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Schrieb ein halbes Jahrtausend nach der Moralsatire des Humanisten Sebastian Brant ein neues „Narrenschiff“: Der aus Heinzendorf in Oberschlesien stammende Schriftsteller Christoph Hein
Bild: imago/pictureteamSchrieb ein halbes Jahrtausend nach der Moralsatire des Humanisten Sebastian Brant ein neues „Narrenschiff“: Der aus Heinzendorf in Oberschlesien stammende Schriftsteller Christoph Hein

Kunst

Chronist eines Untergangs

Die DDR als „Narrenschiff“ – Christoph Hein präsentiert im Alter von 80 Jahren seinen mit 750 Seiten bislang umfangreichsten Roman

Klaus-Rüdiger Mai
02.05.2025

Ohne die beiden Schriftsteller Christoph Hein und Uwe Tellkamp wäre das, was man noch deutsche Literatur nennt, eine melancholische Verlustanzeige. Obwohl ihr künstlerisches Temperament unterschiedlicher nicht sein könnte, eint sie auf dem zweiten Blick mehr, als man zu meinen wagt.

Es ist kein Zufall, dass die bedeutendsten deutschen Schriftsteller ihren Weg in der DDR begangen, dass beide sich als Chronisten sehen, in Tellkamps „Schlaf in den Uhren“ ist der Chronist, Fabian Hoffmann, der an einer Chronik zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit arbeitet, auch Figur des großen, aus politischen Gründen unterschätzten Romans, während für Hein die Chronistenposition dem Erzähler eingeschrieben ist.

Hein, der wesentlich Ältere, gehörte bereits in der DDR zu den außerordentlichen Schriftstellern – und nichts hat seine Bedeutung geschmälert, weil Heins Texte, so genau sie auch waren und sind, immer über das mitteldeutsche und nun auch westdeutsche Biedermeier hinausweisen, welthaltig sind, die Symbiose mit der Geschichte im Sinne Walter Benjamins eingingen. Zuweilen wirkt Heins Prosa schmucklos, doch um Schmuck geht es Hein nicht, sondern um die genaue, unbeirrbare Erzählung dessen, was sich zuträgt und was auf eine so unaufdringliche, wie gleichzeitig nicht abweisbare Art uns alle angeht. Horaz nannte es: de te fabula narratur: die Geschichte handelt von dir.

Den ersten großen Erfolg des vom Theater herkommenden Autors in der Belletristik bescherte ihm die Novelle „Der fremde Freund“, die 1982 in Berlin beim Aufbau Verlag herauskam und bald darauf in der Bundesrepublik unter dem Titel „Drachenblut“ erschien. Während Heins Novelle über die Ärztin Claudia gern als Darstellung der Vereinsamung und Entfremdung der spätsozialistischen Verhältnisse in der DDR gelesen wurde, hatte Hein die Veränderung des menschlichen Lebens als Teil der Zivilisationsgeschichte der Konsumgesellschaften gestalten wollen, die Auflösung der Bindungen, die Reduktion auf den Spaßfaktor, die Entfremdung und Vereinzelung, die große zu verdrängende Einsamkeit, die unter Selbstverwirklichung zu firmieren hatte, die zeitliche Entgrenzung des Alltags, einer Ewigkeit des Gleichmaßes, deren Höhen und Tiefen nivelliert wurden, die nur durch Augenblicke künstlicher Attraktion durchbrochen werden könnten. Paradoxerweise wurde gescheut, was Rettung zu bringen geeignet war, eine Partnerschaft, Mutter- oder Vaterschaft, die Übernahme von Verantwortung.

Der Wolf, der zum Fuchs wird
Mit dem Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ schrieb Hein 1989 eine Parabel auf die Macht und die Mechanismen der Macht im Stadium ihres Zerfalls. Hein hatte Artus und die Ritter seiner Runde als alte Männer gezeichnet, die an der Macht festhalten, sich noch vage erinnern, dass sie einst den Gral suchten und mit der Suche nach dem Gral ihre Herrschaft legitimierten. Der junge Mordret sagt zum alten Orilus: „Kein Mensch vermag zu sagen, was das ist: der Gral.“ Orilus jedoch besteht darauf, dass man an ihn glauben muss. „Es ist etwas sehr, sehr Schönes, mein armer Junge, was du nie besitzen wirst.“

43 Jahre nach der Uraufführung der „Tafelrunde“ erschien am 17. März bei Suhrkamp „Das Narrenschiff“ als eine Art epischen Prequels zum Stück, die Geschichte einer Utopie und über die Unmöglichkeit, den Gral zu finden. Fast könnte man im Autor des Romans die Figur Lanzelot aus dem Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ sehen, der sein Leben lang auf der Suche nach dem Gral unterwegs war: „Jeden habe ich gefragt, dem kleinsten Hinweis bin ich nachgegangen. Wenn der Gral auf der Welt wär, ich hätte ihn finden müssen.“ Jagen nur Narren und Toren dem Gral nach und werden die, die in seinem Namen herrschen, unwillkürlich zu Verbrechern?

Der Roman startet mit der Begegnung einer Grundschülerin mit dem Präsidenten der DDR im Jahr 1950, die als Klassenbeste bei einer Feierstunde der Schule in Berlin als Auszeichnung neben Wilhelm Pieck gesetzt wird. Kathinka heißt das Mädchen – und sie ist zwar nicht die Hauptfigur des Romans, aber vielleicht auf andere Art der Grund zum Roman. Durch und anhand einer Gruppe von Figuren wird die Geschichte der DDR als Verlust, als Zerfall der großen Hoffnungen erzählt.

