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Keine Frage: Die Grünen haben einen Lauf und bestimmen das politische Geschehen. Doch auf dem Weg zu einer echten Volkspartei und an die Macht lauern noch manche Fallen
Manchmal empfiehlt es sich, bei Umfragen ein wenig genauer hinzuschauen: Nach dem Wahldesaster der Koalitionsparteien im Herbst befragte das Meinungsforschungsinstitut Mentefactum die Wähler, ob sie angesichts der Schwäche der Bundesregierung für Neuwahlen wären. Dass dabei an die 70 Prozent der Unions- beziehungsweise SPD-Wähler „Nein danke“ sagten, um die von ihnen favorisierte Partei nicht noch weiter zu minimieren, ist verständlich. Unverständlich war dagegen die Absage der Grünen-Anhänger: Trotz der Aussicht auf mehr als doppelt so viele Stimmen und Mandate wie bei der Bundestagswahl 2014 und trotz der Möglichkeit, entsprechend mehr Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu haben, sprachen sich nur 24 Prozent der Grünen-Wähler für vorgezogene Neuwahlen aus.
Was steckt dahinter, dass die Partei endlich die Chance auf substantielles Mitregieren, auf grüne Politik bei Klima, Verkehrswende, Energieumbau und Ernährung hat – und die Anhänger dennoch klar zu einer Regierungsbeteiligung „nein“ sagen?
Die Wurzeln des „Hypes“
Manchmal sind die Wähler schlauer als die grünen Euphoriker, die Robert Habeck bereits als Bundeskanzler sehen. Denn noch vermutet die Mehrheit der Deutschen, dass der Grünen-Hype vor allem „glücklichen Umständen“ geschuldet ist: weil sie nahezu perfekt Personaldebatten unterbinden, geschickt die richtigen Stimmungsthemen setzen – und Wahlen scheinbar perfekt auf die grüne Agenda terminiert werden: So wählten 61 Prozent unter den Grünenwählern die Partei bei der Europawahl auch, weil sie einen größeren Einfluss beim Klimaschutz wollten. Sogar für 78 Prozent war Klimaschutz das beherrschende Thema beim Wahlentscheid. Das allerdings wird nicht für allezeit so bleiben.
Obwohl die Grünen in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag feiern, euphorisieren sie die Wähler noch immer auch damit, gar nicht wie eine „richtige Partei“ mit Delegiertenzwang, Parteitagsdisziplin, Spendenaffären und ähnlichem aufzutreten. Stattdessen inszenieren sie sich eher wie „En marche“, also als Interessenbündnis, das offen und durchlässig ist, die Jugend ernst nimmt, sie also nicht erst einmal auf die Ochsentour des Wahlplakate-Klebens schickt, wie das in den anderen traditionellen Parteien oft der Fall ist.
Gründe für den Aufschwung in den Umfragen gibt es viele. Der allerwichtigste: dass die Spitzen der Grünen häufig mit dem Gefühl „So möchte ich auch sein“ assoziiert werden. Bei Annegret Kramp-Karrenbauer und bei Norbert Walther-Borjans kommt dieser Gedanke nur wenigen. Ein weiterer Grund ist, dass sich die Grünen von heute – wie unter anderem schon Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Angela Merkel – am Leitgedanken „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“ orientieren; schon seit Langem dominieren bei ihnen die Realos. Im Gegenzug geht die nachhaltige Minimalisierung der SPD auf ihre nun schon mehrere Jahre andauernde „Lust auf Links“ zurück. Übernehmen Habeck, Baerbock und Co. somit die Rolle der Sozialdemokraten als führender Volkspartei auf der linken Seite des Parteienspektrums?
Fünf Fallen auf dem Weg zur Macht
So weit ist es noch nicht, dafür weisen die Grünen zu viele weiße Flecken auf der politischen Landkarte auf: Junge, Städter, Westdeutsche, gutverdienende und angenehm wohnende Akademiker erreichen sie in Scharen. Doch Landbewohner, die untere Mittelschicht, Arbeiter und Ostdeutsche eher defizitär. In der Nobelmetropole Hamburg können sie demnächst sogar vom Ersten Bürgermeister träumen, in Thüringen reichte es jedoch mit 5,2 Prozent soeben zum Einzug in den Landtag. Für eine echte „Volkspartei“ sind die Wähler der Grünen noch zu homogen.
Der Ausgang des Prozesses ist völlig offen. Denn noch sind die „Schönwetter“-Grünen nur so von Politfallen umgeben:
· 1. die Schönwetterfalle: Der „Bandwaggon-Effekt“ besagt, dass Wähler sich gern mit den Siegern sonnen – und sich verdrücken, sobald Gegenwind aufkommt. Was also, wenn plötzlich nicht mehr die Wohlfühlthemen Klima, Windkraft und Tierschutz, sondern Konjunktureinschnitte, steigende Arbeitslosigkeit, globale Sicherheit und wachsende Angst vor Gewalt auf der Straße die Agenda bestimmen? Wenn der Arbeitsmarkt ächzt und Klima eine eher untergeordnete Rolle spielt?
· 2. die Personalfalle: Was, wenn die Partei, die bereits in neun von 16 Länderparlamenten vertreten ist, aber nur über 20 Prozent der Mitglieder von CDU oder SPD verfügt, eine Unmenge wichtiger Staatsämter wie Minister, Staatssekretäre, Behördenleiter besetzen soll?
