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Leitartikel

Baerbocks Amtsverweigerung

René Nehring
02.09.2022

Am vergangenen Wochenende gab die Bundesministerin des Auswärtigen der „Bild am Sonntag“ (BamS) ein Interview. Die diskutierten Themen waren der Ukrainekrieg, die möglichen Auswirkungen der hohen Energiepreise auf die Stimmung in Deutschland und die Situation in Mali. Vor allem Baerbocks Äußerungen zum Krieg im Osten verrieten ein erstaunliches Amtsverständnis.

So erklärte sie zum Stand in der Ukraine: „Bei allem Leid müssen wir aber auch festhalten: Die Wahnvorstellung des russischen Präsidenten, die Ukraine in kürzester Zeit einzunehmen, ist nicht aufgegangen. Der Mut der Ukrainer und auch die internationalen Waffenlieferungen haben dazu geführt, dass die russischen Soldaten ihre Paradeuniformen für den Sieg nicht auspacken konnten.“

Welchen Beitrag sie selbst dazu geleistet hat, dass der russische Präsident in seinen Zielen gestoppt wurde, erklärte Baerbock nicht. Da Minister für gewöhnlich jede noch so kleine Maßnahme „ihres Hauses“ herausstreichen, kann man davon ausgehen, dass der Außenministerin durchaus bewusst ist, dass es einen solchen Beitrag auch nicht gab.

Keine Lösung, aber eine Haltung

Was Frau Baerbock ebenfalls nicht verriet, war, ob und wie sie gedenkt, zumindest in Zukunft einen Beitrag dafür zu leisten, dass der Krieg – und damit das Leiden der Ukrainer – beendet wird. So sagte sie auf die „BamS“-Frage, wie denn ein Waffenstillstand erreicht werden könne: „Ganz einfach: indem Putin die Bombardierungen von unschuldigen Menschen endlich einstellt und seine Panzer abzieht. Den Befehl dazu könnte Putin jederzeit geben. Er greift die Ukraine an. Damit könnte er jede Minute aufhören und dem Leid ein Ende machen.“

Eine Idee davon, mit welchen konkreten Schritten und Mitteln sie den russischen Präsidenten, den sie gerade als skrupellosen Aggressor beschrieb, zu einer Änderung seiner Politik gegenüber der Ukraine bewegen könnte, vermittelte Baerbock nicht. Offenkundig ist sie mit sich selbst und ihrer Haltung zufrieden, dass sie Putins Agieren verurteilt – und den tapferen Ukrainern für deren Abwehrkampf die Daumen drückt.

Geradezu zynisch ist die Äußerung der Ministerin, dass die Ukrainer „auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung“ verteidigten. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hat unlängst in dieser Zeitung darauf verwiesen, dass, wenn dieses – auch von anderen Politikern gern gebrauchte – Argument tatsächlich gelte, es die Pflicht der westlichen Nationen wäre, ihre Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Glaubt Frau Baerbock tatsächlich, dass es die Aufgabe der jungen Frauen und Männer in Donezk, Saporischschja, Kramatorsk, Mykolajiw oder Cherson ist, ihre Knochen dafür hinzuhalten, dass die deutsche Außenministerin in Marokko, Dänemark, USA, Kanada, Griechenland, Türkei, Slowakei und Tschechien (um nur einige ihrer Reisestationen aus den letzten Wochen zu nennen) über Krieg und Frieden in der Ukraine sinnieren kann?

Allein in dieser Route scheint ein befremdliches Verständnis von Außenpolitik durch. Warum ist Frau Baerbock in den vergangenen Monaten nicht nach Moskau geflogen, um wenigstens zu versuchen, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu vermitteln? Oder nach China, Russlands wichtigstem Partner, ohne den es schwerer in der Lage wäre, die westlichen Sanktionen zu überstehen? Stattdessen versuchte Baerbock im Juli beim Treffen der Außenminister der G20-Staaten in Bali zunächst erfolglos, ihren russischen Kollegen Lawrow von der Tagung ausschließen zu lassen, und beklagte sich dann, dass dieser nicht mit ihr sprechen wollte.

