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Kultur

„Den sogenannten Osten besser verstehen“

Ein kürzlich erschienener Band erklärt die DDR von A bis Z – Mit Ostalgie hat dieser aber nichts zu tun

Silvia Friedrich
10.06.2021

In „Elf 99 Kapiteln“ machen die Herausgeber Kai Witzlack-Makarevich, Coretta Storz und Nadja Wulff einen Rückblick auf die DDR. Vom leichtzüngigen Titel „Von Alfons Zitterbacke bis Zonen-Gaby“ sollte man sich nicht täuschen lassen, denn das Werk hat es in sich. Ein Gespräch mit Witzlack-Makarevich gibt Aufschluss:

Wie ist dieses Buch entstanden?
Das Buch entstand aus einem Lehrbuch heraus, das Ende 2020 erschienen ist. Ich arbeite seit einigen Jahren als Deutschlektor an der Universität in Ostrau in Tschechien, und die Kulturgeschichte der DDR gehört als Teil deutscher Geschichte zum Lehrplan wie die Reformation, das Kaiserreich, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die Geschichte der Bundesrepublik. Leider gibt es zur DDR wenig geeignetes Unterrichtsmaterial.

Warum fast 32 Jahre nach der sogenannten Wende diese Zeitreise in einen Staat, den es nicht mehr gibt?
Diese Frage hören wir öfter, und so richtig verstehen wir sie nicht. Wer ein Buch über das Heilige Römische Reich vorlegt, dem wird sie bestimmt nicht gestellt. Aktuell ist die Geschichte der DDR für das Verständnis der Vorgänge in unserem Land, vor allem in dessen östlichem Teil, sicherlich nicht weniger relevant. Ich hoffe, dass in dieser Frage fast 32 Jahre nach der Wende inzwischen Konsens besteht.

Wer sind die Autoren?
Die Autoren haben zumeist bereits am Lehrbuch mitgewirkt. Sehr viele der 110 Texte stammen von den beiden Mitherausgeberinnen und von mir. Viele hat auch Thomas Kolitsch beigetragen, der 2017 mit dem Deutschen Lehrerpreis ausgezeichnet wurde. Andere kommen zum Beispiel von DAAD-Lektoren aus Polen und Tschechien, also von Kollegen, von Deutschlehrern, Germanisten, Journalisten und von Professoren verschiedener Fachrichtungen. Auch meine Studierenden haben Texte geschrieben. Ein Student wusste, was Jugend, Werk und Hof bedeuten, von einem Jugendwerkhof hatte er jedoch noch nichts gehört. Nach seinen Recherchen zu diesem dunklen Kapitel der DDR-Geschichte könnte er heute in der Gedenkstätte Torgau Führungen übernehmen. Die Vielfalt der Autoren ist die große Stärke des Buches. Eigentlich dürfte ich als Herausgeber niemanden herausheben, aber dass Frau Heidelore Rutz, die im Frauen-Gefängnis Hoheneck inhaftiert war, den Beitrag über Hoheneck geschrieben hat, macht mich ein wenig stolz.

Woher stammen die Fotos im Buch?
Zu jedem Beitrag gibt es ein Schwarz-Weiß-Foto. Das Buch ist auch ein Bildband über die DDR mit 110 Fotos professioneller Fotografen aus privaten Archiven, der DEFA-Stiftung, dem Mosaik oder auch von der Staatssicherheit. Und von der „Titanic“ haben wir ihre Zonen-Gaby aus dem Jahr 1989 bekommen.

An wen ist das Buch gerichtet?
Das Buch richtet sich an alle mit Interesse an diesem Abschnitt der jüngsten deutschen Geschichte. Wer die DDR aus eigenem Erleben kennt, wird viele Erinnerungsanker finden und sicherlich auch einige Hintergrundinformation bekommen. Wer im Osten Deutschlands wohnt, aber die DDR nicht selbst erlebt hat, wird vielleicht das eine oder andere besser einordnen können, etwa warum die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Osten ganz anders diskutiert wird als im Westen. Die DDR war viel mehr als „Mauer“ und „Stasi“, auf die sie oft reduziert wird. Das greift viel zu kurz und erschwert das Verständnis, etwa der heute verbreiteten Ostalgie in den östlichen Bundesländern. Trotzdem ist „Von Alfons Zitterbacke bis Zonen-Gaby“ kein launiges Ostalgiebuch. Zur Unrechtsstaatsdebatte gibt es etwa einen eigenen Beitrag.