· 3. die Verantwortungsfalle: Wären jetzt Neuwahlen, würden die erstarkten Grünen in die Verantwortungsfalle geraten: Die Wünsche der Opposition würden auf die raue Wirklichkeit treffen, die Gutmenschpolitik auf die harten Realitäten des Alltags, und anstelle der „reinen Lehre“ müssten die Parteioberen laufend Kompromisse verkünden. Die Notwendigkeit einer Regierung, auf die „normative Kraft des Faktischen“ Rücksicht zu nehmen, bedeutet nämlich sehr schnell: „kleiner gemeinsamer Nenner – großer innerparteilicher Ärger“.
· 4. die Mauselochfalle: Es ist strategisch beeindruckend, wie sich die Grünen mit ihrem neue Spitzenpersonal zur „Realo-Partei“ entwickelt und dabei vornehmlich von Union und SPD hinzugewonnen haben. Nur noch jeder zehnte Grün-Anhänger glaubt derzeit, dass ein Kurs weiter links der erfolgreichere wäre. Doch sollten die „Realos“ nicht meinen, die „Fundis“ wären abgetaucht. Je größer der Erfolg, desto eher fordern die Hofreiters, Roths und Trittins wieder Beachtung.
· 5. die Altruismusfalle: Grüne Wähler verfügen über Geld, gute Posten und wohnen nahe Bio-Läden im aufgehübschten Kiez. Dort, wo man sich Altruismus leisten kann. Was aber mit denjenigen, die um ihr Auskommen kämpfen müssen? Für zu große Wählergruppen haben die Grünen keine Antwort. Insofern kann gerade die im Zuge der Klimadiskussion wieder stärker gewordene Wahrnehmung als „Ein-Thema-Partei“ die Grünen schnell wieder entzaubern.
Aufs und Abs
Die Geschichte der Grünen ist geprägt von vielfältigen „Ups and Downs“: Zwischen den Bundestagswahlen und nach emotionalen Ereignissen wie Fukushima 2011 erreichen sie regelmäßig hohe Umfragewerte, stürzen dann aber – wie 2013, als sich die Deutschen einer ungeklärten Energiewende gegenüber sahen – wieder ab. Andere Stimmungskiller waren radikale Forderungen wie die nach 5 DM für einen Liter Benzin, die allzu große Toleranz gegenüber Pädophilen oder die Bevormundung der Bürger in Form des „Veggie-Day“.
Regieren heißt jedoch, nicht um die Realität herumzukommen: So wird im Kretschmann-Ländle der freundliche Umgang des grünen Ministerpräsidenten mit der Autoindustrie von vielen Fundis scharf kritisiert. In NRW wiederum scheiterten die Grünen dramatisch mit ihrer Schulpolitik und wurden abgewählt. Der Realitätsdruck ökonomischer Verantwortung wird umso stärker, wie das tägliche Schnitzel und die Erreichbarkeit der Innenstädte per PKW infrage gestellt wird. Gefährlich wird es jedoch, wenn im politischen Alltag politische Überzeugung zum Kuhhandel um den Minimalkonsens wird. Dann nämlich werden „Kompromiss-Grüne“ an der Basis schnell zu Verrätern erklärt.
Noch immer gilt der wichtigste politische Lehrsatz: „What goes up must come down“ (was hoch geht, muss auch wieder herunterkommen): Politische Zuneigung ist immer Wellenbewegungen ausgesetzt. Das sollten auch die Grünen bedenken. Noch können sie Übermut verbergen. Solange das anhält, könnten sie schon wegen ihres Politstils „Politik vor Politiker“ zur staatsmitbestimmenden Kraft in Deutschland werden.
Die Schwäche der Anderen
Denn ihre wirkliche Leistung haben die Grünen längst vollbracht: die „Vergrünung“ der politischen Agenda. Die Ökopartei ist zum absoluten Themensetter der politischen Landschaft geworden: Frauenquote, Abschaffung der Wehrpflicht, Verkehrswende, Klima, Agrarwende. Es ist bemerkenswert, wie Schwarz-Rot nur noch juristischer Sachverwalter der Regierungsgeschäfte ist, die längst von den Grünen bestimmt werden. Die gegenwärtige Bundesregierung schafft es einfach nicht, sich ein Themenprofil zu geben. Dadurch sind Union und SPD Erfüllungsgehilfen grüner Politik geworden!
Was auch daran liegt, dass die Grünen ihre Themen mit einer wesentlich größeren Motivation angehen. Das ist auch der Grund dafür, dass das in der Ära Merkel betriebene CDU-Konzept, den politischen Gegner mit dem Prinzip der „asymmetrischen Demobilisierung“ kleinzuhalten, im Zuge der „Sozialdemokratisierung“ der Union zwar bei der SPD geklappt hat, nicht aber bei der „Vergrünung“ der Union. Da folgen die gutgebildeten Ökobewussten dann doch lieber dem Original.
Sind die Grünen nun eine Kanzlerpartei? Derzeit sind die Hürden noch zu hoch, als dass sie selbst von intelligenten, kommunikativ und psychologisch geschickt agierenden Protagonisten dauerhaft übersprungen werden können. Realistischer wäre bundesweit die Rolle eines grünen Korrektivs gegenüber der Wirtschafts- und Sicherheits-Union. Wenn Bündnis 90/Die Grünen der CDU sozial-ökologische Grenzen aufzeigen könnten, wäre das schon mal was. Zumindest etwas, was eine große Mehrheit der Deutschen begrüßen und unseren Parteienfrust minimieren würde.
Klaus-Peter Schöppner ist seit 2014 Geschäftsführender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts Mentefactum. Von 1990 bis 2013 war er Geschäftsführer von TNS Emnid. mentefactum.com