22.11.2024

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„Das Geschehen neigt sich zugunsten Russlands“

Über die dramatische Lage der Ukraine nach dem Scheitern ihrer Sommeroffensive, das Interesse der Russen an Verhandlungen – und das Eskalationspotential deutscher Taurus-Lieferungen

Im Gespräch mit General a.D. Harald Kujat
29.10.2023

Seit Ausbruch des Ukrainekrieges führt die PAZ in unregelmäßigen Abständen Interviews mit einem der höchstrangigen deutschen Soldaten der letzten Jahre. Während die meisten Medien nur von ukrainischen Siegen berichten, zeichnet er in diesen Gesprächen stets ein deutlich nüchterneres Bild der Lage. So auch diesmal.

Herr Kujat, vor einigen Tagen schrieb der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh unter Berufung auf Quellen aus dem Sicherheitsapparat seines Landes, dass der Ukrainekrieg faktisch entschieden sei und die Ukraine keine Chance mehr auf einen Sieg habe. Teilen Sie diese Ansicht?

Hersh hat nicht nur gesagt, dass der Krieg vorbei ist, sondern dass Russland ihn gewonnen hat. Ich würde das etwas differenzierter formulieren, da die Frage, wer einen Krieg gewinnt, mehrere Dimensionen hat. Politisch gewinnt einen Krieg – das hatte ich schon in unseren früheren Gesprächen gesagt – wer die politischen Ziele erreicht, deretwegen er den Krieg führt. Dies wird in diesem Konflikt keiner Seite gelingen. Russland wollte die NATO-Erweiterung verhindern und muss nun den Beitritt Finnlands und Schwedens hinnehmen. Die Vereinigten Staaten wollten mit ihrer Unterstützung der Ukraine den geopolitischen Rivalen Russland politisch, ökonomisch und militärisch schwächen. Auch dies ist nicht eingetreten. Russland ist keineswegs isoliert, die BRICS-Organisation hat am 24. August sogar sechs neue Mitglieder aufgenommen. Weitere Staaten wollen beitreten, darunter die NATO-Mitglieder Türkei und Griechenland. Die Wirtschaftssanktionen erweisen sich vor allem für den Westen als Nachteil. Und militärisch ist Russland stärker als vor dem Krieg. Auch die Ukraine, deren Ziel die Wiederherstellung der vollen Souveränität über ihr gesamtes Staatsgebiet in den Grenzen von 1991 ist, wird dieses Ziel nicht erreichen.

Anders sieht es hingegen aus, wenn man die Lage militärisch betrachtet. Hier neigt sich das Geschehen eindeutig zugunsten Russlands. Im Grunde sehen wir eine asymmetrische Operationsführung. Die Ukraine versucht unter extrem hohen Opfern, Quadratmeter um Quadratmeter russisch besetzten Territoriums zurückzuerobern. Russland hat sich hingegen auf eine strategische Defensive verlegt mit dem Ziel, den ukrainischen Streitkräften immer größere Verluste beizubringen und die Ukraine wehrlos zu machen. Die vor fast fünf Monaten mit großen Erwartungen begonnene ukrainische Offensive hat nicht die gewünschten Erfolge gebracht. Jetzt tritt zwar durch die Schlamm-periode, die vor einigen Tagen begonnen hat, eine Phase ein, in der sich die ukrainischen Streitkräfte konsolidieren können, da keine großen Bewegungen mechanisierter Kräfte möglich sind. Aber ab Mitte Dezember ist der Boden gefroren. Und dann wird es auch wieder Bewegungen geben.

Welche Bewegungen erwarten Sie?

Wir können schon seit etwa zwei Wochen Angriffsversuche der Russen im Norden der Front, in der Nähe von Kupjansk und Lyman, beobachten, was darauf hindeutet, dass sie eine größere Offensive vorbereiten. Zudem haben die Russen erhebliche Kräfte zusammengezogen, die Rede ist von 350.000 Mann. Es ist also davon auszugehen, dass die russischen Streitkräfte versuchen werden, das Territorium, das Präsident Putin am 30. September 2022 zu russischem Staatsgebiet erklärt hat, also die Regionen Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, vollständig einzunehmen. Ich gehe davon aus, dass auch Odessa zu den Eroberungszielen gehört, weil es im Verständnis Moskaus eine ur-russische Stadt ist. Damit könnten die Russen eine Verbindung zu ihren Truppen in Transnistrien herstellen – und die Ukraine völlig vom Schwarzen Meer abschneiden.

