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„Big Brother“ lässt vielfach grüßen

Zehn auf einen Schlag – Nach Ende des Urheberrechts für „1984“ gibt es eine Flut von Neuübersetzungen

Harald Tews
18.02.2021

Zählen wir einmal nach: Manesse, Rowohlt, Deutscher Taschenbuchverlag (dtv), Suhrkamp (Insel), Reclam, S. Fischer, Anaconda und Nikol. Gleich acht Buchverlage haben im Januar und Februar Neuübersetzungen von George Orwells dystopischem Zukunftsroman „1984“ herausgebracht. Rechnet man noch die gebundene Reclam-Ausgabe, die zusätzlich zur Taschenbuchversion der gelben Universal-Bibliothek für den Mai angekündigt ist, sowie eine aufwendig illustrierte Ausgabe hinzu, die bei S. Fischer im März erscheinen soll, so kommt man sogar auf insgesamt zehn „1984“-Ausgaben, die praktisch auf einen Schlag auf den deutschen Buchmarkt geschleudert werden.

Was ist da los? Dass zu einem Werk nahezu zeitgleich gleich acht Neuübersetzungen angeboten werden und sich Verlage damit gegenseitig Konkurrenz machen, ist ein wohl einmaliges Ereignis in der deutschen Verlagsgeschichte. Es erklärt sich nur zum Teil damit, dass der Roman 70 Jahre nach dem Tod des Autors gemeinfrei geworden ist. Bis zuletzt lagen zwei deutsche Übersetzungen vor, mit denen man gut leben konnte. Beide hat Ullstein herausgebracht.
Der Berliner Verlag war zuletzt der Rechteinhaber für die deutsche Übersetzung. Gut möglich, dass Kurt Wagenseils Version von 1950 und die von Michael Walter im Jubiläumsjahr 1984 erschienene Übertragung etwas Patina angesetzt haben. Man schmeckte noch den Kalten Krieg heraus, was aber nicht das Schlechteste war. Zeitgeschichtlich war man damit immerhin dicht am englischen Original von 1949 dran.

Wettkampf der Übersetzer
Doch nach dem Ende des Urheberrechts stürzen sich die Verlage wie die Geier auf Orwells Roman. Das kam so plötzlich, dass selbst Horst Lauinger, der Leiter des Manesse Verlags, davon überrascht ist. „Wir hatten keine Ahnung vom Ausmaß der Konkurrenz“, sagte er gegenüber der PAZ, „als wir im Sommer 2020 unsere Ausgaben ankündigten, waren wir noch die Einzigen, die beides – ,1984' und ,Farm der Tiere' – neu übersetzt herausbringen wollten. Aber ein Großklassiker des
20. Jahrhunderts wie ,1984' musste einfach bei Manesse erscheinen.“ Dabei gibt es sogar Konkurrenz im eigenen Haus.

Der Anaconda Verlag, der wie Manesse zur deutschen Verlagsgruppe Penguin Random House gehört, hat eigenständige Übersetzungen sowohl von „1984“ als auch der Sozialismussatire „Farm der Tiere“ herausgebracht. Dazu hat man offenbar eigens die Verlagspolitik geändert. Anaconda war ebenso wie der Hamburger Nikol Verlag bislang dafür bekannt, preisgünstige Sonderausgaben für den Modernen Antiquariatshandel herzustellen. Jetzt bieten beide Billiganbieter für Kampfpreise zwischen knapp 5 und 8 Euro neue Übersetzungen von „1984“ und „Farm der Tiere“ in gebundenen Ausgaben im Buchhandel an.

Dass sich das Geschäft mit Orwell lohnt, bestätigt Verlagsleiter Lauinger. Nachdem seine Manesse-Ausgabe von „1984“ in Schweizer Bestsellerlisten auf Platz 7 auftauchte, hat er nur einen Monat nach der Erstauflage eine Neuauflage in Auftrag gegeben. Die Pandemie wird ihren Teil dazu beigetragen haben: Im Lockdown haben die Leute mehr Zeit zum Lesen. Und da das Buch seit einem halben Jahrhundert fester Bestandteil des Schulunterrichts ist, dürfte der Verkauf auch zukünftig weiter gesichert sein.

Ein Restrisiko bleibt wegen der großen Konkurrenz dennoch. Die Übersetzer-, Produktions- und Druckkosten müssen erst einmal erwirtschaftet werden. Am Ende könnte auch das beispiellose Wettrennen um die beste Übersetzung entscheidend sein. Mit Gisbert Haefs, Frank Heibert oder Eike Schönfeld haben sich die großen Literaturverlage die Platzhirsche unter den Übersetzern gesichert. Eine Erfolgsgarantie bieten sie nicht.

Um es gleich zu sagen: Die Nummer 1 unter den Übertragungen lässt sich kaum ermitteln. Da „Nineteen Eighty-Four“ sprachlich nicht zum Anspruchsvollsten zählt, was die englische Literatur zu bieten hat, stellt eine Übersetzung des Werks keine große Herausforderung dar. Jede der acht Übertragungen hat ihre eigenen Stärken und Schwächen.

