02.11.2025

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Reformarchitektur: Heinrich Tessenow
Bild: ullstein bildEiner der wichtigsten Vertreter der deutschen Reformarchitektur: Heinrich Tessenow

Architektur

„Das Einfache ist nicht immer das Beste; aber das Beste ist immer einfach“

In der Konzeption sparsam und funktional, in der Haltung spröde und unterkühlt, in der Gestaltung schmucklos und ernst. Vor 75 Jahren starb der konservative Reformer Heinrich Tessenow

Ingo Sommer
02.11.2025

Alles begann eigentlich in England mit John Ruskin und William Morris, mit Arts and Crafts und der Reformarchitektur: Reduzierte Formen, natürliche Materialien und traditionelles Bauhandwerk waren gegen den überladenen Viktorianismus gerichtet. Um 1900 suchten auch junge deutsche Architekten Wege zu einer neuen Architektur, denn die stuckdekorierte spätwilhelminische Repräsentationsbaukunst ging gegen ihr Ende. Der Reformbazillus wurde von Hermann Muthesius (1861–1927), Theodor Fischer (1862–1928), Henry van de Velde (1863–1957), Peter Behrens (1868–1940), Richard Riemerschmid (1868–1957), Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) weitergetragen, vor allem aber von Heinrich Tessenow. Der vor knapp eineinhalb Jahrhunderten, am 7. April 1876, in Rostock geborene und vor einem Dreivierteljahrhundert, am 1. November 1950, in Berlin gestorbene Architekt und Hochschullehrer sowie Vertreter der deutschen Reformarchitektur war der jüngste dieser Reformergeneration – und irgendwie anders: In der Konzeption sparsam und funktional, in der Haltung spröde und unterkühlt, in der Gestaltung schmucklos und ernst. Berühmt ist sein Satz: „Das Einfache ist nicht immer das Beste; aber das Beste ist immer einfach.“

Wie ein roter Faden durchzieht die Verknüpfung von Praxis und Theorie des Baumeisterberufes Tessenows Leben. Er wurde ein begnadeter Architekt, gleichzeitig Architekturlehrer. Zwischen 1894 und 1896 hatte er vor dem Studium eine Handwerkslehre als Zimmermann bei seinem Vater in Rostock absolviert. Wohl wissend, dass ein akademisch „an“studierter Architekt niemals das ganze Bauen begreifen konnte. In kaum einem anderen Beruf sind die praktischen Grundlagen derart bedeutsam.

Zwischen 1896 und 1901 führte ihn sein eigener Weg als Baugewerkschüler (Neustadt, Leipzig) und Gasthörer an der Technische Hochschule (München) in ein beneidenswert vielseitiges Architektenleben. Schon ab 1902 gab er sein Wissen weiter: Lehraufgaben an Baugewerkschulen in Sternberg und Lüchow, in Saaleck an Schultze-Naumburgs Werkstätten (1904) und als Lehrer der Architekturabteilung der Kunstgewerbeschule Trier (1905–1909). Dann als Professor an der Kunstgewerbeschule Wien (1913–1919), der Kunstakademie Dresden (1920–1926) und der Technischen Hochschule Berlin (1926–1950 mit Unterbrechung).

An allen Stationen und Schaffensorten seines Lebens und dazwischen hinterließ Tessenow Projekte und Bauten, denn es war für beamtete Architekturprofessoren üblich, in Nebentätigkeit ein Büro zu betreiben.

Sein Leben
Am Anfang standen ab 1902 Entwürfe für Landhäuser, Wettbewerbszeichnungen, Studien: detailreich ausgearbeitete Pläne von Giebeldachhäusern mit Holzklappläden, Sprossenfenstern, berankten Lauben und Bauerngärten. Sehr viel englischer Zeitgeist und auch etwas Jugendstil. Fast nichts davon wurde gebaut, aber seine fein ziselierten Bauzeichnungen wurden veröffentlicht, machten ihn bekannt. Erst ab 1910 finden sich in seinen Werkverzeichnissen ausgeführte Bauten: in Dresden-Hellerau der Straßenzug am Schänkenberg (1910/1911), Wohnhäuser am Heideweg, am Tännichtweg und Am Pfarrlehn (1911) sowie das pathetisch-neoklassizistische Festspielhaus (1911), eines seiner prominentesten Werke. Und sonst in den 1910er Jahren: Einzelbauten in Magdeburg, Lehrlingsheim Celle-Steinhorst, Lehrerbildungsanstalt Peine, Kriegersiedlung Dresden-Rähnitz, Gartenstadt Falkenberg etc.

