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Breaking News für Deutschland

Die auflagenstärkste Zeitung legt sich einen Fernsehsender zu. „Bild TV“ dürfte mit Live-Formaten unsere Sehgewohnheiten weiter verändern und die regierungsfrommen Öffentlich-Rechtlichen mit kritischem Journalismus vor sich her treiben

Holger Fuß
22.08.2021

Als die Hochwasser im Westen und Süden des Landes durch Städte und Dörfer wüteten, als mehr als 170 Menschen ihr Leben verloren, Dutzende vermisst waren und noch mehr ihr gesamtes Hab und Gut verloren – da schlug auch die Stunde von „Bild Live“, dem Bewegtbildkanal im Online-Angebot der Boulevard-Zeitung.

Während sich die öffentlich-rechtlichen Sender WDR und SWR in der Schreckensnacht vom 14. auf den 15. Juli zunächst schwer taten, die behördlichen Warnmeldungen aufmerksamkeitswirksam im Programm zu platzieren, scheute Springers Flaggschiff „Bild“ für sein Videoprojekt keinen Aufwand, mietete einen Hubschrauber an, schickte Reporter in die verwüsteten Regionen und sendete ohne Unterlass. „Bild“-Journalisten kletterten durch die Trümmerlandschaften, drangen in abgeschnittene Ortschaften vor, entdeckten nach Tagen ausharrende Überlebende, stapften durch überflutete Wohnungen und sprachen vor der Kamera mit Ruinenbewohnern am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Gut möglich, dass sich im Nachhinein das Sendematerial von „Bild“ als umfangreichste Chronik dieser Flutkatastrophe erweisen wird. Für „Bild Live“ war es eine Art Generalprobe für den bevorstehenden Start von Deutschlands neuem Fernsehkanal: „Bild TV“.

Leitmedium der Republik

Am 22. August geht der Springer Verlag mit seiner Boulevard-Marke auf Sendung und ist dann über Kabel, Satellit und Internet empfangbar. Die „Neue Zürcher Zeitung“ spricht von einem „der ehrgeizigsten Projekte der jüngeren deutschen Mediengeschichte“. Es ist Springers zweiter TV-Kanal – der Verlag hat schon N24 übernommen und auf „Welt“ umgetauft.

Auch wenn, wie beinahe überall, bei „Bild“ die Auflage kontinuierlich sinkt, ist sie noch immer das Printmedium mit der größten Reichweite und dem stärksten Einfluss. Galt der „Spiegel“ jahrzehntelang als das meistzitierte Leitmedium der Republik, so hat die „Bild“-Zeitung dem Nachrichtenmagazin längst den Rang abgelaufen. Doch da die Auflage schmilzt, sinken die Erlöse. Also gilt es, neue Einnahmequellen zu erschließen.

Mit „Bild TV“ will sein Programmchef Claus Strunz einen schnellen Vertriebsweg schaffen, „der uns in die Lage versetzt, Geld zu verdienen, wo wir es bis jetzt nicht tun“. Und „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt hält es für „nicht hinnehmbar, dass die größte Medienmarke in Deutschland vom größten Werbekuchen des Landes nichts hat“. Dieser „Werbekuchen“ (Gesamtvolumen 2019: 32,6 Milliarden Euro) wird zu 48 Prozent ins Fernsehen verteilt und nur zu zwölf Prozent ins Internet. Kein Wunder, dass die „Bild Live“-Macher lukrative Wachstumschancen für ihre Werbeeinblendungen erwarten, die bislang aus Spots von Bierbrauern, Brokern und Mineralwasserabfüllern bestehen.

Vakante Nische

Und die Nische eines Boulevard-Senders ist in Deutschland bislang noch vakant. Entsprechend aufbruchsfreudig sollen 2021 an die 22 Millionen Euro in das Projekt investiert und rund 70 neue Mitarbeiter zusätzlich eingestellt werden. Was Boulevard-Fernsehen bedeuten kann, hat „Bild Live“ bislang aber nicht nur anlässlich der Hochwasser-Tragödie vorgeführt.

