24.04.2024

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Ukraine-Krieg

Der Exodus des liberalen Russland

Im Schatten von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine verlassen immer mehr russische Intellektuelle und Künstler das Land. Neben dem Verlust seines Ansehens in der Welt droht Russland so auch ein irreversibler Schaden an seiner geistigen Substanz

Tatiana Firsova
01.04.2022

Für Russland ist der Krieg gegen die Ukraine ein großes Debakel. Neben der weitgehenden internationalen Ächtung und den damit verbundenen Wirtschaftssanktionen verliert das Land auch einen Großteil an unabhängigen Köpfen. Immer mehr Russen kehren ihrem Land derzeit den Rücken, darunter viele Bürger, die trotz zahlreicher Schikanen der Sicherheitsapparate in den letzten Jahren an eine friedliche und demokratische Entwicklung ihres Landes glaubten – und diesen Glauben nun aufgegeben haben.

Zerschlagene Medien

Vorn dabei in der Flüchtlingswelle sind oppositionelle Personen des öffentlichen Lebens, Künstler, Menschenrechtler, Journalisten, aber auch einfache Bürgerinnen und Bürger, sofern sie es sich leisten können. Mit dem Beginn des russischen Angriffes auf die Ukraine wurden die wenigen letzten unabhängigen Medien des Landes sowie Aktivisten der Zivilgesellschaft einem erhöhten Druck ausgesetzt. Beinahe jeden Tag führt die Moskauer Regierung neue Verbote ein, die jede freie Meinungsäußerung erschweren.

Bereits am 2. März teilte deshalb auch Tichon Dsjadko, Chefredakteur des unabhängigen Senders „Doschd“ (russisch: „Regen“), mit, dass er das Land „für eine Weile“ verlässt. Nach der rechtswidrigen Sperrung der Webseite von „Doschd“, der Social-Media-Kanäle sowie nach Drohungen gegen Mitarbeiter des Senders fürchteten die Journalisten des Senders für ihre persönliche Sicherheit. Laut dem Facebook-Account von Katerina Kotrikadse, der Frau und Kollegin von Dsjadko, ist die Familie nun in Tiflis, wie viele Russen, die flohen. Ähnliches berichten auch Freunde von mir aus Moskau: Ihre Bekannten gingen nach Georgien, Armenien und Serbien. Andere Fluchtrichtungen sind die Türkei oder Israel.

Die Geographie der Fluchtbewegungen ist verständlich: Für Georgien und Armenien brauchen russische Staatsbürger kein Visum. Für Serbien schon, allerdings dürfen Russen dort ohne Visum 30 Tage lang bleiben. Ebenso kein Visum brauchen Russen für Israel. Andere konnten es auch nach Europa schaffen, was wesentlich schwieriger ist: Denn für die EU brauchen Russen ein Visum, sofern sie keinen gültigen Aufenthaltstitel oder eine Staatsbürgerschaft der Union haben. Zu Besuch nach Deutschland zu kommen ist schwierig, ohne speziellen Grund wird kein Visum erteilt. Außerdem sind die russischen Impfstoffe in der EU nicht anerkannt. So kann es passieren, dass man nach einer geglückten Flucht in Deutschland erstmal in die Quarantäne muss – und dann zur Impfstation. Deswegen gilt die Ausreisemöglichkeit eher als ein Privileg.

Über die Zahl der russischen Migranten gibt es unterschiedliche Angaben. Manche Experten schätzen, dass seit Kriegsausbruch bis zu 300.000 Russen das Land verlassen haben. Andere Experten halten diese Angaben für übertrieben. Sie geben zu bedenken, dass erstens nicht genau klar ist, wie lange die Ausgewanderten in ihrem jeweiligen Gastland bleiben dürfen, und dass es zweitens keine genaue Statistik gibt, die diese Bewegung erfasst. Klar scheint lediglich, dass der Exodus auch dann hoch ist, wenn es nur ein paar Dutzende Tausend binnen weniger Wochen sind. Zum Vergleich: Laut Bundeszentrale für politische Bildung stellten während des gesamten Jahres 1978 11.287 DDR-Bürger einen Übersiedlungsantrag nach Westdeutschland bzw. West-Berlin; 1984 waren es 36.699.

