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Der 20. Juli und das heutige Deutschland

Das Attentat auf Hitler im Sommer 1944 ist eines der wenigen Ereignisse, die die deutsche Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Umso bedrückender, dass kaum noch etwas über die geistigen Fundamente des Widerstands bekannt ist

Peter Steinbach
19.07.2024

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur – ebenso wie die Emigranten – in Deutschland wenig. Erst in den fünfziger Jahren setzte ein Wandel ein, vor allem im Rahmen der deutschen Wiederbewaffnung. Nun wurde der militärische Widerstand geradezu zur Legitimationsgrundlage der gerade aufgestellten Bundeswehr. „Offiziere gegen Hitler“ – das war nicht nur der Titel des ersten Buches zur Geschichte des Widerstands, geschrieben von Fabian von Schlabrendorff, sondern auch der Ausdruck einer grundlegenden Umwertung der Auflehnung gegen das Unrecht, wenngleich die damit gezeichneten Bilder nicht immer wirklichkeitsgetreu waren.

Nach dem von Schlabrendorff überlieferten und noch immer beeindruckenden Diktum von Henning von Tresckow wurde das Attentat vom 20. Juli 1944 – nach einer ganzen Reihe erfolgloser Versuche zuvor – von den Regimegegnern als Zeichen eines anderen Deutschlands verstanden, das vielleicht einmal allein wegen der Tat an sich, die den Zeitgenossen nicht selten als „Verrat“ galt, dem deutschen Volk helfen würde, den Weg in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückzufinden. Tatsächlich machte nach 1945 das Wissen um individuelle Alternativen zur kollektiven Anpassung an die NS-Diktatur und zur Folgebereitschaft in den Krieg die jüngere Geschichte für viele Deutsche um einiges erträglicher.

Auch außenpolitisch, vor allem in der Phase der Integration der beiden deutschen Staaten in ihre jeweiligen Bündnisstrukturen, war die Möglichkeit, auf „das andere Deutschland“ verweisen zu können, hilfreich. Nicht nur die Bundesrepublik hatte um ihre Anerkennung zu kämpfen – auch die DDR musste sich immer wieder mit Vorbehalten ihrer mittel- und osteuropäischen Nachbarn, die offiziell Bruderstaaten waren, jedoch über ein intaktes historisches Gedächtnis verfügten, auseinandersetzen.

Weit mehr als ein Militärputsch
Prägend im Inneren – hier allerdings nur in der Bundesrepublik – wurde die Erfahrung des Widerstands auch für die Bestimmung der Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum. Dies gilt in besonderer Weise für die Entwicklung eines Leitbildes, welches seit der Mitte der fünfziger Jahre eine neue militärische Tradition zu begründen hatte: das Konzept der „inneren Führung“, das die Funktion einer demokratisch legitimierten „bewaffneten Macht“ in einem freiheitlichen Verfassungsstaat reflektierte und zugleich das Grundproblem der Stellung des Soldaten in einer „Bürgergesellschaft“ zu lösen hatte.

In den auch in der Gegenwart immer wieder aufbrechenden geschichtspolitischen Kontroversen um den Widerstand geht es zumeist nicht mehr um dessen Anerkennung an sich, sondern vielmehr um eine Rangfolge der „Würdigkeit“ der Regimegegner, die aus verschiedenen politischen Lagern, Richtungen und Traditionen stammten. Dem historischen Geschehen gerecht werden diese vergleichenden, ja konkurrierenden Perspektiven nicht immer. Denn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kooperierten – vermutlich erstmals in dieser Form überhaupt – verschiedenste politische, kirchliche, gewerkschaftliche und militärische Kreise, ohne ihr jeweiliges Selbstverständnis preiszugeben. Ohne Zweifel musste dabei den Zivilisten zunächst das Moralgefüge der Soldaten fremd bleiben, also jene Zusammenhänge zwischen Befehl und Gehorsam, zwischen dem soldatischen Eid und der Bereitschaft zum Einsatz des Lebens.