Dass man aber ausgerechnet Orwell, der im Romananhang die „Prinzipien des Neusprechs“ im totalitären System aufführt, sprachlich säubert, ist allerdings bemerkenswert. Aus Orwells „negroes“ haben zum Beispiel Rowohlt und Reclam zeitgemäß „Schwarze“ gemacht. Und wo „negroid lips“ meist mit „negroiden Lippen“ übersetzt wurde, heißt es bei dtv über einen Karikaturisten: „Rutherford war ein Riese mit einer Mähne von fettigem, grauem Haar, sein Gesicht war ein faltiger Sack mit wulstigen Lippen.“

Robert Habecks Doppeldenk
Damit kann man leben. Und das spielt Robert Habeck in die Karten. Der Co-Vorsitzende der Grünen hat für die dtv-Ausgabe ein Vorwort geschrieben, in dem er mit Blick auf die AfD mahnt: „Diejenigen, die die Demokratie zu einer Volksherrschaft umbauen wollen, beschimpfen sie als Diktatur und Fassadendemokratie.“ Mit der Umdeutung und Neuinterpretation des Begriffs Demokratie, der übersetzt nichts anderes als Volksherrschaft meint (siehe auch PAZ vom 5. Februar, Seite 8), bedient sich Habeck genau des dialektischen „Doppeldenks“ bei Orwell: Demokratie ist Diktatur. Sein Demokratiebegriff scheint sich demnach kaum von dem im Staat Ozeanien zu unterscheiden, in dem im Roman eine kleine Machtelite das Volk diktatorisch beherrscht.

Für Habeck ist klar, wohin die Reise geht: Abwehr jeglichen Querdenkens, darin liege die Aktualität von „1984“. Damit wird der Leser praktisch gleich zu Beginn in Richtung einer links-grünen Leserhaltung manipuliert und ähnlich „gehirngewaschen“ wie der Dissident und Protagonist Winston Smith im Roman.

Hätte ein konservativer Vordenker ein Vorwort schreiben dürfen, hätte die Manipulation nicht weniger fatal ausfallen können. Bestünde die Aktualität von „1984“ dann nicht umgekehrt darin, dass alles auf eine Ökodiktatur hinausläuft mit Meinungsterror und einem propagandistisch verordneten Neusprech, dem Gendersprech mit Binnensternen und unnatürlichen Sprechpausen? Und kommt es gegenwärtig nicht von ungefähr, dass sich viele Mitbürger in den östlichen Bundesländern von einer regierungsfreundlichen öffentlichen Berichterstattung wie an DDR-Zeiten erinnert fühlen? Der „Große Bruder“, Orwells sozialistischer „Big Brother“, lässt auch hierzulande wieder grüßen.

„1984“ kann man politisch tatsächlich in beide Richtungen lesen. Auch als Warnung vor dem globalisierten Überwachungsstaat des 21. Jahrhunderts, in dem eine Handvoll Internetriesen die Welt im Griff haben, lässt sich das Buch verstehen. Der Roman scheint so zeitlos aktuell zu sein, dass damit die vielen Übersetzungen tatsächlich zu rechtfertigen sind. Doch sie werten so einen Klassiker des 20. Jahrhunderts zum Nachteil anderer großer utopischer Literatur auf. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“, Anthony Burgess' „Uhrwerk Orange“ oder die Science-Fiction-Werke Philip K. Dicks stehen mindestens auf Augenhöhe mit Orwells Roman.

Die Neuausgaben im Überblick:

George Orwell: „1984“, übersetzt von Gisbert Haefs, mit einem Nachwort von Mirko Bonné, Manesse, München 2021, gebunden, 448 Seiten, 22 Euro

George Orwell: „1984“, übersetzt von Lutz-W. Wolff, mit einem Vorwort von Robert Habeck, dtv, München 2021, gebunden,
416 Seiten, 24 Euro

George Orwell: „1984“, übersetzt von Eike Schönfeld, Insel Verlag, Berlin 2021, gebunden, 384 Seiten, 20 Euro

George Orwell: „1984“, übersetzt von Karsten Singelmann, Rowohlt 2021, Hamburg 2021, Taschenbuch, 416 Seiten, 10 Euro

Reclam Verlag, Ditzingen 2021, neu übersetzt von Holger Hanowell, Taschenbuch, 440 Seiten, 8 Euro; eine gebundene Ausgabe mit 370 Seiten erscheint am 7. Mai für 10 Euro

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2021, neu übersetzt von Frank Heibert, Taschenbuch, 336 Seiten, 12 Euro (ab 24. Februar); eine von Reinhard Kleist illustrierte Ausgabe mit 432 gebundenen Seiten erscheint am 24. März, 98 Euro

Anaconda Verlag, München 2021, neu übersetzt von Jan Strümpel, gebunden, 400 Seiten, 6,95 Euro

Nikol Verlag, Hamburg 2021, neu übersetzt von Simone Fischer, gebunden, 392 Seiten, 7,95 Euro

 


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Kommentare

Klaus Mueller am 22.02.21, 19:06 Uhr

"Hätte ein konservativer Vordenker ein Vorwort schreiben dürfen, hätte ..."

"Hätte, hätte". Hat aber nicht.

Siegfried Hermann am 19.02.21, 11:39 Uhr

Das hat schon was.
was Orwell schärftens verurteilt hat, pflegen nun einige, polidiesch korräkte, Verlage mit seinen Büchern.
Ab in die Tonne!

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