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Neue Erkenntnisse über die Marienburg – Architekturexperte erklärt in einem neuen Buch die Modernität des Hochmeisterpalastes
Nacht für Nacht unterbrachen die Ordensritter zwischen 23 und zwei Uhr ihren Schlaf für die Nachtmette, dann erhoben sie sich bereits um fünf Uhr, um den Ordensregeln folgend ihren arbeitsreichen Tag anzutreten. Ein weites Land war zu verwalten und zu kultivieren.
Da ältere Ordnungs- oder gar Staatsformen in dem vom Deutschen Orden eroberten Land der Prußen kaum vorgefunden worden waren, bedeutete dies eine Arbeit von Grund auf. Der Begriff der Ordnung findet wohl in keiner deutschen Landschaft stärkeren Ausdruck als im Gebiet des Ordensstaates Preußen, den späteren Provinzen Ost- und Westpreußen. Die vom Deutschen Orden seit der Mitte des 13. Jahrhunderts geschaffene geistig-kulturelle Ordnung prägt aufgrund ihrer gotischen Backsteinbauten, Stadt- und Dorfgründungen bis heute das zwischen Polen, Russland und Litauen geteilte Land, und kein Gebäude verkörpert mehr diese formende Kraft als die Marienburg.
Als ein Ordnen von Grund auf kann man auch das wachsende Werk Christofer Herrmanns bezeichnen. Nach dem grundlegenden Werk „Mittelalterliche Architektur im Preußenland“ (2007) und den von ihm herausgegebenen zwei Bänden zur „Mittelalterlichen Architektur in Polen“ (2015) legt er nun seine Forschung der letzten Jahre zu dem „großartigen und rätselhaften“ Hochmeisterpalast auf der Marienburg in dem Buch „Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg“ vor.
Herrmanns Forschungen basieren nicht – wie heute durchaus zu oft üblich – auf Theorien oder vorgegebener Hauptthese, die zu beweisen wäre, sondern Grundlage all seines Arbeitens ist zunächst eine Erfassung der zu bearbeitenden Bauten, die er – wie auch für dieses Buch – bis in Details fotografiert. Diese „Bauarchäologie“ wird um Literatur und historische Quellen erweitert, wobei der Autor keinen Satz anderer Forscher unüberprüft einfach übernimmt. Spekulationen manch eines Kollegen, für die keine klaren Belege vorliegen, werden freundlich, aber deutlich zurückgewiesen.
Seit Ausgang des 18. Jahrhunderts wandte sich die Forschung in unzähligen Werken dieser größten Backsteinburg Europas zu. Wenn sich nun Herrmann nicht mit der gesamten Burg, sondern „nur“ mit dem im 14. Jahrhundert errichteten Hochmeisterpalast neu befasst, dann bedeutet das, dass das gotische Bauwerk wirklich mit der Herrmann eigenen Systematik vom Keller bis zum Dach, Geschoss für Geschoss, Raum für Raum neu durchdrungen wird.
Neben der eigentlichen Konventsburg, in der die Ordensbrüder lebten, entstand der erste Palast unter Hochmeister Luther von Braunschweig 1331 bis 1335. Von diesem Bauwerk blieben der Große Remter mit der Küche, ein Teil der hochmeisterlichen Kapelle und hier und da Kellergewölbe und Mauerstücke erhalten.
Ab 1380 ließ Konrad von Jungingen den mächtigen Erweiterungsbau mit dem berühmten Sommerremter errichten; mit der Innenausmalung der Räume schlossen die Arbeiten um 1397 ab. Da während der großen Restaurierungen im 19. und 20. Jahrhundert viel der ursprünglichen Bausubstanz erhalten blieb und dieser Flügel im Krieg im Gegensatz zu anderen Teilen der Burg nur geringfügig beschädigt wurde, schaut sich Herrmann bis ins kleinste Detail etwa Konsolen, Stufen, Wandöffnungen an, um anhand dieser wie auch durchbrochener Gewölbe oder Ziegelwechsel die Bauvorgänge zu klären.
Hermanns Durchdringung von Grund auf bedeutet, dass er – um den Leser in jeden Winkel mitzuführen – sehr detailreich beschreibt, wobei auffällige Wiederholungen Verständnis und Systematik unterstützen, die Themen sozusagen immer wieder zur Prüfung anhand anderer Blickwinkel aufgerollt werden.
Sogar mit Heißluftheizung
Darauf aufbauend geht er mit geradezu detektivischem Sinn all jenen bereits in der älteren Forschung gestellten Fragen nach, so nach den Raumnutzungen, der Art der Repräsentation oder der Organisation des Alltags wie auch der Suche nach dem Baumeister. Da führt die Lokalisierung der in einer Quelle beschriebenen Flugbahn eines Kanonensplitters bei der Beschießung der Burg 1454 zur Klärung, welche Räume der Kanzlei dienten.