Die Zäsuren der DDR-Geschichte geben die Gliederung des Romans, das erste Buch endet mit dem 17. Juni 1953, das zweite Buch hat zum Kern Chruschtschows Geheimrede, die Stalins Verbrechen offenbart und die Narren im Lichte der Verbrechen im Namen des Grals zeigt, das dritte Buch beginnt mit dem Mauerbau, das vierte Buch mit Honeckers Putsch gegen Ulbricht, der von dem damaligen sowjetischen Machthaber Breschnew abgesegnet war, und schließt mit dem Ende der DDR.

Die Figuren haben ihr Widerlager soweit in der Realität, dass man durchaus in ihrem Urgrund Reflexe historischer Figuren entdecken kann, auch wenn zwischen realer und fiktiver Figur der Erzähler steht, der sie in den Dienst der Erzählung stellt.

Da ist der Wirtschaftsprofessor und das Mitglied des ZK der SED Karsten Emser, der Züge des marxistischen Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski trägt. Ihm gehört gleich das zweite Kapitel, Erstes Buch, denn er wird mit dem zweiten Flugzeug der Gruppe Ulbricht aus Moskau eingeflogen. Hier weicht Hein vom historischen Vorbild ab, denn Kuczynski hatte das Exil in London verbracht.

Hübsch ist, dass Emser im Buch den Chef der Auslandsspionage Markus Wolf trifft, den Hein Fuchs nennt, womit er einerseits auf die Gerissenheit Wolfs anspielte, listig wie ein Fuchs zu sein, anderseits hatte Kuczynski in London den späteren Atomspion Klaus Fuchs rekrutiert, dessen Führungsoffizier Kuczynskis Schwester Ruth Werner wurde.

Hoffnung verwandelt uns in Narren
In der Erschütterung über Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU über Stalins Verbrechen erzählt Emser eine Episode, die davon inspiriert sein könnte, dass Kuczynski im Exil dem kommunistischen Funktionär Hermann Duncker die Nachricht von der Verurteilung seines Sohnes Wolfgang überbrachte, der 1942 im Arbeitslager Workuta unter grausamen Umständen ums Leben kam. „Lange dauerte es, bis ich ihn überzeugen konnte, dass die Sowjetjustiz keine Fehler mache, keine Fehler machen könne“, erinnerte sich Kuczynski in seinem Buch „Dialog mit meinem Urenkel“, das für Hein eine wichtige Anregung für die Figur des Karsten Emser geboten haben dürfte.

Im Roman kommt aus dem Londoner Exil der Romanist und Germanist Benaja Kuckuck, der nach dem Germanisten Hans Mayer gezeichnet wurde, auch wenn die biographischen Details nicht mit denen der Romanfigur übereinstimmen. Immer wieder trifft sich der Kreis um Benaja Kuckuck, Karsten und Rita Emser und Yvonne und Johannes Goretzka zum Essen und zu Gesprächen, bilden sie das erzählerische Zentrum der Chronik, mittlere Funktionäre, Kommunisten, die daran glauben, dass in der DDR die Utopie einer menschlichen Gesellschaft verwirklicht werden kann.

Zumindest Emser ist so klug, sich als Narr zu sehen. Was Hein erzählt, ist die Desillusionierung der beiden für die DDR wichtigen Generationen, die von Emser/Kuckuck, und die von Goretzka/Yvonne, die Generation, die vor und die Genration, die nach dem Ersten Weltkrieg geboren worden ist.

Wenn man in dem Quintett eine Hauptfigur suchen will, dann ist es Yvonne, die junge Sekretärin, die im Dritten Reich einen jüdischen Physiker liebt, von ihm ein Kind hat. Auf der Flucht kommt der junge Physiker um. Yvonne und das Kind werden von ihren Eltern in einer Laube versteckt, damit sie nicht wegen „Rassenschande“ denunziert und verhaftet wird. Nach dem Krieg trifft sie auf den freudlosen Funktionär Johannes Goretzka, den sie nicht aus Liebe heiratet, sondern um die Tochter, um Kathinka zu versorgen.

Ist Yvonne die Hauptfigur, so Kathinka das erzählerische, das geistige, das metaphysische Zentrum. Nimmt man Kathinkas Biographie, so offenbart sie sich als ein Porträt von Christiane Hein, der Frau des Autors, die 1944 geboren wurde und im Jahr 2002 verstarb. Und auch den Autor trifft man in der Gestalt des Ehemanns von Kathinka in einem übersetzten Porträt.

Christoph Hein beschreibt das Leben vieler, die mit der DDR etwas verbunden haben, es waren nicht nur Angepasste oder Oppositionelle, für viele war es etwas Neues. Wurden sie betrogen, haben sie sich selbst betrogen? Betrug und Selbstbetrug sind die falschen Kategorien. Vielleicht ist es viel einfacher, sie hatten eine Hoffnung. Hoffnung jedenfalls verwandelt uns alle in Narren.

Hein fragt nach dieser Utopie, dringt in ihre Fragwürdigkeit ein, zeigt, wie sie zu Narren ihre Gläubigen macht. Doch war sie deshalb eine Narretei? Oder hatten sie etwa ein „Narrenparadies“ (Noel H. Field) betreten? Leben wir nicht täglich mehr wieder in einem Narrenparadies, ohne es zu merken?


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