09.09.2024

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Das Ausblenden der Wirklichkeit

Wirtschaft, Migration oder Außen- und Sicherheitspolitik – auf diesen und anderen Politikfeldern gibt es beinahe täglich neue Schreckensmeldungen. Doch anstatt sich den Problemen zu stellen, verschließt die Ampel die Augen vor den Realitäten

Werner J. Patzelt
28.07.2024

Politik beginnt, so sagt man, mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Doch das ist nur ein Viertel dessen, worauf es ankommt. Erstens muss man seinen Verstand so schärfen oder sein Vorwissen so ausbauen, dass man auch begreift, was einem unter die Augen kommt. Wer etwa vom Christentum kaum etwas weiß, kann wochenlang das Museumsbild eines halbnackten jungen Mannes betrachten, dem Pfeile im Körper stecken – und wird doch nicht begreifen, was er da sieht. Was also nützt die bloße Betrachtung der Wirklichkeit ungebildeten Politikern, die Stromleitungen für Energiespeicher halten?

Zweitens muss es man schon auch akzeptieren wollen, wenn die Wirklichkeit sich als an-ders beschaffen zeigt, als man sie sich vorgestellt hat. Etwa hat die Vergesellschaftung der Produktionsmittel samt Staatsleitung durch kommunistische Parteien jahrzehntelang nicht jenen Wohlstand für alle geschaffen, der von ideologiegetriebenen Politikern in Aussicht gestellt wurde. Zwar scheiterten Europas realsozialistische Regierungen dann doch an der Wirklichkeit. Aber heute noch leben gar nicht wenige in dem Glauben, der Sozialismus sei zweifellos eine gute Idee, die nur leider falsch ausgeführt worden wäre. Also auf ein Neues, und warum nicht mit der Partei von Sahra Wagenknecht?

Drittens kommt man nicht übers Treibenlassen schlechter Politik hinaus, wenn man es bei deren Betrachtung mit dem Begreifen auch schon bewenden lässt. Vielmehr muss man korrigierende Politikansätze erarbeiten, hat problemlösende Politikprojekte zu planen. Das aber tun weiterhin viele nicht, obwohl sie erkannt haben, dass selbstermächtigte Einwanderung in Deutschlands Sozialstaat jährlich Dutzende von Milliarden verschlingt, die für andere Politikvorhaben dann eben fehlen.

Viertens praktiziert sich auch wirklichkeitsangemessene Politik nicht von selbst. Man braucht schon auch politische Mehrheiten in den Parlamenten, die solche Politik ge-setzgeberisch und haushälterisch möglich machen. Mehrheiten aber entstehen nicht ohne ernsthafte Debatten über Werte, Interessen und Ziele. Doch solche vermeidet gern, wer von einer gemeinsamen Betrachtung der Wirklichkeit zu befürchten hat, sie mache eigene Wissensmängel und Denkfehler offenkundig. Lieber heuchelt man jene Lage schön, die einen dann doch mit zerstörerischer Wucht einholt.

Wenn die etablierten Parteien zum Einheitsblock werden
Die Wirklichkeit und ihr Funktionieren ändern sich nämlich nicht deshalb, weil Politiker und Journalisten die Augen davor verschließen. Auch zeitigt falsch angelegte Politik nicht bessere Ergebnisse bloß deshalb, weil man sie unbeirrt fortsetzt. Vielmehr führt wirklichkeitsblinde Politik zu nichts anderem als einer Entfremdung zwischen jenen, die deren beschwiegene Folgen eben doch ertragen müssen, und solchen Politikern, die durch Tun oder Lassen an derlei schuld sind.

Ändert die Politikerschaft dann nicht ihren Kurs, wie es den Leitgedanken repräsentativer Demokratie entspräche, dann kommt es zur politischen Polarisierung, die man bald beiderseits mit immer heftigeren Hass- und Verachtungsreden ausstaffiert. Am Ende meinen die einen, durch Internetzensur, Zeitungskillen und Parteienverbote ihre Praxen des Cancelns, Verleumdens und Denunzierens dahingehend abrunden zu müssen, dass sich allmählich niemand mehr traut, in den Verdacht von Quer- oder Falschdenkertum zu geraten. Führt die neuzeitliche Inquisition aber erst einmal zu solchen Vorauswirkungen, dann empfindet ein Teil der Bevölke-rung eben, in einer Diktatur wie der des besserwisserischen SED-Staates zu leben. Und Oppositionelle meinen dann, sie müssten nun Widerständler werden.