Da ermöglicht die genaue – durch Pläne ergänzte – Untersuchung des ausgeklüngelten Systems von Dienergängen, Durchreichen, Treppen und Brunnen die Beschreibung von Arbeitsvorgängen von den Küchen oder der Kanzlei bis zu den Sälen. Anhand der Funktionsweisen etwa der Heißluftheizung und der Abortanlagen, aber auch des frühen Beispiels von sogenannten Appartements (zusammengehörende Wohn- und Schlafstuben) erklärt uns Herrmann nicht nur Nutzung, Hygiene und Komfort des Hauses, sondern arbeitet dessen Modernität heraus.
Beim Bau dieser „modernsten europäischen Fürstenresidenz um 1400“ scheint kein Detail dem Zufall überlassen worden zu sein. Zum ersten Mal wird die wohldurchdachte Hierarchie jeder einzelnen Bauform im Zusammenspiel mit der Nutzung verständlich: „Der Hochmeisterpalast bildete das räumlich-architektonische Zentrum dieser für eine fortschrittliche Regierungsweise konzipierten Residenz, für deren Funktionieren die einzelnen Gebäudebereiche spezielle Aufgaben zu erfüllen hatten. Hierzu gehörten insbesondere eine breite Palette an Versammlungs- und Beratungsräumen, eine räumlich erweiterte Kanzlei mit Zentralarchiv sowie komfortablere Wohnmöglichkeitem für den Hochmeister sowie die Gebietiger und Gäste.“
Die Modernität spiegelt sich im europäischen Zusammenhang wieder. Kein zeitlich paralleler Residenzbau diente der Marienburg als Vorbild. Versuche, sie mit Bauten in Frankreich oder England in Verbindung zu setzen, widerlegt Herrmann ausführlich. Anhand genauer Begriffsbestimmungen weist er etwa den Begriff der „Pracht“ zurück, denn in Marienburg zeigt sich „eine konsequente Reduktion der dekorativen Elemente“, eine erhabene Schlichtheit, ein „typologisch eingenständiger Weg“ etwa im Vergleich mit dem Papstpalast zu Avignon.
Auf seiner systematischen Suche entdeckt Herrmann den Meister Johann, der aus Böhmen stammen könnte und als selbstständiger Kopf vor seiner Arbeit auf der Marienburg die Bischofsburg Arensburg auf der Insel Ösel (Estland) – seinerzeit ebenfalls Teil des Deutschordenslandes – errichtet haben müsste, wofür die „stilistischen Besonderheiten“ und „die technischen und innovativen Leistungen“ sprechen. Da Herrmanns derzeitiges Forschungsprojekt sich der mittelalterlichen Architektur in Estland und Lettland zuwendet, ist zu hoffen, dass hierbei auch neue Kenntnisse zum Preußenland zutage treten.
Zuletzt füllt Herrmann die kahlen Räume mit Leben. Vom Küchenpersonal über den Leibarzt und den Bader des Badehauses bis zu den Dienern des Hochmeisters geht Herrmann den Berufen und Aufgaben nach. Der Alltag mit Gebet, gemeinsamem Essen der Ordensbrüder im Großen Remter und der Verwaltungsarbeit wird im Gebäude lokalisiert. Dies aber ist zum Verständnis der Ordensgeschichte – die damit selbst klarer verortet werden kann – von Bedeutung. Der Hochmeisterpalast war Zentrum der Diplomatie, seine Säle dienten den Stände- und Städtetagen, und für die zunehmende Verschriftlichung der herausragenden Verwaltung des Deutschen Ordens wurde der Bau so notwendig, dass ihr in zwei Etagen ein ausgedehnter Bereich eingeräumt wurde. Hier also lagen die gewaltigen Aktenbestände, mit denen sich Historiker aus aller Welt heute – nachdem sie bei Kriegsende aus Königsberg ausgelagert wurden – im Preußischen Staatsarchiv zu Berlin befassen.
Der in einem der besten Kunstverlage, dem Michael Imhof Verlag, erschienene und mehr als „prächtig“ zu bezeichnende Band ist mit an die 600 farbigen, teilweise ganzseitigen Abbildungen sowie eingelegten Tafeln der Grundrisse reich ausgestattet. Ein Meisterwerk für Burgenfreunde.
Christofer Herrmann
Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg.
Konzeption, Bau und Nutzung der modernsten europäischen Fürstenresidenz um 1400
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, gebunden 600 Seiten, 89 Euro
• Dr. Wulf D. Wagner lebt als Kunsthistoriker und Publizist in Berlin und Palermo. Zu seinen Werken gehört u.a. „Das Königsberger Schloss“ (2 Bände, Schnell & Steiner 2008 / 2011). Zuletzt erschien „Die Altertumsgesellschaft Prussia. Einblicke in ein Jahrhundert Geschichtsverein, Archäologie und Museumswesen in Ostpreußen 1844–1945“ (Husum Verlag 2019).