Obwohl ich überzeugt bin, dass die Russen nicht beabsichtigen, die gesamte Ukraine zu besetzen, weil sie dafür eine ganz andere Truppenstärke aufbieten müssten, gibt es einen Aspekt, der mich fragen lässt, ob sie vielleicht doch noch etwas weiter ausgreifen werden. Das ist der Umstand, dass sie die rund 20 Brücken über den Dnepr im Kriegsgebiet bislang nicht zerstört haben. Das wäre eigentlich für sie von großem Vorteil, weil damit der Nachschub für die ukrainischen Soldaten ostwärts des Dnepr erheblich erschwert würde.

Aber der entscheidende Punkt ist: Die ukrainischen Streitkräfte sind in einem äußerst kritischen Zustand. Sie haben mit ihrer Offensive den Durchbruch durch die russischen Verteidigungslinien nicht erreicht. Sie wollten die Landbrücke zwischen Russland und der Krim unterbrechen und dadurch verhindern, dass Russland die Halbinsel weiter als logistische Drehscheibe nutzen kann. Das ist ihnen nicht gelungen, und es wird ihnen mit ziemlicher Sicherheit auch nicht gelingen. Und nach den hohen Verlusten ihrer Offensive haben die ukrainischen Streitkräfte auch nicht mehr die Kraft, an irgendeiner anderen Stelle des Kampfgeschehens einen Schwerpunkt für einen Durchbruch zu bilden. Letztendlich haben sie nicht mehr das Personal, um die entstandenen Lücken aufzufüllen. Und das ist die entscheidende Ressource.

In den westlichen Debatten zum Krieg findet all dies jedoch kaum Beachtung.

Richtig. Die bittere Wahrheit ist, dass die Ukraine trotz massiver Unterstützung durch die USA und Europa mit modernen Waffen keine militärischen Erfolge erzielt hat. Dennoch heißt es in unseren Medien, es müssten mehr Waffen geliefert werden. Doch Waffen können Soldaten nicht ersetzen. Es sieht so aus, als wollte die Ukraine deshalb den Krieg auf eine andere Ebene verlagern, indem sie versucht, mit weitreichenden Waffensystemen tief nach Russland hinein anzugreifen.

Nach langem Drängen haben die Amerikaner nun erstmalig eine geringe Zahl (angeblich zwanzig) ATACMS geliefert. Allerdings eine Version mit nur etwa 160 Kilometern Reichweite und dies unter der Bedingung, dass keine Ziele in Russland angegriffen werden. Nach wie vor fürchtet Präsident Biden, dass die Lieferung weitreichender Raketen eine „rote Linie“ Russlands überschreitet. Die amerikanische Entscheidung könnte jedoch bei uns erneut Forderungen auslösen, doch noch Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Taurus hat eine Reichweite von 500 Kilometern, verfügt über eine große Zielgenauigkeit und ist nur sehr schwer zu bekämpfen. Dieser Marschflugkörper ist für die Ukraine das eigentliche Mittel der Wahl, denn damit wäre sie in der Lage, strategische Ziele in Russland anzugreifen und die Eskalationsschraube ein großes Stück weiter zu drehen. Aber die strategische Lage entscheidend zugunsten der Ukraine verändern würden auch Taurus nicht.

Deshalb nochmal zurück zu Ihrer Ursprungsfrage, zu Hershs Wertung der Lage: So wie er es formuliert hat, dass die Ukraine bereits verloren hat, würde ich es nicht formulieren. Aber die Perspektive für einen militärischen Sieg der ukrainischen Streitkräfte ist äußerst gering, wenn nicht gleich null.

Hersh beruft sich in seinen Aussagen auf US-Regierungsquellen. Somit dürfte auch in Washington der Ernst der Lage für die Ukraine bekannt sein. Was folgt daraus für die Politik der USA?

Die Amerikaner müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Ukraine trotz der massiven Unterstützung durch die USA und auch durch die europäischen Verbündeten mit modernsten Waffensystemen keinen militärischen Erfolg erzielt hat. Ihr Problem ist jedoch, dass sie nach wie vor erklären, die Ukraine zu unterstützen, „as long as it takes“ (Deutsch: so lange es erforderlich ist), ohne dass eine strategische Wende zugunsten der Ukraine erreicht wird. Aber was heißt das konkret?