Das galt auch als schick, solange der Staat in der Hand von „Rechten“ war. „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt“ war damals ein beliebter Aufkleber. Auch erscholl der Schlachtruf: „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Für viele rechtfertigte das damals auch kriminelle Attacken aufs Establishment. Anders ist es, seit unser Staatswesen und Mediensystem sich weitgehend in den Händen von woken Linksgrünen befinden.

Umso größer wurde deren Einfluss, seit die Union vergrünte und die jetzige Machtelite sich als „neue Mitte“ inszenierte. Linke und Mitte haben jetzt einen gemeinsamen Feind: die Rechte. Die nämlich scheint aus der Betrachtung der Wirklichkeit nicht nur falsche Schlüsse zu ziehen, sondern sich auch moralisch zu disqualifizieren. Denn wogegen soll sich wohl jemand wehren müssen, wenn eine selbsternannt fortschrittliche, ethisch höherwertige Politik betrieben wird? Und welches Recht sollte unter solchen Umständen zum Unrecht geworden sein, das Wider-ständigkeit rechtfertigte?

Diskreditierung des Protests
Natürlich ist es schlecht, dass allein schon die Beschreibung deutscher Zustände kaum mehr ohne Sarkasmus auskommen kann. Noch schlimmer ist allerdings, dass immer mehr Leuten unsere Lage so übel zu sein scheint, dass sie selbst daseinserleichternde Ironie nicht mehr ertragen wollen, sondern Groll in Wut umschlagen lassen. In einem Land mit verlässlich funktionierenden pluralistischen Rückkoppelungssystemen würde sich das so auswirken: „Wutbürger“ machen sich ans Wählen von „Protestparteien“; die bekommen die Pflicht auferlegt, sich durchs Mitregieren ans Mitlösen von Problemen zu machen, die sie doch besser als ihre Konkurrenz begriffen zu haben behaupten. Stimmte das auch, so wäre dem ganzen Land gedient.

Versagen aber Protestparteien beim Umgang mit ihnen übertragener politischer Verantwortung, dann entsteht immerhin eine Chance dafür, nun endlich zur gemeinsamen Betrachtung der Wirklichkeit zu gelangen. Nämlich entlang der Frage, worin sich denn bislang wohl alle getäuscht haben, also die Rechtfertiger eingerissener Zustände ebenso wie die gescheiterten Vielversprecher. Gerade so entfaltete pluralistische Demokratie ihren erzieherischen Druck auf kollektives Lernen, dem dann Politikkorrekturen mittels vorsichtiger Versuche und rasch abgestellter Irrtümer folgen könnten.

Doch leider sind unsere Verhältnisse nicht so. Öffentlich bekundete Unzufriedenheit mit woke-linksgrüner Politik gilt häufig als Hassrede, schlimmstenfalls sogar als „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Konsens der „Anständigen“ im Lande ist es außerdem, dass nur solchen Protestparteien politische Verantwortung übertragen werden darf, welche – wie Sahra Wagenknechts Bündnis – auch viele linke Positionen im Gepäck haben. Das nämlich beglaubigt politisches Gutsein – zumal unter Weitergeltung des Denkgebots, dass aus richtig angelegter linker Politik niemals etwas Übles entstehen kann.

Wer das bezweifeln mag, verfällt jenem Zorn, der auf „Demonstrationen gegen rechts“ seine Bühne findet. Die inszeniert man gern in Reaktion auch auf rein medial verfertigte Schreckensbilder, etwa dem einer „Wannsee-Konferenz 2.0“. Theatralisch tief beeindruckt sichert man sodann die kollektive Lernverweigerung dadurch ab, dass man allenthalben „Brandmauern“ vorschreibt, die auch nicht der kleinste Funke von Wirklichkeitserkenntnis überspringen darf.

