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Wirtschaft

Deglobalisierung: Wie eine Welt zerfällt

Mit der Lockdown-Krise und dem Ukrainekrieg ist das jahrzehntelange Erfolgsmodell eines immer enger verzahnten Welthandels in die Krise geraten – mit tiefgreifenden Folgen, besonders für Deutschland

Wolfgang Kaufmann
07.06.2022

Jahrzehntelang galt die Globalisierung als Garant für Wachstum und Wohlstand. Die Konsumenten profitierten von einem gigantischen Warenangebot zu günstigen Preisen, und die Unternehmen fuhren immer größere Gewinne ein, weil sie ihre Kosten kontinuierlich verringern konnten. Globalisierungskritiker, die davor warnten, dass dies nicht ewig so weitergehen könne, wurden verlacht. Die aus der linken Ecke wegen ihrer vermeintlichen ökonomischen Naivität, und die eher Rechtsgerichteten wegen ihres Glaubens an sogenannte Verschwörungstheorien rund um die Machenschaften des internationalen Kapitals.

Dann freilich ereignete sich das, was der Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, Eric Gujer, kürzlich sehr treffend als „Super-Zeitenwende“ bezeichnete: Zuerst kam die Zäsur durch die Corona-Krise und dann führte der russisch-ukrainische Krieg zu einer weiteren grundstürzenden Erschütterung aller bisherigen volks- und betriebswirtschaftlichen Gewissheiten.

Unternehmen mussten ihre Produktion drosseln, wenn nicht gar einstellen, weil die globalen Lieferketten rissen oder die Transportkosten explodierten. Jahrzehntelang war der Container das Symbol einer prächtig prosperierenden Weltwirtschaft und grenzüberschreitender Wertschöpfungsketten, doch plötzlich herrschte Mangel an diesen allgegenwärtigen Frachtbehältern, während sich der Preis für deren Verschiffung, die Frachtraten, binnen kürzester Zeit verzehnfachte. Nicht nur entbehrliche Luxusgüter, sondern auch unverzichtbare Artikel der Daseinsvorsorge wurden knapp, weil sie aus dem Ausland stammten, wo man nun mehr oder minder unverhohlen auf knallharten nationalen Egoismus setzte.

Eben noch närrische Utopie

Und plötzlich mutierte China, die „Werkbank der Welt“, zur globalen Wachstumsbremse und zum wirtschaftlichen Stabilitätsrisiko. Deshalb plant jetzt jedes fünfte deutsche Unternehmen, seine Produktion wieder komplett in die Bundesrepublik zurückzuverlagern beziehungsweise auf Zulieferer im eigenen Lande zu setzen, und die Firmenlenker in anderen Staaten des Westens hegen meist ganz ähnliche Ambitionen. Hierdurch wurde ein Prozess eingeleitet, der bis vor Kurzem noch als närrische Utopie galt. Man bezeichnet ihn als Deglobalisierung. Dabei kommt es zur Abwicklung der internationalen Wirtschaftsverflechtungen und zu einem Ende der unbeschränkten Weltmarktorientierung.

Kennzeichen der Deglobalisierung sind vor allem der ökonomische Nationalismus und der Finanzprotektionismus. Investitionen im Ausland werden reduziert, stattdessen kann sich die einheimische Wirtschaft über staatliche Subventionen freuen, mit denen die Erwartung verknüpft ist, dass es innerhalb der eigenen Grenzen besser floriert als je zuvor. Gleichzeitig trachten die Regierungen danach, den Wert ihrer Währungen durch eine lockere Geldpolitik zu drücken, um so den Export anzukurbeln.

Es winken auch Vorteile

Weitere Zauberwörter sind „Reshoring“ und „Diversifizierung“. Im ersteren Fall wird damit der Prozess der Rückführung der Produktionskapazitäten aus Fernost und anderen weit entfernten Regionen bezeichnet, im zweiteren Fall geht es um das Beibehalten der internationalen Arbeitsteilung – bei gleichzeitiger Suche nach neuen Partnern, um die mittlerweile in vielen Sektoren entstandenen De-facto-Monopole von Staaten wie China aufzubrechen.

Diese Deglobalisierung hat unbestreitbare Vorteile. So führt die Diversifizierung wieder zu mehr Wettbewerb. Und kurze Lieferketten sind im Normalfall auch deutlich stabiler, weil es weniger potentielle Störfaktoren gibt. Selbiges trägt ebenso zur Erhöhung der Versorgungssicherheit bei wie die Produktion von lebensnotwendigen oder strategisch unverzichtbaren Gütern im eigenen Lande. Das alles wiederum stärkt die Widerstandskraft, die Resilienz, von Wirtschaft und Gesellschaft gegen Krisen an anderen Orten der Welt und andere Herausforderungen von außen.