Tatsächlich ist die weitere politische Unterstützung Washingtons für die Ukraine ungewiss: kurzfristig, weil der Widerstand im Kongress wächst und deshalb bislang kein regulärer Haushalt verabschiedet wurde, und langfristig, weil im Falle einer abermaligen Wahl Donald Trumps dieser angekündigt hat, die Militärhilfen sofort einzustellen.

Das Problem des Westens ist, dass es weder in Amerika noch in Europa eine klar erkennbare Strategie gibt. Es heißt lediglich, Putin darf nicht gewinnen und die Ukraine muss gewinnen. Doch die Ukraine gewinnt nun mal nicht. Und nun? Was ist unser Interesse in diesem Krieg? Sind wir bereit, alles zu unterstützen, was die Ukraine vorhat – und zum Beispiel auch die Konsequenzen zu tragen, wenn die Ukraine mit einem deutschen Waffensystem tief nach Russland hinein strategische Ziele angreifen würde?

Aber im Grunde bestünde doch gerade eine Gelegenheit, beide Kriegsgegner an einen Verhandlungstisch zu bringen?

Richtig. Wobei man sagen muss, dass wir wieder einmal an einem solchen Punkt sind. Wir hatten bereits Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul Ende März, Anfang April 2022, deren Ergebnis sehr positiv für die Ukraine war, aber von Kiew auf westliche „Empfehlungen“ hin nicht unterschrieben wurde. Dann gab es vor der russischen Teilmobilmachung am 21. September 2022 eine neue Chance zu Verhandlungen. Auch sie wurde nicht genutzt. Genauso wie die anschließende Winterpause nicht genutzt wurde. Nun haben wir wieder eine Ruhephase und abermals stellt sich die Frage, ob jemand unter den Verantwortlichen die Vernunft besitzt, zu Verhandlungen einzuladen.

Man muss hierbei auch an die ukrainische Bevölkerung denken. Ist es gerechtfertigt, sie Monat um Monat leiden zu lassen, um ein paar Quadratkilometer Land zu erobern? Da die Ukraine keine Chance auf einen Sieg hat, ist die Frage legitim.

Absolut, aber für die Ukraine handelt es sich bei den von Russland besetzten Gebieten nicht um irgendwelche Landstriche, sondern um das Zentrum ihrer Rohstoff- und Schwerindustrie.

Das ist richtig, der Donbass ist so etwas wie das Ruhrgebiet der Ukraine. Und doch stellt sich die Frage, ob es legitim ist, dafür weiter Menschenleben in ungeheurer Zahl zu opfern. Zumal – man kann es nur wiederholen – die Ukraine keine reale Chance hat, das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Hinzu kommt, dass sie nicht nur Gebietsverluste erlitten hat, sondern mehr als vier Millionen Bürger des Landes in den Westen geflohen sind. Wie weit soll dieser Exodus eigentlich gehen? Fakt ist: Wenn der Krieg weiterläuft, droht der Ukraine schon bald der Zusammenbruch.

Nur zur Klarheit: Sie halten es für möglich, dass die Ukraine, die vor Kriegsausbruch noch das zweitgrößte Land Europas war, implodieren könnte?

Das halte ich durchaus für möglich. In dem Glauben, dass Russland auf keinen Fall gewinnen darf, blenden wir hierzulande aus, wie es der Ukraine tatsächlich geht. Hersh spricht zum Beispiel auch davon, dass, wenn der Krieg fortgesetzt werden sollte, das Risiko einer Meuterei in den ukrainischen Streitkräften besteht. Ich habe dafür keine konkreten Hinweise, halte es aber nicht für ausgeschlossen.

Wir haben vor einigen Wochen mit Peter Brandt, Hajo Funke und Horst Teltschik einen konkreten Vorschlag für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen unterbreitet, der genau darauf abzielt, so lange das Land noch nicht implodiert ist und die Russen noch nicht den endgültigen militärischen Sieg errungen haben, für die Ukraine zu retten, was noch zu retten ist. Doch derlei Rufe verhallen, weil unsere Politik sich von Wunschszenarien leiten lässt und nicht von der realen Lage.

Warum sollte sich Russland in der jetzigen Situation auf Verhandlungen einlassen? Es könnte doch in seiner Defensive verharren und dem Ausbluten der ukrainischen Streitkräfte solange zuschauen, bis diese so weit am Boden sind, dass sie einen russischen Angriff nicht mehr abwehren könnten.

Das ist durchaus eine Option. Es gibt in der russischen militärischen Führung zwei Lager: eines um den ehemaligen Oberbefehlshaber in der Ukraine, Sergej Surowikin, der die Strategie der strategischen Defensive geplant und die Errichtung der Verteidigungslinien koordiniert hat, und ein Lager, das offensiver ausgerichtet ist. Bislang dominierte das defensive Lager, nun scheinen jedoch die offensiveren Köpfe die Oberhand zu gewinnen, denn seit ein paar Tagen sprechen die Russen verstärkt von einer „aktiven Verteidigung“.

Da die Ukrainer bislang nur für eine bewegliche Verteidigung aufgestellt sind und offenbar keine festen Stellungen wie die Russen ausgebaut haben sowie personell in einem kritischen Zustand sind, werden sie einem massiven Vorstoß der Russen, wie er sich gerade abzeichnet, kaum etwas entgegenzusetzen haben.

Aber warum sollte sich Russland in einer solchen Lage auf Verhandlungen einlassen?

Putin hat seit Kriegsbeginn immer wieder seine Verhandlungsbereitschaft betont. Am 30. September 2022 rief er die ukrainische Regierung dazu auf, „an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir sind dazu bereit, das haben wir bereits mehrfach erklärt.“ Gegenüber einer afrikanischen Friedensdelegation sagte Putin am 17. Juni 2023: „Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Berücksichtigung der legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht.“ Und erst vor ein paar Tagen hat er seine Verhandlungsbereitschaft wiederholt.

Warum sagt er das? Natürlich steigen mit jedem Kriegstag auch in Russland die humanen und materiellen Verluste. Und im kommenden Jahr findet die nächste Präsidentenwahl statt, da wäre es von Vorteil, wenn der von der Führung „militärische Spezialoperation“ genannte Krieg vorbei wäre. Zumal der Ukrainekrieg auch im russischen Offizierskorps nicht völlig unumstritten ist.

In diesem Zusammenhang lohnt es, noch einmal den Anfang des Krieges zu betrachten. Russland hat im Februar 2022 mit gerade einmal 190.000 Mann ein Land angegriffen, das selbst über 400.000 gut ausgerüstete und ausgebildete Soldaten verfügt. Da es unmöglich ist, mit 190.000 Mann ein Land von der Größe der Ukraine zu besetzen, glaube ich, dass es das anfängliche Ziel Russlands war, Verhandlungen zu erzwingen, und als dies nicht gelang, bis Kiew durchzumarschieren, die dortige Regierung ab- und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen und so das Land unter Kontrolle zu bekommen. Als auch das nicht gelang und die Istanbul-Verhandlungen scheiterten, begann Russland, die überwiegend von russischsprachigen Ukrainern bewohnten Regionen im Osten und Südosten zu erobern und die Eroberungen zu konsolidieren.

Aufgrund dieser Gemengelage – dass der Krieg auch in Russland unpopulär ist und für die politische wie militärische Führung in Moskau nicht abzuschätzen ist, welchen Aufwand er noch erfordern wird, und es ohnehin nicht das Ziel war, die ganze Ukraine zu erobern – macht es Sinn, dass die russische Führung noch immer bereit ist zu verhandeln.

Von der deutschen Öffentlichkeit kaum thematisiert, jährte sich vor ein paar Tagen erstmals die Sprengung der Nordstream-Pipelines. Auch dazu äußerte sich Hersh, nämlich in dem Sinne, dass Bundeskanzler Scholz vorab darüber informiert worden sein soll. Halten Sie das für realistisch?

Ich kann zu Nordstream wenig sagen, weil ich mit den Details nicht vertraut bin. Zwei Dinge sind für mich jedoch erstaunlich. Erstens, dass US-Präsident Biden am 7. Februar 2022 im Rahmen einer Pressekonferenz offen erklärte, dass sein Land im Falle einer russischen Invasion Nordstream ein Ende bereiten werde. Und auf die Frage, wie er das anstellen wolle, versicherte er, über Mittel und Wege zu verfügen, das zu tun. Das kann man als klares Vorabgeständnis interpretieren.