Und auch wenn sowohl die Zeitgenossen als auch die Geschichtswissenschaft lange um die Deutung des soldatischen Widerstands im „Dritten Reich“ gerungen haben, so ist heute doch gemeinhin anerkannt, dass die militärische Opposition nicht auf einen „Staatsstreich“ hinwirkte, sondern vielmehr auf einen in höheren Militärkreisen um Generaloberst Ludwig Beck, Oberst Hans Oster, Sonderführer Hans von Dohnanyi und Generalleutnant Paul von Hase seit 1937/38 geplanten Versuch eines gesamtgesellschaftlichen Umbruchs, für welchen das Attentat auf den verhassten Diktator Hitler lediglich das Fanal sein sollte. Die vielfältig dokumentierten Kontakte zwischen der militärischen und der zivilen Opposition belegen, dass es niemals allein um einen Militärputsch, sondern um die Öffnung von Freiräumen für die politische Gestaltung durch zivile Politiker nach dem Ende der Diktatur ging. Welchen Wert ein Erfolg dieses Umsturzversuches gehabt hätte, zeigt sich daran, dass mehr als die Hälfte aller Toten des Zweiten Weltkrieges erst nach dem 20. Juli 1944 zum Opfer des Grauens wurden.

Die Quellen des Widerstands
So anerkannt die Ziele des militärischen Widerstands heute auch sind, so wenig erinnert oder gar gewürdigt werden die Quellen, aus denen sich dieses Handeln speiste. Dabei ist schon ein Begriff wie „soldatischer Widerstand“ erläuterungswürdig, bezog er sich doch bis zur Errichtung der NS-Herrschaft landläufig auf das tapfere Halten einer Position im Felde gegen einen vordringenden Gegner.

Die deutschen militärischen Traditionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fußten wesentlich auf den Erfahrungen des preußischen Heeres. Die Triumphe unter Friedrich dem Großen im 18. Jahrhundert waren ebenso prägend wie der Zusammenbruch im Jahre 1806/07. Einer der wichtigsten Grundsätze sowohl des preußischen Heeres als später auch der gesamtdeutschen Armeen war der 1832 von Carl von Clausewitz in seinem Buch „Vom Kriege“ formulierte „Primat des Politischen“. Schon damals galt als Konsequenz aus der Ära der Befreiungskriege und der Reformzeit der Grundsatz, dass das Militär kein Staat im Staate war, sondern lediglich das „Werkzeug“ der politischen Führung.

Erst vor diesem Hintergrund der langen Verschränkung von Militär und Staat wird das Ungeheure sichtbar, das sich im Rahmen des 20. Juli 1944 ereignete. Tief verwurzelt im Verständnis des Obrigkeitsstaates vom Auftrag der bewaffneten Macht, versuchten zumeist jüngere Offiziere in Abstimmung mit einigen Freunden, welche zwar Uniform trugen, aber im Grunde ihres Herzens Zivilisten geblieben waren – wie Moltke, Yorck, Dohnanyi, Beck – das Blatt zu wenden und weiteres Unheil von ihrem Vaterland abzuwenden. Und zwar nicht, dies sei noch einmal betont, um sich selbst an die Macht zu putschen, und schon gar nicht, um in letzter Minute die eigene Haut zu retten, wie es sowohl die Nationalsozialisten als auch die DDR-Führung lange Zeit mit einer gewissen Resonanz im Westen propagierten, sondern allein, um die Gefährdung der Substanz des eigenen Staates durch die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten zu beenden und um politische Lösungen vorzubereiten, die Deutschland trotz der Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation eine totale militärische Katastrophe erspart hätten.

Preußen lieferte indes nicht nur die Vorbilder für die Gültigkeit des Primats des Politischen, sondern auch dafür, wann dieser Grundsatz aufgehoben ist – nämlich dann, wenn die politische Führung des Staates selbst gegen dessen ethische und juristische Normen verstößt. Dramen wie „Der Prinz von Homburg“ von Heinrich von Kleist, die Romane Theodor Fontanes sowie später auch Essays in der „Weltbühne“ belegen die lange Präsenz dieses Denkens in der preußischen Gesellschaft quer durch alle Schichten hindurch.

Das Recht auf Ungehorsam
Es gab aber nicht nur abgeleitete, sondern auch genuin militärische Normen für eine Abweichung von Befehlen und eine Verleugnung von Loyalitäten. Jeder Offizier kannte die entscheidenden Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches, vor allem den von Axel von dem Bussche immer wieder akzentuierten „Notwehrparagraphen“, und viele hatten sich innerlich wohl auch mit den berühmten Akten eines als vorbildlich gedeuteten militärischen Ungehorsams auseinandergesetzt, welche zugleich die Grenzen des soldatischen Gehorsams und damit die entscheidenden Voraussetzungen soldatischer Eigenständigkeit bezeichneten.