Einbruch der Wirklichkeit
Wie wird es aber weitergehen, wenn sich – wie in den neuen Bundesländern – ein Großteil der Bür-gerschaft durch derlei Maßnahmen von der Mitausübung jener Staatsmacht ausge-schlossen empfindet, die in einer Demokratie doch allein vom Volk auszugehen hat? Und was, wenn die Brandmauern sich mehr und mehr als Festungsmauern auswirken, von denen umgeben man zum gemeinsamen Leben in jener Wirklichkeit unfähig wird, die nun einmal auch außerhalb der festen Burgen von Elitenhochmut besteht?

In Italien führte vor rund dreißig Jahren das Nichtverhältnis zwischen einer selbstbezogenen politischen Klasse und einer empörten Wählerschaft zum Ruin des bis dahin be-stehenden Parteiensystems. In Frankreich provozierte solche Beziehungspathologie erst den Aufstand der Gelbwesten und dann die Erosion der politischen Mitte. Und in Deutschland stehen weitere Wahlerfolge der AfD ins Haus. Ihnen werden Anti-AfD-Koalitionen folgen, die deren Partner – Union, Grüne, Sozialdemokraten ... – bei den anstehenden Bundestagswahlen um so sicherer nach unten ziehen werden, je glaubwürdiger sich die AfD von jenem demagogischen Radikalismus befreit, der zu einem Teil ihres Geschäftsmodells geworden ist.

Schafft es die AfD in dieser Lage aber nicht, zu einem normalen nichtlinken Mitspieler in unserem Parteiensystem zu werden, dann wird der grün-woke Kurs von Merkel und Scholz, von Wüst und Günther wie eine alternativlose Selbstverständlichkeit fortgeführt. Der freilich hat immer mehr Leute zu „Rechten an und für sich“ gemacht, die früher ihre politische Heimat in der SPD Helmut Schmidts oder der Union Helmut Kohls gefunden hätten. Aus ihren alten politischen Heimaten hat sie zunächst Deutschlands wenig einleuchtende Euro-, Energie- und Migrationspolitik vertrieben, und dann das Erlebnis, dass man ihre Sorgen nicht ernstnehmen wollte, sondern sie selbst als dumm, rassistisch und „gesichert rechtsextrem“ ausgrenzte. So wurden aus gutwillig-hinnahmebereiten Bürgern zunächst besorgte Bürger und inzwischen empörte Bürger. Vor deren „Rache mit dem Stimmzettel“ fürchten sich nun genau jene Parteien, die dieses Schlammassel wider alle Warnungen selbstgerecht herbeigeführt haben.

Ignoranz auch auf europäischer Ebene
Immerhin ist nun weithin sichtbar, dass hier viel Übles angerichtet wurde. Doch so weit ist die kundige „Betrachtung der Wirklichkeit“ noch nicht gediehen, dass die etablierten Parteien die zu erkennenden Ursachenketten bis zur eigenen Politik und zu vielen arroganten Fehlreaktion auf Bürgerprotest zurückführen wollten.

Leider setzt sich solche Ignoranz in der EU fort. Etwa bekräftigten die jüngsten Wahlen zum EU-Parlament den langjährigen Trend von der Linken zur Rechten. Doch die Reaktion? Erneut hilft eine linksmittige Mehrheit einer Kommissionspräsidentin ins Amt, deren „Green Deal“ viele Bauern empört sowie die Rechte gemästet hat. Und statt daraus politisch zu lernen, werden „Brandmaurern gegen rechts“ nun auch im EU-Parlament hochgezogen, obwohl sie nirgendwo genützt haben. Politische Lernunlust und Wirklichkeitsverweigerung gehen also weiter. Schade – denn wir alle werden dafür bezahlen.

Prof. Dr. Werner J. Patzelt war von 1991 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden und ist derzeit Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegiums in Brüssel. Zu seinen Werken gehören „CDU, AfD und noch mehr politische Torheiten. Neue Analysen, Interviews und Kommentare 2019–2024“ (Weltbuch 2024) sowie „Ungarn verstehen“ (Langen Müller 2023). wjpatzelt.de


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