19.04.2024

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Kriminologie

Dem düsteren Geheimnis der Amoktäter auf der Spur

Nach Massenmorden wie in Hamburg stellt sich die Frage: Kann man solche Verbrechen im Vorwege verhindern? Woran erkennt man potentielle Täter? Trotz aller Forschung ist die Antwort ernüchternd

Wolfgang Kaufmann
27.03.2023

Seit dem Amoklauf im Hamburger Alstertal am Abend des 9. März, in dessen Verlauf der 35 Jahre alte selbstständige Management-Berater Philipp Fusz 135 Schüsse im „Königreichssaal“ der Zeugen Jehovas abgab und dabei sechs Erwachsene sowie ein ungeborenes Kind und sich selbst tötete, wird über die Gründe des Täters spekuliert, eine derart monströse Bluttat zu begehen. Dabei kommen auch Trittbrettfahrer zu Wort, die den islamischen Terrorismus mit Verweisen auf den angeblichen „christlichen Extremismus“ von Fusz zu relativieren versuchen oder die üblichen Pauschalverdächtigungen gegen Besitzer legaler Waffen äußern.

Allerdings bleibt bei den Deutungsversuchen in der Regel außer Acht, dass Amokläufe stets die Folge eines einzigartig komplexen Puzzles sind, welches extrem schwer zusammenzusetzen ist. Vor allem, wenn der Täter selbst aufgrund seines Suizids nicht mehr befragt werden kann. Dennoch gibt es mittlerweile zahlreiche kriminologische, soziologische und psychologisch-medizinische Erkenntnisse über den Hintergrund von Amokläufern und die Auslöser für deren Blutrausch, welche auch im Falle Fusz einige Erklärungen liefern.

Auf jeden Fall passt der Hamburger Täter perfekt ins demographische Raster: Er war wie die absolute Mehrheit der bisherigen Amokläufer männlich, im Alter zwischen 30 und 40 sowie alleinstehend und auch sonst sozial isoliert.

Viele Parallelen in den Profilen

Ebenso weiß man inzwischen einiges über Fusz' Persönlichkeit, das dem üblichen Muster entspricht. Dass er unter einer Scheinfirmenadresse in einer der exklusivsten Gegenden Hamburgs „residierte“ und für seine Beraterleistungen 250.000 Euro pro Tag plus Mehrwertsteuer zu kassieren gedachte, obwohl ihm die einschlägigen Qualifikationen fehlten, zeugt von grotesker Selbstüberschätzung, wie man sie häufig bei Amokläufern findet. Verantwortlich hierfür ist zumeist eine paranoide Persönlichkeitsstörung. Diese führt gleichzeitig zu verstärkter Kränkbarkeit und Misstrauen gegenüber allen Personen aus dem Umfeld, welche an der glänzenden Fassade des eigenen Ichs kratzen. Das könnte die Ursache dafür sein, dass Fusz sich von der nunmehr attackierten Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas trennte, der er anderthalb Jahre angehört hatte.

Und dann wäre da noch Fusz' mehr als 300 Seiten umfassendes Buch „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan: Eine neue reflektierte Sicht von epochalen Dimensionen“, das er am 22. Dezember veröffentlichte. Es enthält eine bizarre Mischung aus Deutungen von Bibeltexten und Management-Floskeln, die ebenfalls von höheren Ambitionen zeugt und zugleich auf die Abwertung der Zeugen Jehovas hinausläuft, indem sie diesen die Fähigkeit abspricht, angemessen zwischen Gott und den Menschen vermitteln zu können.

Darüber hinaus litt der Täter möglicherweise unter einer parallelen Psychose, was gleichermaßen auf die Mehrheit aller Amokläufer zutrifft. Kriminologische Studien aus den USA wie die von Anthony Hempel, John Meloy und Thomas Richards kommen zu dem Ergebnis, dass bis zu zwei Drittel der Täter nicht nur Persönlichkeitsstörungen aufweisen, sondern auch unerkannte schwere psychische Krankheiten wie Schizophrenien.

