben die Besucher der Hamburger Laeiszhalle, der älteren Schwester der Elbphilharmonie, an jenem Abend miterlebt. Das Wichtigste ist, dass es reiner Bach war.
Bereits in der Anfangsphase ist das Projekt sowohl auf großes Interesse als auch viel Zweifel gestoßen. Das Publikum hat eine ähnlich künstliche Kreation wie Beethovens zehnte Symphonie erwartet. Johann Sebastian Bach selbst hat kein Oratorium anhand des Lukas-Evangeliums geschrieben.
Zwar bewahrt die Staatsbibliothek in Berlin eine Partitur der „Lukas-Passion“ mit seiner Unterschrift auf, die 1745 in Leipzig aufgeführt wurde. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach hat sie im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) als Nummer 246 gelistet. Spätere Forschungen haben jedoch ergeben, dass sein Vater dieses Werk nicht komponiert hatte.
Sogenannte Pasticcios und Parodien hatten in der Musik des 18. Jahrhunderts eine neutrale Bedeutung und bestanden darin, verschiedene Werke eines oder mehrerer Komponisten oder Teile davon zusammenzustellen. So etwas praktizierte man bei Opern, Oratorien und Kantaten, insbesondere, wenn man unter Zeitdruck arbeitete und immer wieder neue Sachen schreiben musste. Die Komponisten verwendeten dabei ihre eigenen Werke oder auch die Stücke von Kollegen.
Johann Sebastian Bach nutzte die Kompositionen von Gottfried August Homilius (1714–1785). Er schuf viele Auftragswerke für die einmalige Aufführung, wie die Kantate BWV 214 zu Ehren der Gemahlin Augusts III. von Sachsen, Prinzessin Maria Josepha, Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen. Das Stück begann mit einem feierlichen Chorsatz „Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten“ mit diesen Instrumenten. Bach bearbeitete es später als Eingangschor des „Weihnachtsoratoriums“ und änderte den Text in „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!“ Hätte es zu seiner Zeit das Urheberrecht gegeben, hätten wir heute von Bach kein „Weihnachtsoratorium“.
Nach Urheberrecht kräht kein Hahn
Man kann den künstlerischen Wert solcher Stücke aus heutiger Sicht infrage stellen, weil jemand sie aus früheren eigenen Stücken oder aus „gestohlenen“ Kompositionen zusammengebastelt hat, anstatt etwas Neues zu komponieren. Aber im 18. Jahrhundert war dies weithin akzeptiert. Erst nach 1830 fiel diese Technik offiziell in Ungnade, aber Komponisten wie Rossini, Mahler, Bruckner und Richard Strauss verwendeten weiterhin Anleihen, innerhalb ihres eigenen Schaffens. Heute erstellt man Covers in der Popmusik nach dem gleichen Prinzip. Das beste Beispiel einer zeitgenössischen kreativen Kompilation ist das Musical „Mamma Mia“ nach Liedern von ABBA.
Die Eglhubers mussten nur die Rezitative für die „Lukas-Passion“ komponieren, weil es sie gar nicht gab. Alles andere – die Choräle, Arien und polyphonen Chorsätze – übernahmen sie aus Werken Bachs, hauptsächlich Kantaten. In einigen Teilen haben sie die Instrumentierung oder die Tonart geändert, manche auch gekürzt. Also haben die Autoren dieser Fassung so gearbeitet, wie der Komponist seinerseits vor 300 Jahren. Sie haben ebenfalls typisch barocke rhetorische Figuren verwendet. Schmerz und Klage stellt man durch die Chromatik und Suspirationes (Seufzen) wie im Eingangschor „Furcht und Zittern“ dar. Christoph Eglhuber imitiert auf der Theorbe das Krähen eines Hahns, nachdem Petrus den Jesus dreifach verleugnet hat. Wie in jeder Passion taucht hier eine „Kreuzfigur“ auf. Dies ist eine graphische Kombination der Noten, die dem längeren und dem kürzeren Balken des Kreuzes entspricht.
Wer mit den Werken Bachs vertraut ist, kann in dieser Passion einige Melodien wiedererkennen wie das Duett „Wir eilen“ aus der Kantate 78, die Auszüge aus „Das Wohltemperierte Klavier“, das „Alleluja“ aus der Motette „Lobet den Herrn“ oder die „Fantasie in g-Moll“. Nach dem Gespräch Jesu mit dem „guten“ Verbrecher, der neben ihm gekreuzigt hängt, erklingt der Eingangschor zur Kantate 118: „O Jesu Christ, mein Lebenslicht“.
Heute gibt es Versuche, mit der künstlichen Intelligenz die unvollendeten Werke zu ergänzen. Im Fall der „Lukas-Passion“ kommt eine menschliche, künstlerische Intelligenz und eine gute Kenntnis der Werke Bachs ins Spiel, gestützt durch die langjährige Aufführungspraxis. Der Verlauf des Konzerts und die Reaktion des Publikums beweisen, dass dieses Experiment gelungen ist. Mittlerweile gehört die Passion zum Repertoire des CPE-Bach-Chors Hamburg. Allerdings dauert sie etwas zu lange, nämlich gute drei Stunden. Die Autoren planen einige Kürzungen.
Der Radiosender NDR Kultur überträgt das Konzert am Karfreitag um 19 Uhr.