Er wollte Mittler zwischen Tradition und Moderne sein. Schon 1910 wurde er in den Bund Deutscher Architekten (BDA) und den Werkbund aufgenommen. Während der Weimarer Zeit arbeitete er im „Arbeitsrat für Kunst“ (1918), in der „Novembergruppe“ (1918) und in der Vereinigung „Der Ring“ (1926) mit. Seine Entwürfe wurden deutlich moderner. Die öffentlichen Finanzen waren knapp und viele Projekte blieben Utopie. Gleichwohl konnte Tessenow einige moderne Entwürfe verwirklichen: Siedlung Rannersdorf Wien/Schwechat (1921–1924), Sächsische Landesschule Klotzsche (1925–1927), Heinrich-Schütz-Schule Kassel (1927–1930), Stadtbad Berlin-Mitte (1927–1930), Bergarbeitersiedlung Glückauf Frankfurt/Oder-Finkenherd (1927–1928). Seine sturzmodernen Wettbewerbsbeiträge der 1920er Jahre für das Haus des Dresdner Anzeigers, die Berliner Schulbauten, den Völkerbundpalast Genf, das Aschrott-Altersheim Kassel, die Kirche Karlshafen blieben ungebaut und sind in Vergessenheit geraten.

Die Umgestaltung von Schinkels Neuer Wache (1818) Unter den Linden zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges ging auf den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) zurück. Tessenow hatte 1930 den Wettbewerb gewonnen und konnte seinen schlichten, unheroischen Entwurf 1931 umsetzen. Wegen des Fehlens militärischer Traditionen musste er sich gegen scharfe Kritik von deutsch-nationaler Seite und vom Stahlhelm wehren. Der Nationalsozialismus warf seine Schatten voraus.

Es wäre falsch, Tessenow als versponnenen, rückwärtsgewandten, detailverliebten Formgestalter einzuordnen. Er war ebenso empfänglich für neuen Städtebau, beispielsweise den gemeinwohlorientierten Arbeiterwohnungsbau und das englische Gartenstadtkonzept von Ebenezer Howard (1850–1928). In Dresden-Hellerau entstand unter Tessenows planerischer Mitwirkung ab 1908 die erste deutsche Gartenstadt. Etliche ungebaute Hochbauentwürfe und (ab 1910) realisierte Bauten ranken sich um seine Dresdener Jahre (s.o.).

Sein Werk
Zu seinen städtebaulichen Entwürfen gehören auch in der NS-Zeit gefertigte urbanistische Großplanungen, vermittelt wohl auch durch seinen ehemaligen Schüler und Assistenten Albert Speer (1927–1933): Seebad Prora (1936), Gemeinschaftssiedlung Mosigkau/Dessau (1940), Wohnsiedlung Junkerswerke Magdeburg (1940/1941), Verwaltungsforum Braunschweig (1941), Großsiedlung Diederichs­hagen/Warnemünde (1941/1942), Großsiedlung Drewitz/Potsdam(1942/1943). Tessenow stand zwar 1944 in der Gottbegnadeten-Liste des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, verfehlte aber den monumentalen Geschmack der NS-Machthaber und konnte keines der größenwahnsinnigen Projekte realisieren.

Zwischen 1945 und 1947 kehrte Tessenow noch einmal in die Stadtplanung zurück und entwarf Wiederaufbaupläne für seine Heimatstadt Rostock, für Pasewalk, Friedland, Woldegk, Neubrandenburg, Demmin und Lübeck. Er geriet damit in den Grundsatzstreit dieser Jahre: historische Rekonstruktion oder verkehrsmoderner Neuaufbau? Tessenow empfahl einen dritten Weg und schlug vor, die zerstörten deutschen Städte als Gartenstädte wiederaufzubauen. Das entsprach nicht dem Zeitgeist und konnte die Nachkriegspolitiker nicht überzeugen.

Tessenow lebte für sich bescheiden und asketisch. In seiner Berliner Zeit bewohnte er bis zu seinem Lebensende (zusammen mit der Musik- und Gymnastiklehrerin Chilla Schlichter) sein 1930 gebautes Giebelhäuschen von 60 Quadratmetern Wohnfläche am Zehlendorfer Fischtalgrund. Selbst für einen Flügel war noch Platz. Ganz in der Nähe hatte er 1928 zusammen mit 15 weiteren Architekten für die Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten (GAGfAH) die spitzgieblige Versuchssiedlung Fischtalgrund gebaut. Zu Unrecht wird sie oftmals ideologisch als konservative Antwort auf die moderne Onkel-Tom-Siedlung (1926–1932) der Gehag (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft) gesehen.

Tessenows archaisch strenge Architekturlinie hat viele Schüler gefunden und auch das Neue Bauen beeinflusst. Es bedurfte dazu nicht des aufdringlich lärmenden Bauhauses. Er musste nicht mehr erleben, wie die Nachkriegs-Kunstgelehrten eilfertig allein das Bauhaus auf den Thron der modernen Architekturgeschichte geschoben haben.

Viele von Tessenows Gedanken sind aktueller denn je: kostengünstiger Wohnungsbau, vereinfachende Baukonstruktion, sparsame Grundrisse, nachhaltiger Umgang mit Materialien. Warum nur sind sie in Vergessenheit geraten? Aber das ist ein anderes Thema.


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS