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800 Jahre „Sachsenspiegel“ – Die deutsche Anwendung des mittelalterlichen Rechtsbuch endete erst vor 125 Jahren
Am 1. Januar 1900 endete im deutschen Kaiserreich offiziell die Rechtsprechung auf der Grundlage des historischen „Sachsenspiegels“. Er wurde vom Bürgerlichen Gesetzbuch abgelöst. Der „Sachsenspiegel“ gilt neben dem Mühlhäuser Reichsrechtsbuch als das älteste Dokument der deutschen Rechtsgeschichte und erlangte europäische Bedeutung. Auf seiner Grundlage wurde außer im deutschen Reich auch in anderen Ländern lange Recht gesprochen.
Als Verfasser der Rechtsprosa gilt der ritterliche Schöffe Eike von Repgow aus Anhalt, der in dem Werk den Grafen Hoyer von Falkenstein, den damaligen Stiftsvogt von Quedlinburg, als seinen Lehnsherrn bezeichnet. Die Ausarbeitung mit vielen Abbildungen nahm Repgow wohl vor rund 800 Jahren auf der Burg des Grafen, dem Falkenstein im Harz, vor.
Im Vorwort formulierte der Autor: „Spiegel der Sachsen / Soll dieses Buch sein genannt, / Darin der Sachsen Recht ist bekannt, / Wie in einem Spiegel die Frauen Ihr Antlitz pflegen zu schauen.“ Repgow verdeutlichte zudem seine Absicht, „die Pflicht gegenüber dem Recht lehren“ zu wollen. Das Buch, das aus einem Land- und einem Lehnrechtsteil besteht und mutmaßlich nach einer der ersten, nicht erhaltenen lateinischen Fassung von 1220/21 um 1227 von Repgow ins Niederdeutsch-Elbostfälische seiner Heimat übersetzt wurde, fand in Abschriften besonders im Sog der vielgestaltigen Übernahme des „Magdeburger Stadtrechts“ schnelle Verbreitung im ganzen Reich sowie auch in Teilen Europas wie den Niederlanden, Polen, dem Baltikum oder Russland. Das Buch legt erstmalig Land- und Lehnsrecht schriftlich fest. Damit wurde es zum Vorbild für andere mittelalterliche deutsche Rechtsschriften wie den „Schwabenspiegel“ von 1275 oder den „Deutschenspiegel“, ebenfalls um 1275 entstanden.
Über Eike von Repgow wurde viel geschrieben und spekuliert. Neben seiner Buchschöpfung sind allerdings nur wenige Fakten aus seinem Leben quellenmäßig gesichert. Vieles in früheren Darstellungen beruht auf Zuschreibungen. Nachgewiesenermaßen entstammte er einer edelfreien Familie aus Reppichau zwischen Dessau und Köthen in Anhalt, wo er um 1180 geboren wurde. Aus seiner für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Bildung, die durch den „Sachsenspiegel“ dokumentiert ist, lassen sich mit Sicherheit privilegierte Ausbildungsstätten schließen wie eine Klosterschule seiner anhaltinischen Heimat und die Domschulen von Halberstadt oder Magdeburg.
Repgow beherrschte die lateinische Sprache und kannte sich bestens in der lateinischen sowie frühen deutschen Dichtung aus. Darüber hinaus verfügte er über sehr gute Kenntnisse zur Bibel und war bis ins Detail mit dem überlieferten Gewohnheitsrecht und dessen Rechtsanwendung im Gerichtsgebrauch vertraut.
Ketzerische Rechtsinhalte
Ein Mann mit seinen Kenntnissen war sicherlich nicht nur der Vertraute seines Lehnsherrn, des Stiftsvogtes von Quedlinburg, sondern auch ein Berater der damals mächtigen Askanier, die unter Albrecht dem Bären bis 1170 zwischen Altmark und Thüringen sowie Unterelbe und Oder herrschten, ehe das riesige Territorium im Erbgang zersplittert wurde.
Zu Repgows Lebenszeit regierte über den anhaltischen Teilbesitz Fürst Heinrich I., ein Enkel Albrechts, der sich Graf von Ascharien sowie Fürst von Anhalt nannte und in die Literaturgeschichte als Minnesänger Eingang fand. 1212 trat er im Stammland der Askanier die Nachfolge an. Damit war Heinrich I. auch Landesherr des Grafen Hoyer von Falkenstein, auf dessen Burg der Legende nach Repgow den „Sachsenspiegel“ geschrieben haben soll. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Repgow dank Hoyer als Quedlinburger Stiftsvogt Zugang zur umfangreichen Stiftsbibliothek gehabt, was für den Autor unverzichtbar war.