Baerbock selbst bezeichnet ihren Ansatz gern als „wertegeleitete Außenpolitik“. Dabei geht es offenkundig weniger darum, anstehende Herausforderungen aktiv zu bewältigen, als vielmehr, diese auszusitzen – sowie in Interviews, Talkshows und auf internationalen Podien die „richtige Haltung“ zu zeigen.

Mit echter Außenpolitik hat das freilich nichts zu tun. Dort geht es weniger darum, anderen Akteuren vorzuschreiben, was sie über dieses und jenes Thema zu denken haben – sondern darum, die Krisen zu lösen, die der Lauf der Zeit vor die eigene Haustür spült. Man nennt so etwas Geschichte.

Apropos Geschichte: Dort finden sich reihenweise Beispiele dafür, wie absurd der Baerbocksche Ansatz ist. Hätte es 1973 den Vertrag von Paris über die Beendigung des Vietnamkriegs gegeben, wenn sich die Unterhändler Henry Kissinger für die USA und Lê ĐÚc Tho für Nordvietnam geweigert hätten, miteinander zu reden? Oder hätte es 1993 das Abkommen von Dayton über die Beendigung des Bosnien-Krieges gegeben, wenn nicht der US-Sonderbeauftragte Richard Holbrooke solange mit den Führern der verfeindeten Konfliktparteien Bosnien-Herzegowina (Alija Izetbegović), Kroatien (Franjo Tuđman) und Serbien (Slobodan Milošević) geredet hätte, bis diese zu einem Friedensschluss bereit waren? Und hätte es das Karfreitagsabkommen von 1998 gegeben, wenn sich die verfeindeten Bürgerkriegsparteien Nordirlands sowie die Regierungen Irlands und Großbritanniens geweigert hätten, aufeinander zuzugehen?

Die einzige Option des Westens

Es mag sein, dass es keinen Sinn hat, den Russen Verhandlungen anzubieten, solange sie auf dem Vormarsch sind. Doch gerade in diesen Tagen, in denen ihre Offensive im Süden der Ukraine offenkundig ins Stocken geraten ist, gäbe es wieder einmal (nach ihrem Scheitern vor Kiew) ein Zeitfenster für ein Angebot zu Gesprächen. Was dabei herauskommt, weiß vorher niemand. Aber sollte man nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit wenigstens versuchen, einen Frieden zu stiften? Angela Merkel vermochte es nach der russischen Annexion der Krim 2014 immerhin, im Minsker Protokoll zusammen mit Frankreich, der Ukraine und Russland den damaligen Konflikt einzufrieren.

Fakt ist: Ohne Gespräche mit der russischen Führung hat der Westen, da er vernünftigerweise nicht selbst in das Kampfgeschehen eingreifen will und da seine Sanktionspolitik bislang wenig erfolgreich war, im Konflikt um die Ukraine keine Handlungsoptionen! Derweil gehen die Kämpfe weiter, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Und damit auch das Sterben der ukrainischen Frauen, Männer und Kinder – sowie auch der jungen Russen, die ihren Kriegsdienst überwiegend zwangsweise verrichten.

Insofern ist Frau Baerbocks Außenpolitik, auch wenn sie selbst noch so sehr davon überzeugt sein sollte, keine „wertegeleitete“ Außenpolitik – sondern vielmehr die Abwesenheit von Politik. Den Preis für ihre Haltung zahlen andere.


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Kommentare

sitra achra am 07.09.22, 17:17 Uhr

Man sollte die Gute nicht unterschätzen. Sie hält eine wild entschlossene Heerschar von Kobolden im Stromnetz vor.
Die stürzen sich wie die Furien auf freche Kritiker ihrer weisen Entscheidungen. Obacht!

Axel Kopsch am 02.09.22, 20:23 Uhr

Baerbocks sogenannte Politik ist bellizistisch, kriegshetzerisch und trägt infantile Züge. Diese Politik entspricht eher einem fundamentalen Verrat ihres Amtseides, diese Politik wird Deutschland neues Unglück bringen.

Ulrich Bohl am 02.09.22, 09:42 Uhr

Bisher hatte ich geglaubt der aus dem Saarland stammende
Außenminister war der Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.
Ich muß erkennen, es war eine absolute Fehleinschätzung.
Dummheiten können reizend sein, Dummheit nicht.
Alberto Moravia

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