Preise schießen schon jetzt hoch

Hierzu schrieb der einflussreiche bulgarische Politologe und Verfechter eines Europas der Nationen, Ivan Krastev, mit Blick auf die Auswirkungen des Ukrainekrieges: „Wir gehen vom Zeitalter der sanften Macht ins Zeitalter der Resilienz über. Die sanfte Macht war die Strategie des Westens, seine Attraktivität als Waffe einzusetzen. Resilienz ist die Fähigkeit liberal-demokratischer Gesellschaften, andere daran zu hindern, ihre Verwundbarkeit als Waffe gegen sie einzusetzen.“ In diesem Zusammenhang könnte die Deglobalisierung auch zu einem größeren Zusammenhalt der Staaten der westlichen Welt beziehungsweise Europas führen.

Dem steht allerdings eine ganze Reihe von Risiken und Nachteilen gegenüber. Exportnationen wie Deutschland als bisherige Hauptprofiteure der Globalisierung müssten erhebliche Einbußen hinnehmen. Deshalb meinte Bundeskanzler Olaf Scholz unlängst auch beschwörend: „Wir brauchen globalen Wettbewerb und keine Deglobalisierung.“

Hier liegt es auf der Hand, dass die Kosteneffizienz sinkt, was wiederum Auswirkungen auf die Produktionszahlen und somit das Warenangebot haben dürfte. Ganz abgesehen von den Preisen, die zumindest kurz- und mittelfristig nach oben schießen werden – wie bereits jetzt in der noch recht zaghaften Vorphase der Deglobalisierung. Wenn sich Volkswirtschaftler über einen Effekt der weltweiten ökonomischen Entflechtung einig sind, dann ist das die Ankurbelung der Inflation. Sollte das beständige Streben der Unternehmen enden, dort einzukaufen oder zu produzieren, wo es am billigsten ist, dann kommt es zu einem unaufhaltsamen Preisanstieg, obwohl der Anteil der Transportkosten sinkt.

Autokraten könnten profitieren

Und in politischer Hinsicht könnte die Deglobalisierung mit ihrer Tendenz zur nationalen Autarkie eine neue Blütezeit der Autokratie einläuten: Abgeschottete Wirtschaftsräume bringen oftmals Alleinherrscher hervor, die mit Demokratie und Liberalismus nur sehr wenig anzufangen wissen. Ganz abgesehen davon, dass die Deglobalisierung nicht vor neuen Abhängigkeiten bewahrt. Sei es aufgrund der Bindung an eigensüchtige Partner im näheren Umfeld oder der Unmöglichkeit, jedwede lange und fragile Lieferkette durch eine kürzere und stabilere zu ersetzen, weil es einfach keine Alternativen gibt.

Vor diesem Hintergrund stehen die Wirtschaftslenker jetzt vor der Aufgabe, den Prozess der Deglobalisierung, so eine solche denn angestrebt wird, dergestalt zu steuern, dass die Vorteile überwiegen und die Nachteile möglichst wenig zum Tragen kommen. Beispielsweise müssten Staaten wie Deutschland künftig eine aktivere Industriepolitik betreiben.

Mutige Reformen im Innern nötig

Hierzu gehören die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur sowie einer leistungsfähigen wirtschaftsfreundlichen öffentlichen Verwaltung, strategische Regulierungen zum Abbau von unnötigen rechtlichen Hemmnissen, staatliche Beteiligungen an riskanten Großinvestitionen und die konsequente Verhinderung von Firmenübernahmen durch ausländische Konzerne sowie auch der Abwanderung von Schlüsselunternehmen ins Ausland. Darüber hinaus bedarf es maximaler Anreize zur Innovation und einen verschärften internen Wettbewerb. Die Förderung von einheimischen Zombie-Unternehmen, die nicht konkurrenzfähig sind, aber aus sozialpolitischen Erwägungen am Leben gehalten werden, wäre hier vollkommen kontraproduktiv.

Von zentraler Bedeutung für eine fruchtbringende Deglobalisierung ist zudem die Automatisierung beziehungsweise Robotisierung der Produktion. Ohne diese führt das Reshoring aus Billiglohnländern in die Sackgasse, weil der demographisch bedingte Fachkräftemangel im Westen fatale Lohn-Preis-Spiralen in Gang setzen und die Inflation noch weiter anheizen würde. Andererseits benötigt man hierbei aber Augenmaß, damit es nicht zu gesellschaftlichen Verwerfungen durch die übermäßige Freisetzung von Beschäftigten kommt.