Als am vergangenen Sonntag die Taliban Kabul einnahmen und in Afghanistan ein historischer Machtwechsel stattfand, war „Bild Live“ über Stunden hinweg auf Sendung, „Bild“-Chef Reichelt und sein Vize Paul Ronzheimer, beides erfahrene Reporter in Krisengebieten, analysierten die Lage, eingespielte Politiker und Experten lieferten weitere Informationen. In der ARD lief zeitgleich ein Unterhaltungsfilm und im ZDF nach dem musikalischen Fernsehgarten eine Sport-Übertragung des Sommer-Biathlon und Triathlon. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet die Trivialmarke „Bild“ den Ernst der Weltlage als Erster sendet.

Was der deutschen Fernsehlandschaft fehlt, ist ein Breaking News-Sender, und „Bild“ rüstet sich, um diese Marktlücke zu füllen. Für nachrichtliche Ausnahmesituationen mussten bei den Öffentlich-Rechtlichen bislang ein „ARD-Brennpunkt“ und „ZDF Spezial“ ausreichen, die oft nur eine Viertelstunde dauern. „Bild“ will jetzt auch als Television eine Art „Talk of the Nation“ bieten – aggressiver, regierungskritischer und schneller als es bei den Öffentlich-Rechtlichen in der Regel denkbar ist. Als der CDU-Bundesvorstand in der Nacht zum 20. April fast sieben Stunden lang um Armin Laschet als Kanzlerkandidaten gerungen hat, sendete „Bild Live“ bis weit nach Mitternacht und „Bild“-Vize Ronzheimer moderierte mit seinem Smartphone in der Hand, auf das die Informanten aus dem Parteigremium laufend den Zwischenstand durchstachen.

Zurück zu engagiertem Journalismus

Chefredakteur Reichelt nennt sowas lakonisch: „Eine der größten Marktlücken im deutschen Journalismus ist derzeit Journalismus: hingehen, unideologisch schauen, was passiert, und darüber berichten.“ Damit positioniert er „Bild“ entschieden gegen den Haltungsjournalismus, den sein WDR-Gegenpart und „Monitor“-Leiter Georg Restle als Leitbild ausgerufen hat: „Ein werteorientierter Journalismus also, statt blinder Neutralität“.

Dass diese Werteorientiertheit nur ein Code-Wort für tendenziöse Obrigkeitsbeflissenheit und Regierungsnähe ist und mit „blinder Neutralität“ vom linksliberalen Mainstream abweichende Meinungen denunziert werden, fällt immer mehr Zuschauern unangenehm auf. Laut „ZDF Politbarometer“ vom Juli 2021 schwankt das Misstrauen in die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen zwischen 42 Prozent (Januar 2016) und 26 Prozent (Oktober 2020), gegenwärtig sind 30 Prozent unzufrieden. Die Medienwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig von der Universität Passau haben im Vorjahr öffentlich-rechtlichen Sondersendungen zur Corona-Krise vorgeworfen, eine „Verengung der Welt“ zu betreiben und ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario zu vermitteln.

„... die bessere ,Anne Will'“

Entsprechend wohltuend kritisch erscheinen die „Bild“-Interviewer in der Talkshow „Die richtigen Fragen“, die am Sonntagabend zeitgleich zu „Anne Will“ im Ersten in Stellung gebracht wird. Bei „Bild“ fehlt die ungenierte Einseitigkeit der ARD-Polittalkerin mit ihrer gegenderten Schnappatmung und staatstragend servilen Fragetechnik, die im Gespräch mit der damals frischgekürten grünen Kanzlerkandidatin Baerbock ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Für die „Neue Zürcher Zeitung“ ist der „Bild“-Talk „an guten Abenden schon heute die bessere ,Anne Will'“. Einer der Moderatoren ist Kai Weise, der zuvor die Redaktion des ARD-Politik-Talks „Günther Jauch“ leitete und heute vorführt, wie man richtig gute Gespräche führt, ohne Politiker mit Samthandschuhen anzufassen.