Aus welchem Teil Deutschlands kommen Sie?
Ich stamme aus Ilmenau im Thüringer Wald, 1990 war ich 16 Jahre alt. Viele Autoren haben aber keinen Tag in der DDR verbracht oder waren nur zweimal dort, wie ein Autor aus Heidelberg, der über eine Klassenfahrt zum Klassenfeind geschrieben hat. Der Mitherausgeberin Storz wurde Kompetenz abgesprochen, weil sie angeblich zu jung ist, um sich mit der DDR auszukennen. Da fehlen mir die Worte. Von keinem, der sich zur Schlacht im Teutoburger Wald äußert, wird erwartet, dass er sich an Arminius' Seite auf die römischen Legionen gestürzt hat.

Gibt es persönliche Intentionen, den DDR-Alltag Menschen der heutigen Zeit nahezubringen?
Zum einen geht es darum, dass wir der Auffassung sind, dass man den sogenannten Osten besser verstehen kann, wenn man sich der DDR-Geschichte und -Kultur zuwendet. Zum anderen halten wir ein Wissen über die Geschichte und Kultur der DDR als Teil der Geschichte und eben auch der Kultur Deutschlands für relevant und wissenswert. Auch weil umfassendes Wissen davor schützt, die Ostvergangenheit zu instrumentalisieren oder in Ostalgie-Erzählungen zu verharmlosen.

Haben Sie weitere Pläne mit dem Buch?
Es wäre schön, wenn wir das Buch bei Lesungen vorstellen könnten. Gerade wird eine Übersetzung des Buches ins Tschechische vorbereitet, zusammen mit Studierenden aus Ostrau und Brünn. Die Beiträge werden um kulturelle Bezüge zwischen der DDR und der ČSSR erweitert. Da lerne auch ich richtig viel. Das bekannte Sandmann-Lied kommt auch in einem tschechischen Kultfilm aus den 1980ern vor. Tausende Tschechen kennen es also, aber ohne zu wissen, woher es stammt. Im Hinterkopf habe ich auch eine Übersetzung und Adaption des Buches für das polnische Publikum.

Das Interview führte Silvia Friedrich


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Kommentare

Lukas der Alte am 14.06.21, 12:42 Uhr

ich bin dort aufgewachsen und hab bis kurz vor der wende die gesamte zeit von den 50'er jahren an am eigenem leib miterlebt: man kann über unseren osten schreiben was man will, es kommt nie an das wahre erlebnis heran und wer nur die "letzte" zeit als baby oder heutiger "zeitgenosse der erinnerungen" zur zeit kurz vor oder zur wendezeit kennengelernt hat, der hat den osten nie richtig erlebt und kann sich wohl kaum ein echtes urteil überdas leben, dasein und zeitlichen entwicklungen erlauben. man kann nicht beschreiben was man selbst nicht erlebt hat. sorry, aber ist das leider nun mal mit der wahren ostalgie nebst delikatläden zentrumkaufhäusern. intershops, stasi, vopos etc.

Siegfried Hermann am 11.06.21, 10:20 Uhr

Ich bin als Wessi ja nur jahrelang Transit gefahren.
Kaffee Komplett für 88 Pfennig weiß ich noch, aber an diese Vogelscheuche kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Die Spritpreise von damals glaubt heute auch keiner mehr. 40 Cent der Liter super. Um 50 Cent zum Ende.
Nebenbei:
Warum nicht jemand auf die Idee gekommen ist Machdeburg als nostaglische VEB-Raststädde zu erhalten, samt Vopo-Parkplatz und Lada drauf, gelle, Intershop und diese urigen Klos von damals...ok zum Anschauen...
Das wär doch was!

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