Dass Scholz in dieser Situation nichts gesagt hat, kann natürlich mit seinem Charakter zusammenhängen. Als Palästinenserpräsident Abbas in Berlin neben Scholz stehend den Holocaust relativierte, hat er ja auch nichts erwidert, sondern sich erst Tage später geäußert. Es kann aber auch sein, dass er überrascht davon war, dass Biden öffentlich so über Nordstream sprach.

Hinzu kommt, dass in dieser Angelegenheit nach einem Jahr praktisch keine Ermittlungsergebnisse bekannt sind. Stattdessen stiften alle bisherigen Verlautbarungen eher Verwirrung als Klarheit. Es spricht also einiges dafür, dass die These von Hersh richtig ist. Aber letztendlich wissen wir es nicht.

Vor wenigen Tagen wurde die Welt Zeuge eines verheerenden Angriffs der Hamas auf Israel, dem über tausend Menschen zum Opfer fielen. Die israelischen Gegenschläge erforderten inzwischen noch weit mehr Menschenleben. Nun ist Israel ein enger Verbündeter der USA. Die Hamas hingegen ist ein enger Partner des Iran, der wiederum ein enger Partner Russlands ist. Kann der neue Nahostkonflikt die bereits bestehenden Konflikte beeinflussen?

Der entscheidende Punkt ist, ob dieser Konflikt eingegrenzt werden kann – oder ob er sich ausweitet zu einem regionalen oder sogar globalen Konflikt. Auf regionaler Ebene ist äußerst positiv, dass sich Ägypten und auch Jordanien heraushalten. Offenbar wird es keine Situation wie 1967 oder 1973 geben, als im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg alle arabischen Nachbarstaaten gegen Israel zu Felde zogen.

Das große Risiko besteht in einem möglichen Eingreifen der im Libanon stehenden Hisbollah. Diese ist eine militärisch straff organisierte Miliz, sie ist hervorragend ausgerüstet durch den Iran und eng mit Teheran verbündet. Ein militärischer Konflikt mit der Hisbollah – wodurch auch immer ausgelöst – würde für Israel nicht nur einen Zweifrontenkrieg bedeuten, sondern auch eine Eskalationsgefahr im Hinblick auf den Iran und möglicherweise sogar die Türkei, die sich in einer regionalen Vormachtstellung sieht.

Sollte Israel eine Bodenoffensive gegen den Gazastreifen beginnen, könnte es tatsächlich zu einer Kettenreaktion kommen. Da ich mich Israel aufgrund vieler Begegnungen und persönlicher Freundschaften sehr verbunden fühle, würde ich den Israelis raten, keine Bodenoffensive durchzuführen, sondern zu versuchen, das Problem auf andere Weise zu lösen. Eine andauernde Bombardierung von Häusern, die zwangsweise immer auch unschuldige Zivilpersonen töten würde, würde die Weltöffentlichkeit gegen Israel aufbringen.

Was ich nicht sehe ist, dass aus dem Konflikt im Nahen Osten ein Weltenbrand entsteht. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner haben kein Interesse an einem neuen Kriegsschauplatz, der weitere Ressourcen binden würde. Nicht nur Biden hat versucht zu mäßigen, auch Putin hat mit allen politischen Führern in der Region gesprochen und seine Vermittlung angeboten.

Aber wie immer sind solche Entwicklungen im Fluss. Es kann jederzeit ein dramatisches Ereignis dazwischenkommen, wie zum Beispiel die Bombardierung eines Krankenhauses vor einigen Tagen, durch das sich die Situation verschärft und die Beteiligten – nicht zuletzt durch den Druck der Öffentlichkeit – zu Handlungen gezwungen werden, die sie eigentlich vermeiden wollen.

Sehen Sie andere Krisenherde, die den Konflikt zwischen Russland und den USA befeuern könnten?

Ich glaube, das größte Risiko für den Weltfrieden besteht noch immer in einer Eskalation des Ukrainekonflikts zu einem großen Konflikt mit Russland und China. Admiral Charles Richard, der damalige Oberbefehlshaber des US-Strategic Command, sagte vor einiger Zeit: „Diese Ukrainekrise ist nur das Aufwärmen. Die große Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben.“ Sollte Deutschland tatsächlich Taurus-Marschflugkörper liefern, hätten wir eine neue Situation, weil wir es der Ukraine ermöglichen würden, weit nach Russland hineinzuwirken, strategische Ziele anzugreifen, und damit den Krieg auf ein höheres Niveau zu eskalieren.