Überhaupt geht es bei „Bild Live“ rustikal zur Sache. Wer dort auftritt, muss sich schon mal gefallen lassen, von den Fragestellern gegrillt zu werden. Legendär ist die Auseinandersetzung zwischen Moderator Ronzheimer und dem Europa-Parlamentarier Peter Liese (CDU) über die Impfstoff-Beschaffung: „Haben Sie sie noch alle?“, bellte Liese seinen Gesprächspartner an. Dabei unterstellt „Bild“-Chef Reichelt seinen Sendungen „in so politisierten Zeiten, wie wir sie haben, einen durchaus entspannenden Effekt“. Der erstaunten „Süddeutschen Zeitung“ erläuterte er: „Die Leute sehen: Unsere Politiker sind da und stellen sich den Fragen!“

Reichelt will die Arbeit seiner Mitarbeiter von Grund auf revolutionieren. Ohnehin sind seine Leute darin erprobt, nah dran am Geschehen zu sein. Nun soll eine „Live-Reporter-Mentalität“ etabliert werden, um die neue Haus-Parole „TV first“ in die Tat umzusetzen. „Bild“-Reporter müssen nicht mehr nur die tägliche Print-Ausgabe bestücken, sondern darüber hinaus jederzeit mit der Handykamera filmen, Aufsager mit dem eigenen Smartphone improvisieren und sich von den Kollegen im Studio zu den Ereignissen vor Ort befragen lassen. Schlimmer noch: Die Sendetage sollen mit einer frühmorgendlichen Redaktionskonferenz um 6 Uhr beginnen.

Clips und ätzende Schlagzeilen

Auf Youtube, einem der Abspielkanäle im Internet, lässt sich das Angebot auf jedem Smartphone und Computer nutzen: Das Format „Bild-Doku“ etwa über die „Die Isis-Braut“ Derya, eine Rückkehrerin aus Syrien nach Deutschland: „Hinrichten war normal, Hand abschneiden war normal.“ Über die „Clans von Berlin“, über den „Schneekönig – Koks, Kartelle, Knast“, über „Blinder Hass: Der Halle-Attentäter“. In Kurz-Videos kommentiert „Bild“-Chef Reichelt die Corona-Regeln: „Es ist der Weg in den Endlos-Lockdown“, sein Vize Paul Ronzheimer flankiert: „Die Regierung ist im Dauer-Alarm-Modus.“ Dazwischen Clips über Verkehrsunfälle oder Live-Streams über Lokführer-Streik und Afghanistan: „Taliban erobern Kundus: Sind unsere Soldaten in Afghanistan umsonst gestorben?“

„Bild TV“ wird als digitales Angebot außerdem zunehmend aus „user generated content“ bestehen, aus Inhalten also, die von den Nutzern geliefert werden. Mehr als die Hälfte des Programms wird in ein paar Jahren aus User-Hand stammen. Reichelt will damit 40 Millionen Menschen erreichen, rechnerisch halb Deutschland.

Natürlich werden gegen ein solches Rasanz-Fernsehen auch Einwände laut. So gibt die „Süddeutsche Zeitung“ zu Protokoll: „Denkbar ist, dass die stetige Unruhe und die Öffentlichkeit auch kleiner Zwischenschritte politischer Verhandlungen vieles beeinträchtigt.“ Das Münchner Blatt sieht „die Qualität dieser Politik selbst beeinträchtigt, weil durch die Begleitung in Echtzeit der Fokus weiter verschoben wird vom tatsächlichen Ereignis auf den Prozess seiner Entstehung“. Doch selbst wenn es so wäre – ist die Begleitung des Prozesses politischer Entscheidungen nicht ein wesentlicher Bestandteil politischer Willensbildung?

Das Boulevardblatt, dass Verleger Axel Springer vor bald 70 Jahren erfand, gilt für seine Gegner als Zentralorgan der Niedertracht. Sich selbst verstand die Redaktion stets als „Sprachrohr des kleinen Mannes“. Nun ist die Flüstertüte in der Welt des digitalen bewegten Bildes angekommen.

Holger Fuß schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
www.m-vg.de


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Kommentare

s. Braun am 23.08.21, 04:40 Uhr

Es wird allerhöchste Zeit, daß es einen Sender gibt, der neutral und objektiv berichtet. Da werden ARD und ZDF ganz schön zu kauen haben ! Die Schlagzeilen von BILD haben sich ja im Laufe der Jahrzente auch geändert und sind seriöser geworden; sowas wie : "Mann dreht seine Frau durch den Fleischwolf - BILD spricht als Erste mit der Frikadelle ! " liest man ja auch nicht mehr ......

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