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Weihnachten

Der Engelschnitzer vom Samland

Alljährlich wartete Peter Macheit am Heiligen Abend auf seine Angebetete – Eine Weihnachtserzählung

Irmgard von Stein
24.12.2023

Er, der das kleine, jetzt schon ein wenig windschiefe Haus, das sich hinter der samländischen Steilküste in eine wiesenbegrenzte Talmulde duckt, bewohnte, ist nun schon lange tot. Er ruht auf dem verschwiegenen Dorffriedhof unter einem mächtigen Stein, auf dem zu lesen steht: „Peter Macheit bleibt unvergessen.“

Und wirklich – der Verstorbene lebt im Andenken jener schweigsamen, aber Treue haltenden ostpreußischen Menschen fort, die noch ihren Kindern und Enkeln von Peter Macheit, dem Engelschnitzer und Wohltäter erzählen.

Als er jung war, der blonde Riese, trug er die blaue Uniform der Kriegsmarine mit glücklichem Stolz. „Der schmucke Kreuzer ist meine Liebe und die Mädels meine Liebsten“, pflegte er lachend zu sagen und küsste herzhaft jeden roten Mund, der sich ihm bot. Und es waren viele Lippenpaare, die dem jungen Seemann Landurlaub und lustig durchtollte Hafennächte versüßten.

Doch dann sah er eine, die erschien ihm schöner als alle andern, die er bis jetzt gesehen. Und sein Herz entflammte in wahrer Liebe unter der blauen Bluse. Aber er wagte nicht einmal, dem Mädchen, das den Kopf so frei trug wie eine Siegerin und Augen voller Klugheit und Erkenntnistiefe für alles Schöne und Gute besaß, von seiner Liebe zu reden, geschweige denn, ihre Lippen zu küssen. „Der Peter ist ein Träumer geworden“, spotteten die Kameraden, wenn er – tief in Gedanken versunken – an der Reling lehnte und nicht mitmachte beim Trinken, Spielen und Küssen wie einst.

Dann aber beim Abschied, als das Matrosenleben zu Ende war und der Peter wieder nach Hause zurückkehrte, sagte er dem Mädchen, wie sehr er ihr zugetan sei und wie er sich nach ihr sehne. „Werde mein Weib“ , bat er, „mein Kahn und meine Netze sind gut. Die Fischerei bringt ein schönes Stück Geld, und ich werde uns ein Haus bauen, in dem es sich geborgen leben lässt dort oben an der Küste meiner schönen Heimat.“

Das Matrosenleben war zu Ende
Das Mädchen hatte ihm still zugehört. „Ich möchte wohl zu dir kommen“, meinte es, „ aber erst muss ich etwas anderes zu Ende bringen. Ob es mir gelingt, weiß ich noch nicht. Aber entscheidet das Schicksal so, wie ich es bitte, komme ich zu dir. Doch wann es ist, kann ich nicht sagen.“ Damit küsste sie den Peter auf die sie beschwörend anblickenden Augen.

„Warten werde ich auf dich“, entgegnete der Heißliebende, „und das Haus bauen und einen Zaun darum zimmern, an dem wirst du deine Heimat erkennen. Denn ein Engel, der dir gleicht, wird an der Pforte stehen und nach dir Ausschau halten.“ Damit zog der Abschiednehmende eine kleine Holzschnitzerei aus der Tasche und gab sie dem Mädchen. „Du bist ja ein wahrer Künstler“, lobte die Beschenkte und nahm das hölzerne Kunstwerk liebevoll zwischen beide Hände. Noch einmal küsste Peter sie „Jetzt ist es Frühling – zu Weihnachten erwarte ich dich.“ Damit schieden die beiden.

Das Haus stand, der Zaun umgab es. Und der Pfosten an der Pforte war ein Engel, der die Züge der Erwarteten trug und den Weg entlang schaute. Aber sein Lebensabbild kam nicht. Peter hatte zum Heiligabend ein Bäumchen geputzt, die schönsten Äpfel in die Ofenröhre gelegt und wartete. „Heut' am Heiligabend muss sie doch kommen – ich habe sie doch darum gebeten.“ Doch die Glockentöne verklangen und die Lichter brannten nieder, und sie kam nicht.