Häufiger Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Ermahnung von Prinz Friedrich Carl von Preußen an seinen General Yorck in der Poscheruner Mühle: „Seine Majestät hat Sie nicht deshalb zum Offizier gemacht, damit Sie einfach alle Befehle ausführen, sondern damit Sie auch wissen, wann Sie Befehle nicht ausführen müssen.“ Hier wird deutlich, dass keineswegs der Zusammenhang zwischen Befehl und Gehorsam das ethische Grundproblem des Soldaten darstellt, sondern vielmehr die exakte Markierung der Grenzen des Befehls als Voraussetzung der Verweigerung von Gehorsam. Verweigerung des Gehorsams, etwa in der Form des „Nichteinverständnisses mit einem dienstlichen oder taktischen Befehl“, konnte sogar die Befehlsverweigerung legitimieren, wenn sich herausstellte, dass die Nichtdurchführung des Befehls angemessener war als der „Kadavergehorsam“.

Eine neue Dimension der Befehlsverweigerung trat im Zuge weltanschaulicher Auseinandersetzungen seit der Französischen Revolution auf: Es ging nun nicht mehr um Monarchen und Dynastien, sondern um Staaten und Nationen. Offiziere, die sich einem Befehl widersetzten, konnten gerade dadurch nicht selten das höhere Interesse einer Nation vertreten. Dies wurde deutlich in den Befreiungskriegen des frühen 19. Jahrhunderts, als preußische Offiziere, die sich den Kapitulationsbefehlen ihres Königs offen widersetzten, durch spätere Entwicklungen gerechtfertigt wurden. Dies betraf etwa den General Yorck, als er sich in der Konvention von Tauroggen gegen seine Führung stellte. Hier wird eine neue Form der Begründung militärischen Ungehorsams sichtbar: die Rechtfertigung aus einem höheren Interesse heraus, das sich am „Bestand der Nation“ – so ein 1938 von Beck benutzter Begriff – orientierte.

„... wo Gehorsam nicht Ehre brachte“
„Befehlsverweigerung“ zielte so auf mehr als nur auf die Verweigerung eines dienstlichen Auftrags. Ihre, häufig erst nachträgliche Rechtfertigung speiste sich aus der Einsicht in die begrenzte Legitimität einer politischen Führung. Eid und Treue, Befehl und Gehorsam konnten, das wusste Beck, außer Kraft gesetzt werden. Das höhere Recht der Nation, aber auch der Wille, sich durch eine Kollaboration mit der NS-Diktatur persönlich nicht in Schuld verstricken zu lassen, bestimmten somit auch die Überlegungen der NS-Gegner und mündeten schließlich in die Bereitschaft, lieber den Tod in Kauf zu nehmen als sich selbst und die Nation mit rechtswidrigen oder gar verbrecherischen Befehlen zu belasten.

Wie tief die Ablehnung eines unehrenhaften Verhaltens im preußischen Staatsverständnis verankert war, zeigt auch das Beispiel des Johann Friedrich von der Marwitz, der sich im Siebenjährigen Krieg weigerte, den Besitz des sächsischen Grafen Brühl zu plündern und lieber seinen Dienst quittierte, als den Ehrenkodex eines Offiziers zu verletzen, der kein Landsknecht mehr sein wollte. Fontane hat diese Geschichte eindrucksvoll überliefert, und Theodor Heuß hat in seiner großen Rede an der Freien Universität Berlin zum zehnten Jahrestag des Anschlags vom 20. Juli 1944 im Jahre 1954 daran erinnert, als er den Spruch auf Marwitz' Grabstein zitierte: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“

Ungnade, das war nicht Unehre. Das machte es auch der militärischen Opposition gegen Hitler leichter, sich gegen die persönlichen Interessen und Bindungen zu entscheiden, und dafür nicht länger Schuld auf sich zu laden. Auch 80 Jahre nach dem 20. Juli 1944 lohnt es, zurückzuschauen auf die Tat und die Motive jener, die damals den „entscheidenden Wurf“ wagten – sowie auf die Traditionen, auf denen ihr Handeln fußte.

Prof. Dr. Peter Steinbach lehrte Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Passau, Karlsruhe und Mannheim sowie an der FU Berlin. Er ist Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.