Das führt mich zur letzten Frage, ob Deutschland inzwischen personell, strukturell, materiell und strategisch auf diese neue Lage, in der wir uns seit anderthalb Jahren befinden, eingestellt ist.

Eindeutig nein. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir heute weit mehr an der Nabelschnur der US-Amerikaner hängen als je zuvor in den letzten Jahrzehnten. Weder der Bundeskanzler noch irgendein anderes Mitglied der politischen Führung lässt auch nur den Ansatz einer eigenen Strategie erkennen. Das Problem bei dieser Bundesregierung ist eben nicht, dass ihre verantwortlichen Akteure „kriegsgeil“ wären, wie es ihr Kritiker immer wieder unterstellen. Das Problem ist ein gravierender Mangel an Kompetenz und Erfahrung – und somit auch an persönlicher Statur. Deshalb segeln wir – anders als unter früheren Bundesregierungen – nur noch im Geleitzug der Amerikaner mit, ohne die sicherheitspolitischen und strategischen Untiefen auf diesem Kurs zu erkennen.

Besonders erschreckend finde ich auch die Haltung der meisten deutschen Medien dazu. Während Sie in US-Zeitungen regelmäßig kritische Analysen des Geschehens und auch Kritik an der amerikanischen Regierung finden, betrachten es deutsche Journalisten offensichtlich als ihre Aufgabe, alles, was die Bundesregierung macht, zu unterstützen und nichts mehr zu hinterfragen. So werden zum Beispiel Meldungen von Institutionen aus anderen Staaten kritiklos veröffentlicht, wenn sie der Überzeugung der Medien entsprechen, obwohl diese oft reine Propaganda sind. Das Ergebnis ist, dass sich Mitglieder der Bundesregierung trotz des gravierenden Mangels an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen in ihrem Handeln bestätigt fühlen, unser Land derzeit jedoch international nicht erst genommen wird.

Immerhin hat der Bundeskanzler Statur gezeigt und angeblich vorerst die Lieferung von Taurus ausgeschlossen. Er hat diese Entscheidung damit begründet, dass Deutschland in einer anderen Situation als Großbritannien und Frankreich sei. Auf Nachfrage soll er geantwortet haben, dass beide Länder etwas können, was wir nicht dürfen.

Damit bezieht sich der Bundeskanzler anscheinend darauf, dass für den Einsatz von Taurus präzise Geoinformationsdaten für eine komplexe Geländereferenznavigation erforderlich sind. Die entsprechende Systemprogrammierung könnte als direkte Kriegsbeteiligung interpretiert werden. Anders als die USA würde die Bundesregierung damit eine rote Linie überschreiten. Denn mit Taurus-Marschflugkörpern können nicht nur weit entfernte strategische Ziele in Russland angegriffen werden, sondern die Einsätze erfordern wegen der Systemprogrammierung eine aktive Beteiligung an der Einsatzplanung und -vorbereitung. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO könnte zudem in diesem Fall, sinngemäß angewendet, auch eine Entscheidung des Deutschen Bundestages erfordern.

Das Interview führte René Nehring.

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

Hinweis: Das Gespräch wurde vor Beginn der jüngsten israelischen Gegenschläge gegen die Hamas geführt. 


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Kommentare

Patricia von Stahl am 05.11.23, 13:52 Uhr

Großmächte haben schon immer alle anderen erpresst. Das galt für Persien und Rom genauso wie heute für die USA, Russland und China und morgen vielleicht Indien und Brasilien. Der einzige Weg: Heute sein eigenes Land in Ordnung bringen und sich wehrbereit wappnen. Davon ist Deutschland allerdings leider weit entfernt.