Bis heute ist aber, abgesehen von der bewiesenen Lehnsabhängigkeit zum Grafen Hoyer, der exakte Status von Repgow unklar. In vielen Schriften wird ihm die Ausübung des Schöffenamtes am Falkensteinschen Landgericht zugeschrieben, was seine detaillierten Rechtskenntnisse erklären würde. Doch selbst für dieses Schöffenamt fehlt ein eindeutiger Quellennachweis.
Zu Repgow sind insgesamt sechs Urkunden überliefert, die aus der Zeit zwischen 1209 und 1233 datiert sind und ihn als Zeugen in Rechtssachen benennen. Für 1227 ist der Erwerb eines Stadthauses in Magdeburg erwiesen, was häufige Aufenthalte in der erzbischöflichen Residenz vermuten lässt. Andererseits deuten Formulierungen im Rechtsbuch auf eine eher kritische Haltung zur Kirche hin. So ist davon die Rede, dass „der Mensch durch Gott frei geschaffen“ worden sei, „Unfreiheit nicht von Gott“ komme. Hinzu kommt eine eindeutige Zurückweisung unangemessener kirchlicher Ansprüche.
Da wundert es nicht, dass vom damaligen Papst allein 14 Artikel des Rechtsbuches als „ketzerisch“ verdammt wurden. Doch dieser römische Einspruch konnte dessen Verbreitung nicht aufhalten.
Neben den Rechtsinhalten umfasst der frühe „Sachsenspiegel“ Illustrationen, welche die Handlungsanweisungen bildhaft ergänzen. Die Palette reicht von der Darstellung der drei Stände sowie von Randgruppen außerhalb dieser Struktur und die Welt der Adligen in ihrer Vielschichtigkeit über den Gerichtsalltag mit Gerichtsherren, Schöffen, Gerichtsdiener, Schergen sowie Henker bis zu Gerichtsurteilen mit dem Dieb am Galgen und Verurteilten, die gerädert werden.
Auffällig ist allerdings, dass in der Rechtsprosa die Bereiche des Dienst-, Hof- und Stadtrechtes fehlen. Das Buch ist in vier frühen Bilderhandschriften, die sich in Dresden, Oldenburg, Wolfenbüttel sowie Heidelberg befinden, zahlreichen späteren Abschriften und Drucken sowie in einigen Fragmenten überliefert. Im Jahr 2002 erschien der „Sachsenspiegel“ als Band 3355 in Reclams Universal-Bibliothek letztmalig als Nachdruck.
Einige besonders progressive Rechtsgrundsätze fanden ihren Niederschlag sogar in der bundesdeutschen Rechtsprechung. Dazu gehören die Artikel über die „Schuldunfähigkeit für Schwangere sowie Geisteskranke“ und die „Wirkungslosigkeit von in Unfreiheit abgegebenen Versprechen“. Ebenso dazu zählt der „Grundsatz vom rechtlichen Gehör“, das „Widerstandsrecht“ und das „Gleichheitsprinzip“, das die Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber jedermann beinhaltet.
Zuletzt berief sich ein Lübecker Gericht 1988 in einem Rechtsstreit um einen Schatzfund unter der Erde auf Repgow. Im Sachsenspiegel heißt es unmissverständlich: „Jeder Schatz, unter der Erde begraben tiefer denn ein Pflug geht, gehört der königlichen Gewalt.“
In den vergangenen Jahrhunderten entstanden viele Schriften, die sich mit der Rechtsprosa befassen. In Reppichau, auf Burg Falkenstein im Harz, in Dessau, Magdeburg und Halberstadt erinnern Denkmäler an den Autor, der vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 1233 gestorben ist. Das exakte Todesdatum und die Grablege sind heute unbekannt.
Dafür erinnert in Berlin der Repgow-Platz an den Autor des „Sachsenspiegel“. Bis ins 20. Jahrhundert gehörte eine Marmorbüste des Rechtsgelehrten zur Denkmalgruppe IV für den Brandenburger Markgrafen Albrecht II. in der ehemaligen Berliner Siegesallee. Und im Nordflügel des Bundesverwaltungsgerichtes in Leipzig gibt es eine Repgow-Skulptur.