Im nächsten Jahr, tröstete sich der Einsame. Denn er ging den Menschen aus dem Weg, weil seine Gedanken nur bei der Geliebten waren, und er schnitzte allabendlich, wenn die Tagesarbeit getan war. Pfosten um Pfosten des Zaunes wurden zu immer vollendeteren Engelsfiguren. Sie falteten die Hände oder erhoben sie segnend. Sie wurden von den Bewohnern des Dorfes bestaunt und von manchem Fremden, der den Weg durch den idyllisch gelegenen Fischerort nahm, andächtig bewundert.

An einem Christabend aber gaben sie einem Heimatlosen, der müde seine Straße zog, auf der er einmal das große Glück suchte, den Mut, bei Peter Macheit anzuklopfen. Der trat sogleich vor die Tür – seine Augen leuchteten vor Erwartung. Doch als sie den Fremden sahen, wurden sie traurig. Der Obdachlose jedoch bat um ein Nachtquartier und einen erwärmenden Trunk. Dann saßen die Männer am scheitekrachenden Ofen, und Peter ließ sich von den Sorgen der Landstraße, den verwehten Träumen und erstorbenen Hoffnungen erzählen. Und er begriff: Alle tragen ihr Leid mit sich durchs Leben. Leise strich er über die Tasche seines Rockes, in dem das einzige Lebenszeichen – eine vor langer Zeit geschriebene Karte der Erwarteten knisterte. „Ich komme einmal zu dir. Nur wann es sein wird, kann ich nicht sagen.“

Viele Einsame kamen in sein Haus
Bis sie kommt, werde ich anderen, die ebenso einsam sind wie ich, ein Freund sein, beschloss Peter in dieser Christnacht und schnitzte dem Gast still zuhörend einen seiner schönsten Engel.

Und seltsam – kaum hatte der Mann, der sonst abseits gelebt, die Gemeinschaft mit den Menschen wieder aufgenommen, da kamen viele in sein Haus und schütteten dem einfachen Fischer, der durch die tiefe Liebe, die seine Seele ergriffen hatte, ein Philosoph geworden war, ihr Herz aus. Er verstand zu trösten und versuchte zu helfen, als wäre er vom Schicksal dazu ausersehen.

Am Heiligen Abend aber stand die Pforte – jetzt getragen von zwei Engeln – für jeden, der einsam war, offen. Auf dem Herd wurde ein schmackhaftes Fischgericht bereitet und im Ofen dufteten die Bratäpfel für diejenigen, die Hunger hatten. An der ganzen Küste wussten die Bewohner, wer allein, traurig und sorgenvoll ist, wird am Heiligen Abend im Engelshaus, wie Macheits kleiner Besitz jetzt im Volksmund hieß, bewirtet und getröstet.

Dann erzählte der nun schon Ergraute wohl auch einmal von seiner glücklichen Matrosenzeit. Nur von der Frau, auf die er noch immer wartete, sprach er nicht. Aber in jeder Christnacht, wenn er die Lichter am Baum entzündete, bat er den Himmel: „Lass sie ihr Versprechen halten und kommen!“

Und sie kam. Aber viele, viele Jahre waren noch verflossen. Die Engel an der Pforte waren schon wetterzerfurcht und tiefdunkel geworden – aber die Meisterhand verrieten sie doch noch. Da trat die Frau, die einem Reichen angehören musste, um den Besitz des Vaters und das Erbe der Brüder zu retten, in den kleinen Vorgarten. Hinter der Steilküste rauschte das Meer wie ein mächtiger, weltumschlingender Orgelton, und die Glocken des Kirchleins läuteten die Christnacht ein. Peter hielt zwei Kinder, deren Vater beim Fischen ertrank und deren Mutter aus Herzeleid starb, auf den Knien und erzählte ihnen und den andern, die gekommen waren, von Weihnachten in der Fremde, das die Sehnsucht nach der Heimat doppelt stark erwachen lässt.