Parallel zu der Fluchtbewegung sind die Zustimmungswerte für den russischen Präsidenten Putin keinesfalls gesunken. Laut dem Kreml-nahen Meinungsforschungsinstitut FZIOM stieg die Unterstützung sogar von 64 Prozent am 20. Februar 2022 auf 79 Prozent am 20. März. An der Glaubwürdigkeit dieser Umfrage darf man zweifeln, die Tendenz ist jedoch eindeutig und hat sich in zahlreichen Privatgesprächen von mir selbst und von meinen Freundinnen und Freunden vor Ort sowie bei der Beobachtung der sozialen Medien bestätigt.

Ein Klima der Angst für freie Geister

Wie der Sender „Doschd“ sind auch fast alle anderen unabhängigen Medien in Russland entweder zerschlagen oder gesperrt, mit Ausnahme vielleicht einiger regionaler Medien. Am Montag hat sich das Team der „Nowaja Gazeta“, die vom Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow geleitet wird, von ihrem Publikum verabschiedet. Die Zeitung erhielt von der russischen Medienbehörde „Roskomnadsor“, die seit Langem umgangssprachlich als „Behörde der Schande“ (Roskomposor) bezeichnet wird, eine weitere Warnung und entschied sich dafür, den Druck sowie ihre Online-Berichterstattung einzustellen: Vorerst „bis zum Ende der ‚Sonderoperation auf dem Territorium der Ukraine'“, so die Redaktion. Allein ein Verstoß gegen das Verbot der russischen Regierung, den Krieg als Krieg zu nennen und lediglich als „Sonderoperation auf dem Territorium der Ukraine“ zu bezeichnen, kostet viel: 5 Millionen Rubel (etwa 45.000 Euro). Die „Verbreitung von Fake News über die Handlungen der russischen Armee im Ausland“ ist noch teurer: Für dieses Vergehen drohen bis zu 15 Jahren Haft.

Am 27. März 2022 sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videoschaltung mit vier russischen Journalisten. Neben Dsjadko nahmen daran auch sein Vorgänger bei „Doschd“, Michail Sygar, sowie der Chefredakteur des russischsprachigen Online-Mediums „Meduza“ mit Sitz in Riga, Iwan Kolpakow, und Wladimir Solowjow, Journalist der Zeitung „Kommersant“, teil. „Meduza“ ist in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft und dazu noch blockiert, doch „Kommersant“ bleibt zugänglich. Die Zeitung gehört dem russischen Oligarchen Alischer Usmanow. Gleich am 27. März kam von „Roskomnadzor“ eine neue Drohung: Ermittlungen seien bereits eingeleitet. Und „Kommersant“ verzichtete darauf, das Interview zu veröffentlichen.

Eine unabhängige Berichterstattung ist untersagt, Facebook und Instagram sind blockiert und nur über eine spezielle Verbindung – VPN – möglich. Aber darf man noch atmen, sprich: reden? Die Gespräche mit Freunden, die in Moskau blieben, sagen: nicht wirklich. Eine Freundin, die immer unpolitisch war, verzichtet nun auf ihre Social-Media-Kanäle und konzentriert sich ausschließlich auf ihre Arbeit, andere lesen Telegram-Kanäle und kritisieren flüsternd die Regierung. Privat, nicht öffentlich. War es in einem Land, in dem der Stalinismus und die kommunistische Diktatur nie wirklich verarbeitet wurden, auch früher schon heikel, seine Meinung laut zu sagen, ist es nun richtig gefährlich. Im Jahr 2006 habe ich den Film „Das Leben der Anderen“ über die Abhörpraktiken der Stasi eher als Unterhaltung geschaut, vor ein paar Tagen habe ich ihn erneut angeschaut und viele bittere Parallelen zur jetzigen Situation in Russland festgestellt.