Chip-Offensive von EU und USA

Auf jeden Fall ist der Grat zwischen der wohlüberlegten Selbstversorgung unter Nutzung der einheimischen Ressourcen und einer sozioökonomisch nachteiligen Autarkiepolitik reichlich schmal. Deshalb sind Hals über Kopf gestartete Aktionen oder ideologisch gesteuerte Umgestaltungsversuche schädlich. Alternativen zur Deglobalisierung gibt es jedoch keine, weil künftig weitere und möglicherweise noch schwerere Globalisierungskrisen drohen.

So könnten glatte 90 Prozent des weltweiten Angebots an Halbleitern wegfallen, wenn sich die Volksrepublik China entschließen sollte, einen Krieg anzuzetteln, um die „abtrünnige“ Insel Taiwan wieder dem „Reich der Mitte“ anzugliedern. Denn dieser Konflikt hätte sicher massive Produktionsausfälle auf Seiten des Opfers und Boykotte gegen den Aggressor zur Folge. Deshalb will der US-Kongress jetzt auch 50 Milliarden Dollar an Steuergeldern in die Stärkung der Halbleiterindustrie der Vereinigten Staaten investieren, während die Europäische Union gleichfalls ein gigantisches Subventionspaket geschnürt hat, damit der Anteil der EU-Staaten an der weltweiten Chip-Produktion bis 2030 von derzeit neun auf 20 Prozent steigt.


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Kommentare

sitra achra am 10.06.22, 17:38 Uhr

Die Globalisierung ist, wenn man der These des französischen Philosophen Bruno Latour folgt, nur noch Schnee von gestern. Es existieren keine allgemeinverbindlichen globalen Normen, wie man derzeit ausgiebig beobachten kann. Die zentripetalen Kräfte nehmen erheblich zu. Menschliche Solidarität ist auf die jeweiligen "Planeten" beschränkt. Der russische Planet tickt ziemlich anders als die US-amerikanische Raumstation. Zeit zur Neubesinnung.

Chris Benthe am 07.06.22, 08:47 Uhr

Lange darüber nachgedacht. Es gibt einen Weg für Deutschland, einen Teil der global verteilten Produktionsstätten in den Entwicklungsstandort zu remigrieren. Und zwar ohne schädliche Strafzoll-Politik. Es handelt sich um ein integratives Fördermodell für Arbeitsmarkt, Siedlungsstruktur und Industrie-Standort gleichermaßen. Kurz skizziert, sieht dieses Modell wie folgt aus:
Die Uckermark ist der bei weitem strukturschwächste Raum in Deutschland. Hier können Unternehmen angesiedelt werden, die bisher in China produzierten. Diese Unternehmen bekommt man nur dann, wenn die Lohnstückkosten nicht höher als in China liegen. Hier bietet sich die Chance der Verschränkung von Arbeitsmarkt- und Strukturförderungspolitik. Milliarden von Euro verschwinden ungenutzt im Sozialetat, während gesunde, arbeitsfähige Menschen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Dieses Geld kann für Lohnausgleiche für Unternehmen verwendet werden, deren Produktionsstandorte man in die Heimat zurückverlagern will. Es ergehen Angebote an produktionsintensive Unternehmen und Arbeitssuchende, sich an diesem Modell zu beteiligen. Die Unternhemen können zu "China-Bedingungen" konkurrenzfähig produzieren, die Arbeitssuchenden erhalten einen Gehaltsmix aus China-Grundlohn plus Mindestsicherung, die sonst ohnehin im Nirvana der Nutzlosigkeit verprasst würde. Verbunden mit diesem Modell ist die Strukturförderung in der Uckermark, die quasi schon einen entsiedelten Raum darstellt und unendliche Möglichkeiten bietet.
Voraussetzung wäre also die Standortgebundenheit bei gleichzeitig garantierter Arbeitskräfteverfügbarkeit. Die Kommunen vor Ort übernehmen die Sanierung von Straßen, Häfen und Schienen und sichern ausreichend Wohnraum für die neuen Arbeitskräfte. So kommt alles zusammen, was bisher isoliert betrachtet wurde. Deutschland erhielte eine Sonderwirtschaftszone, aus der heraus ein neue wirtschaftliche Zukunft geschmiedet werden könnte.: weniger Arbeitslosigkeit, prosperierende Kommunen, ein neues "Made in Germany". Natürlich bedarf es noch sehr vieler weiterer Komponenten (wie z.B. die Schulung der angeworbenen Arbeitskräfte) und Koordinierungsstellen zwischen Unternehmen und Kommunen, aber das Modell würde funktionieren. Alle würden profitieren.

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