Gregor Scharf am 02.11.23, 14:36 Uhr

@sitra achra
Die Ukrainer sind den Weg gegangen, den sie gehen wollten. Ruhm und Ehre für alle, die sich dem Riesen mutig entgegen stellen bis auf den heutigen Tag.
Das Problem ist hier im kriecherichen Westen mit seinen zahlreichen Verrätern zu suchen.
Wer sich erinnert - Mein Kommentar bei Ausbruch des Krieges: Die Ukraine wird das gleiche Schicksal erleiden wie die 6. Armee. Damals wie heute Verrat, falsche Freunde und Führer, die Verführer sind. Merkel hat geliefert und die Narren hier applaudieren ihr noch immer und glauben dem Olaf jedes Wort.
Trotz allem werde ich die Ukrainer weiterhin mit meinen Möglichkeiten unterstützen. Freiheit ist nach der Gesundheit das höchste Gut, was es zu verteidigen gilt. Es treibt einem die Schamesröte ins Gesicht, wenn man sieht, was aus unserem Land geworden ist, vorausgesetzt man hat noch ein Gewissen. Die Salamitaktik zum Hinauszögern des Krieges ist offensichtlich. Wenn sie, de Ukrainer es durchschauen, kämpfen sie morgen an der Seite der Russen gegen uns. Wer könnte es ihnen verdenken.

Kersti Wolnow am 01.11.23, 16:01 Uhr

dass beide Länder etwas können, was wir nicht dürfen.

"Die die Gesetze erlassen, sind nicht gewählt, und die gewählt sind, haben nichts zu sagen" (sinngemäß Seehofer)
"Deutschland war zu keiner Zeit souverän, seit 1945" (Schäuble),. Egon Bahr sprach von einer Kanzlerakte, die nach jeder Regierungsbildung unterzeichnet werden muß. Was brauchen wir noch, um endlich dagegen zu rebellieren?

Winfried Titzmann am 01.11.23, 12:04 Uhr

Die geopolitischen Interessen sind klar. Die BRICS-Vereinigung erstarkt. Ein EURASIEN würde für die USA das wirtschaftliche Ende bedeuten. Sie tun, was sie immer getan haben!

sitra achra am 01.11.23, 12:01 Uhr

Ich sehe es in etwa genauso wie Kujat. Es gibt keine alternative Möglichkeit, als dem Iwan in den Allerwertesteten zu kriechen und auf seine unverschämten Forderungen einzugehen, um nicht endgültig unter die Räder zu kommen und das bißchen nationale Existenz, die man uns nach zwei gegen uns geführten Kriegen gelassen hat, zu bewahren. Mir tun nur unsere ukrainischen Kameraden leid, die ihr Land vor der historischen Vernichtung bewahren wollen. Slawa Ukrajini!

Gregor Scharf am 30.10.23, 15:39 Uhr

Die Situation im Gaza macht deutlich, wie wichtig eine neue, weltweite Sicherheitsarchitektur ist, wenn uns nicht der gesamte Planet um die Ohren fliegen soll. Die innenpolitischen Probleme nehmen überall dramatische Ausmaße an. Es liegt somit im Interesse aller Kriegsparteien, sich an den Tisch zu setzen.
Lenken die Ukrainer jetzt nicht ein, kommt die Walze. Auch wenn das gegenwärtig keiner für möglich hält. Russland hat das Potenzial. Wie viele Menschen islamischen Glaubens leben in dem Riesenreich? Für die ist die Ukraine ein jüdischer Vertreter und die Zahl Freiwilliger, die sich als Gotteskrieger sehen, wird ansteigen. Schach Matt Europa. Noch ist es nicht zu spät. Die Uhr tickt.

Walty Kerry am 30.10.23, 11:51 Uhr

Hunderttausende verblutete junge Männer ... für nichts! Eine vernünftige Friedenslösung ist eigentlich nicht schwer ... und war schon im April 2022 gefunden. Keine NATO in der Ukraine, Ukraine neutral, gerne Mitglied der EU, Krim bleibt bei EU. Warum macht man das nicht? Ist nicht im US-Interesse, genauer im Interesse des dortigen militärisch-industriellen Komplexes bzw. der dirigierenden Oligarchen im Hintergrund, vor denen schon Präsidenten wie Truman, Eisenhower, Kennedy warnten. That's the problem, it is not Putin and his adminsitration. Wer Frieden will, schließt rasch einen Waffenstillstand und handelt einen Friedensvertrag aus und hetzt nicht weiter mit Kriegsrhetorik und dem Versenden immer neue Waffensystemen.

Michael Dr. Holz am 29.10.23, 22:35 Uhr

Sagt das der ehemalige NATO-General Harald Kujat?
Ich kann es kaum glauben, Kujat legt sein NATO-Jäckchen ab und er scheint diesmal deutsche Interessen zu vertreten. Gut Herr General, so werden Sie noch einmal Generalfeldmarschall h.c und Sie haben bei mir was gut, ich grüße Sie wieder militärisch. (;=D))

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