Künstler auf der Flucht

Apropos Filmindustrie. Genauso bekannt wie „Das Leben der Andren“ ist Wolfgang Beckers Film „Good Bye, Lenin!“ aus dem Jahr 2003. Die Rolle der Krankenschwester Lara darin, in die sich der Hauptprotagonist Alex, gespielt vom Daniel Brühl, verliebt, besetzt die russische Schauspielerin Tschulpan Chamatowa. Auch sie ist nun zur Emigrantin geworden. „Lara“ wohnt zurzeit in Lettland.

Im Februar 2022 unterschrieb die Schauspielerin einen Brief gegen die russische Invasion in die Ukraine – und im März 2022 verließ sie Russland. In einem Interview sagte Chamatowa, dass ihr „Bescheid gegeben wurde, dass sie am besten nicht nach Russland zurückkehren soll“. Von wem, sagte die Schauspielerin nicht. Chamatowa hat drei Kinder, und in dem emotionalen Gespräch mit der Journalistin Jekaterina Gordejewa sagte sie, dass sie um diejenigen Menschen, die in Russland bleiben und nicht ausreisen können, sehr besorgt sei.

Die Entscheidung zu gehen fiel der bekannten Schauspielerin schon allein wegen ihres Berufs und ihrer Kinder keineswegs leicht. Sie gehörte nicht zur Opposition und nahm 2012 sogar an der Wahlkampagne von Putin teil. In einem Video erzählte sie damals, warum sie für Putin stimmen werde. Für diesen Schritt wurde sie von der Opposition in Russland heftig kritisiert, ihre Verteidiger verwiesen auf ihren sozialen Einsatz, hatte Chamatowa doch 2006 gemeinsam mit der russischen Schauspielerin Dina Korsun die Stiftung „Podari schisn“ (deutsch: „Schenke das Leben“) gegründet, die sich um krebskranke Kinder kümmert. Auch dieses Engagement leidet nun unter dem Krieg.

Eine andere prominente Emigrantin ist Olga Smirnowa, Primaballerina des Bolschoi-Balletts. Sie tanzt künftig in Amsterdam. Vor zwei Wochen ist sie angekommen, das Niederländische Nationalballett hat sie sofort aufgenommen. Im Interview mit dem niederländischen Fernsehen bezeichnete sie den russischen Angriff als „einen absoluten Albtraum“. Viele Russen, meint Smirnowa, denken genauso wie sie, aber sie „haben Angst um sich und um ihre Familien“. Deshalb schweigen sie.

Ein großer Verlust für die russische Zivilgesellschaft ist der Weggang der Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Irina Scherbakowa. Sie beschäftigte sich jahrelang mit den Opfern des Stalinismus und gehörte zu den Mitbegründern der bekanntesten Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Auch „Memorial“ ist nun verboten – und Scherbakowa ist in Israel. Der russische Angriff ist „absolut unerträglich“, so Scherbakowa gegenüber der „Welt am Sonntag“. Zudem wollte sie nicht mehr länger mitansehen, wie in ihrer Heimat „die letzten Freiheiten mit Füßen getreten werden“.

Spekulationen über den Entzug der Staatsbürgerschaft

Ob diese und andere Intellektuelle jemals wiederkommen, ist ungewiss. Ebenso, ob Russland sie überhaupt zurücklassen würde. Schon machen erste Spekulationen über ein sogenanntes „Überläufer-Gesetz“ die Runde, wonach die Staatsbürgerschaft derjenigen, die die Russische Föderation verlassen, gekündigt werden soll. Zwar bezeichnete der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, die Gerüchte über ein solches Gesetz inzwischen als „völligen Unsinn und Fiktion“ und versicherte, dass es derlei Pläne „nicht gibt und nicht geben wird“. Andererseits hat Moskau auch monatelang die Vorbereitungen des Krieges gegen die Ukraine dementiert und entsprechende Berichte im Westen über seine staatlichen Medienkanäle verspottet. In Russland sagt man, dass genau das, was von der Regierung dementiert wird, am Ende passieren wird.