Da trat die Frau ein. Sie war sehr verändert – nur ihre Augen leuchteten wie damals. In sie sah Peter tief hinein und erkannte das Mädchen, auf das er all die Jahre gewartet hatte. Bis die andern gingen, war sie sein Gast gleich jenen – doch dann saß sie mit dem, den auch sie immer geliebt, an dem wärmenden Ofen und sah in die leis verzuckenden Kerzen.

Das ganze Leben mit seinem Verzich-tenmüssen lag in den wenigen Worten, die sie sprach und auf die er antwortete: „Bleibst du nun bei mir?“ Da lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. „Nein, Peter, ich kann nicht“, entgegnete sie schmerzvoll. „Ich habe ein Kind, das mich nicht entbehren kann. Aber all meine Sehnsucht gehörte dir – die ganze Zeit hindurch. Oh, Peter, wäre nicht der Reichtum des andern der einzige Ausweg aus dem Unglück, das den Vater traf, gewesen, ich wäre am ersten Weihnachtsfest zu dir gekommen, um bei dir und deinen Engeln zu bleiben.“

Wäre nicht der Reichtum ...
Lange schwiegen die beiden. Draußen träumte die Christnacht und beschenkte die Menschheit mit schneeglitzerndem Frieden. Da begann die Frau wieder zu sprechen. „Peter, ich habe gehört, wie gut du zu den Einsamen und Glücklosen bist – wie gern du jedem von ihnen helfen möchtest. Lass mich daran auch einen Anteil haben. Nimm hier das Geld und gib es denen, die sich ein Lebensglück aufbauen wollen und die einander die Treue halten. Du kennst die, die solcher Hilfe wert sind.“

Über Peters Gesicht lief ein Freudenschein. Er dachte an ein junges Paar, dem das Weihnachtsfest nun doch noch das Glück bringen würde. „Und was kann ich dir geben als Christgabe?“ fragte der Mann und schaute ihr tief in die klugen gütigen Augen. „Wenn du dich von ihm trennen kannst, gib mir den Engel, der an der Pforte steht und meine Züge von einstmals trägt. Der ließ mich dein Haus finden, ohne dass ich darnach fragen brauchte.“

Eine Frauengestalt, deren Antlitz mit unendlicher Sorgfalt und Liebe geschnitzt war und die große Güte der liebenden Frau trug, ersetzte am kommenden Christfest die nach Glück ausschauende Engelsfigur. Diese war weit fortgewandert und wurde von manchen Kunstverständigen, die das Haus eines reichen Mannes besuchten, als Meisterwerk gelobt. „Ein einfacher Fischer, aber ein großer Künstler und ein noch größerer Mensch schuf sie“, sagte dann die Frau und war voller Wehmut und Stolz.

Noch an vielen Christabenden empfing Peter eine Gabe, damit er im Engelhaus Freude spenden könne. Manch junges Paar hoffte auf den Heiligabend, an dem der ergraute Fischer die Einsamen und vom Schicksal Geprüften in seinem Haus erwartete. Er sprach dann von einem Engel, der helfend spendete. und die Augen wurden ihm dabei feucht.

Als Peter Macheit mit gefalteten Händen auf dem Totenbett lag, wurden viele Herzen tieftraurig und unzählige Tränen flossen. Und mancher dachte mit Furcht und Gram an die nun für ihn in Zukunft freudlose Christnacht.

Aber der Engelschnitzer hatte noch über seinen Tod hinaus an die, die seine Hilfe brauchten, gedacht. Der geschnitzte Zaun, der ein viel größeres Kunstwerk war als sein Schöpfer wie die Dorfbewohner ahnten, wurde durch die Frau, an die er kurz vor seinem Tod noch einige Zeilen geschrieben hatte, an ein Museum verkauft. Die Gemeinde erhielt eine große Summe überwiesen, die nach dem Wunsch des Toten noch an vielen Christfesten sonst Unbeschenkte und arme Liebende beglückte.

aus: „Ostpreußenwarte“, Nr. 12, Dezember 1954


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