Nach Auskunft der Hamburger Polizei erhielt sie im Januar 2023 den anonymen Hinweis, dass der Sportschütze Fusz, welcher seit Kurzem im legalen Besitz einer Selbstladepistole vom Typ Heckler & Koch P30 sei, wahrscheinlich eine Geisteskrankheit habe, die nicht behandelt werde. Allerdings erbrachte die daraufhin erfolgte unangekündigte Kontrolle in Fusz' Wohnung am 7. Februar keinerlei Auffälligkeiten hinsichtlich seiner mentalen Verfassung oder der Aufbewahrung von Waffe und Munition. Damit waren den Sicherheitsbehörden letztlich die Hände gebunden.

Therapien laufen oft ins Leere

Andererseits ist eine rechtzeitige Erkennung und Behandlung von Schizophrenien oder anderen Psychosen ebenfalls kein Garant für die Verhinderung von Amokläufen. Vielmehr führt oftmals gerade erst die Einnahme von Psychopharmaka, welche eigentlich das Gegenteil bewirken sollen, zu einer gesteigerten Aggressivität und Destruktivität in Kombination mit selbstzerstörerischen Tendenzen. Spektakuläre Beispiele hierfür sind der „Batman-Killer“ James Holmes, Eric Harris vom Columbine-Schulmassaker, der Las-Vegas-Schütze Stephen Paddock und der Isla-Vista-Amokläufer Elliot Rodger, auf deren Konto 84 Tote gehen.

Sie alle nahmen entweder Antidepressiva oder angstvermindernde beziehungsweise konzentrationssteigernde Medikamente wie Valium, Ritalin und Xanax sowie die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Zoloft, Prozac, Paxil und Luvox. Laut einer systematischen Analyse sämtlicher großer Amokläufe in den USA in der Zeit zwischen 1985 und 2015, deren Ergebnisse Stephen Singular in seinem Buch „The Spiral Network“ publizierte, hatten sehr viele der Täter solcher Medikamente konsumiert.

Ansonsten gibt es außer den fatalen Nebenwirkungen von Psychopharmaka zahlreiche andere Auslöser, welche die tickenden menschlichen Zeitbomben unversehens explodieren lassen. Zu nennen wären hier Faktoren wie anhaltende Schikanen oder Mobbing im Beruf, Arbeitslosigkeit, Partnerschaftsprobleme, unverschuldete Schicksalsschläge, Verlust an Lebensqualität durch körperliche Leiden, Konflikte mit Behörden oder Nachbarn und psychosoziale Entwurzelung, wie sie möglicherweise auch der alleinstehende Fusz nach seiner Trennung von der Zeugen-Jehovas-Gemeinde erlebt hat. Das alles kann für starke, aber von außen nicht ohne Weiteres erkennbare Rachegelüste sorgen, welche dann beim geringsten Anlass zum Gewaltausbruch führen.

Angesichts der Vielzahl von Ursachen ist es leider nahezu unmöglich, solche tragischen Ereignisse wie in Hamburg vorherzusehen und zu verhindern. Letzteres gilt auch für die regelmäßig angekündigten Verschärfungen der Waffengesetze nach Amokläufen. Die Täter benötigen nicht unbedingt Schusswaffen, um viele Menschen zu töten. Das beweisen unter anderem jene Vorfälle, bei denen Kraftfahrzeuge oder Hieb- und Stichwaffen zum Einsatz kamen.


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Kommentare

sitra achra am 04.04.23, 17:11 Uhr

Mein Vorschlag zur psychischen Prophylaxe: jede Person ab 16 Jahren muss alle 5 Jahre zum Psychotüv zwecks Überprüfung der psychischen Zuverlässigkeit. Waffenträger sollten noch genauer unter die Lupe genommen werden.
Beim geringsten Verdacht auf bedenkliche Symptome muss die Waffenerlaubnis widerrufen werden.

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