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Kommentare

Ralf Pöhling am 22.07.24, 00:48 Uhr

Es gibt im rechten Lager auch heute noch welche, die die Attentäter vom 20.Juli als Verräter ansehen. Und zwar eindeutig zu unrecht. Nicht nur dass bei einem erfolgreichen Attentat ein erheblicher Teil der Opfer des Zweiten Weltkrieges niemals die Opfer geworden wären, die uns heute noch anhängen, es kommt noch ein anderer, ganz gravierender Punkt hinzu:
Die rote Armee hätte Berlin niemals eingenommen und Deutschland wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals unter den Alliierten aufgeteilt worden und so lange besetzt gewesen. Unabhängig von jedweden Grausamkeiten die im Zweiten Weltkrieg begangen worden sind, muss man festhalten dass die ursprünglichen Kriegsziele am Ende nicht nur nicht erreicht worden sind, die Folgen für Deutschland waren im Endeffekt sogar viel gravierender, als die Folgen des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg. War Deutschland nach Versailles nur teils besetzt und musste Reparationen zahlen, wurde es nach Hitlers Amoklauf quasi zerschlagen und verlor damit den ganzen Osten an die Bolschewisten. Und woran lag das? An Hitler selbst. Es war ein grundlegender Fehler, das Dritte Reich und die Wehrmacht auf eine einzige Person einzuschwören, denn damit war das gesamte Konstrukt nicht nur von dieser einen Person abhängig, es ließ auch keine strategischen Korrekturen mehr zu. Während die ersten Offensiven noch durch die preußischen Strategen alter Schule wie von Manstein erfolgreich durchgeführt wurden, drängte Hitler diese im Laufe des Krieges nach und nach aus der Verantwortung und ersetzte sie durch Bücklinge und Ja-Sager, die einfach nur noch seine eigenen kruden Befehle umsetzen sollten. Die dann auf dem Schlachtfeld nicht nur für das sinnlose Verheizen des Gegners und der Juden sorgten, sondern auch für das Verheizen der eigenen Soldaten. Stichwort: Stalingrad. Hitler selbst betrieb ab der zweiten Hälfte des Krieges also aktive Wehrkraftzersetzung mit seinen unsinnigen Befehlen, Stellungen bis zum Untergang zu halten. Und wenn man weiß, dass Hitler im Laufe des Krieges durch die Belastung immer kränker und dies mit immer mehr Medikation kompensiert wurde, so muss man festhalten, dass das Dritte Reich und die Wehrmacht ab der zweiten Hälfte des Krieges durch einen vernebelten Drogenjunkie angeführt worden war. Einen Drogenjunkie, den man über den Militärapparat nicht mal mehr absetzen konnte, weil der gesamte Militärapparat nur auf diesen einen Drogenjunkie eingeschworen war. Ein solches System, was auf Gedeih und Verderb das Schicksal einer ganzen Nation in die Hände eines einzigen Mannes legt, ist ein dysfunktionales System was nicht 1000 Jahre währt, sondern mit dem Verfall dieser einzelnen Person unweigerlich untergehen muss. Nein, die Attentäter vom 20. Juli waren keine Verräter an Volk und Vaterland. Sie waren das genau Gegenteil davon. Sie wollten Deutschland vor dem Untergang bewahren. Weil Hitler offenkundig nicht mehr zurechnungsfähig und auf anderem Wege nicht mehr loszuwerden war. Eine solche Situation rechtfertigt eindeutig den Königsmord. Der Erhalt von Volk und Vaterland gehen über jede Personalie. Und zwar auch über die oberste.

Peter Faethe am 20.07.24, 14:37 Uhr

Alle Jahre wieder – wie der Fasteloovend - wird aufwendig des weitbeschreyten Juliputsches gedacht, wobei heuer das Gedenken besonders feierlich ist, weil gleichzeitig das Dezimalsystem (Pythagoras sei Dank) geehrt wird.
Der Juli-Putsch 1944 wurde von relativ wenigen Offizieren versucht, während min 90 Prozent der Deutschen für das Attentats-Ziel max Sympathie empfanden. Überdies war der Adel unter den Putschisten stark überrepräsentiert – unter den vier in der Nacht zum 21. Juli im Hof des OKH standrechtlich hingerichteten Offizieren waren ein Graf, ein Baron und ein Ritter.
Nachahme-Täter des Sprengstoffanschlags im FHQ sind hier und heute nicht zu befürchten, da der Anteil der besonders destruktiven geistig Minderbemittelten in unserer Polit-Elite viel zu groß ist.

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