Sicher ist jedoch, dass Russland mit dem gerade stattfindenden intellektuellen Exodus jene Köpfe verliert, die es eigentlich bräuchte, um eines Tages wieder ein liebens- und lebenswertes Land zu werden – in dem die Russen gern leben und vor dem sich niemand fürchten muss.

• Tatiana Firsova arbeitet als Auslandskorrespondentin für die russische private Presseagentur „Interfax“ sowie als freie
Journalistin in Berlin.


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Kommentare

Tom Schroeder am 03.04.22, 19:14 Uhr

Dann hat, wenn der Exodus denn beendet ist, die russische Fuehrung das Volk, das sie verdient!

Berlin 59 am 02.04.22, 09:06 Uhr

Gerade Künstler haben ein feines Gespür für das heraufdämmern von totalitären, brutalen Sozialistischen Strukturen. Da heißt es dann rette sich wer kann. Putins Russland als reale Schimäre der weltweiten Sozialistischen Konterrevolution, bietet etwa die gleiche Lebensperspektive, die ein blühendes Blumenbeet hat, das man mit Salzsäure gießt. Also wird jeder Mensch der bei klarem Verstand ist Russland verlassen, solange es noch geht. Wenn der eiserne Vorhang erst mal wieder runtergerasselt ist, werden als Fernreiseziele nur noch die Sibirischen Gulags da sein, eine Auswahlmöglichkeit ist aber nicht vorgesehen. Auch die BRD ist nicht empfehlenswert, jeder Künstler (alle anderen sowieso) der hier nicht so funktioniert wie die Linken es wünschen, wird kaltgestellt. Ich würde als sicheres Fluchtziel Großbritannien empfehlen.

Waffenstudent Franz am 01.04.22, 12:49 Uhr

Ja, die Intellektuellen haben es weltweit verdammt schwer.

Nach Wikipedia wird als Intellektueller ein Mensch bezeichnet, der wissenschaftlich, künstlerisch, philosophisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätig ist, dort ausgewiesene Kompetenzen erworben hat und in öffentlichen Auseinandersetzungen kritisch oder affirmativ Position bezieht. Dabei ist er nicht notwendigerweise an einen bestimmten politischen, ideologischen oder moralischen Standort gebunden.

Dabei fällt auf, daß Naturwissenschaftler grundsätzlich nie zu den Intellektuellen gezählt wurden. Und so verstieg sich Bundeskanzler Ludwig Erhard, ein erfahrener und praxisbewährter Wirtschaftswissenschaftler, zu einer lakonischen Definition aller Intellektuellen. Er bezeichnete sie als "Geistige Pinscher". Und ich finde, daß es keine trefflichere Beschreibung dieser naturwissenschaftlichen Analphabeten der Abteilung "Such Alles und find Gar Nix" gibt.

Wirtschaftlich überleben können Intellektuelle von dem, was sie absondern nirgendwo auf dieser Welt. Sie brauchen Gönner und Sponsoren, die sie alimentieren. Zieht sich diese Unterstützung zurück, müssen Intellektuelle arbeiten oder das Land verlassen, denn das Arbeiten haben sie eigentlich nie erlernt.

sitra achra am 01.04.22, 11:35 Uhr

Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, so betrachte ich diesen Miniexodus. Ratten sind aber intelligente und höchst soziale Lebewesen, so wie die hier benannten Dissidenten.
Doch leider haben die bösen Ratten die Macht. Böse Ratten können auf totale Machtaneignung und -ausübung nicht verzichten. Sie hängen an der Nadel des Machtmissbrauchs wie der Junkie an seiner Nadel, bevor der vorzeitige Tod des geschädigten Organismus sie endgültig eliminiert.

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