25.04.2025

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Vom jungen NSDAP-Mitglied und Frontsoldaten zur prägenden Figur der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte: Der Verleger des Suhrkamp Verlags, Siegfried Unseld
Bild: imago/United ArchivesVom jungen NSDAP-Mitglied und Frontsoldaten zur prägenden Figur der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte: Der Verleger des Suhrkamp Verlags, Siegfried Unseld

Essay

Der Hochmut der Enkel

Der langjährige Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld war Mitglied der NSDAP. Die Nachricht ist für manche überraschend, für andere nicht. Und sie wirft die Frage auf, was das heutige Deutschland aus Unselds Biographie lernen kann

Holger Fuß
24.04.2025

Günter Grass hatte für wirksame PR-Aktionen ein untrügliches Gespür. Pünktlich zur Veröffentlichung seiner Lebenserinnerungen im Jahre 2006 offenbarte der Literaturnobelpreisträger in einem Zeitungsinterview, als 17-Jähriger ab Herbst 1944 Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. In seinen Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“ berichtet er zwar, er habe in seiner Jugend die Waffen-SS „als Elite-Einheit“ empfunden und „die doppelte Rune am Uniformkragen“ als „nicht anstößig“. Er sei auch an keinem Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs beteiligt gewesen und habe nicht einen einzigen Schuss abgegeben. Als Ladeschütze in der 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ habe er sich nur ums Nachladen kümmern müssen, geschossen hätten andere. Doch im Interview mit der „FAZ“ räumte Grass ein: „Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet.“

Es war das wohl kalkulierte Bekenntnis eines Großschriftstellers, der es sich 60 Jahre nach Kriegsende leisten konnte, eine Kontroverse um seine SS-Vergangenheit zu entfachen, die durchaus auch seinen Buchverkauf befeuerte. Seinem Nimbus als das schlechte Gewissen der Nation, Wahlkämpfer für Willy Brandt und Mahner für alle linken Fälle konnte der SS-Makel auf Dauer nichts anhaben. So wurde noch vor wenigen Tagen auf der Webseite des NDR getitelt: „Vor zehn Jahren starb Multitalent und Moralist Günter Grass.“

Das spukhafte Eigenleben der deutschen Erinnerungskultur
Nazi-Themen laufen hierzulande wie Freibier und werden immer dankbar angenommen – als Empörungsbeschleuniger, als Haltungsvergewisserungsdroge und als Munition gegen politische Gegner. Nach dem großen Beschweigen der NS-Zeit nach 1945 und der Vergangenheitsbewältigungsphase nach 1968 erleben wir mittlerweile eine Art leerlaufende Instrumentalisierungsetappe, in der das nationale Trauma der deutschen Schuld an den NS-Verbrechen zur Regulierung der eigenen Gesinnungstemperatur verwendet wird. Mit den Vorgängen während der Hitler-Jahre und den Lehren, die daraus zu ziehen sind, hat das jedoch immer weniger zu tun.

Jüngstes Beispiel für das spukhafte Eigenleben, das die Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur inzwischen entwickelt hat, ist die Enthüllung, dass der langjährige Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld als 17-Jähriger 1942 die Aufnahme in die NSDAP beantragt habe und als Mitglied Nummer 9.194.036 eingetragen worden war. Dies geht aus einer Mitgliedskarte der NSDAP-Zentralkartei hervor, die der Historiker Thomas Gruber zufällig im Bundesarchiv entdeckte. Seinen Fund veröffentlichte er im Feuilleton der „Zeit“. Im redaktionellen Begleittext zu Grubers Story, über dem in großen Lettern „Unselds Geheimnis“ prangt, wird schockiert vermerkt: „Die Entdeckung berührt die Grundfesten, auf dem das Land seit Jahrzehnten intellektuell und moralisch agiert.“

Dieser Satz umreißt das ganze Problem. Denn wenn der Umstand, dass ein halbwüchsiger Schuljunge „kurz vor dem kriegsbedingten Notabitur“ in Hitlers Partei eintrat, weil er wie jeder heranwachsende Mensch sich seinen Anteil an der Zukunft sichern wollte, auch wenn Nachgeborene in der Rückschau die Nase rümpfen mögen, wenn solch eine Entdeckung also „Grundfesten erschüttert“, dann sprechen wir nicht vom Problem des jungen Unseld, sondern von den heute gähnenden Abgründen der Nachfahren.

Unseld hatte sich die Zeit nicht ausgesucht, in die er hineingeboren wurde und auch nicht die Familie, in der er aufwachsen musste. Sein Vater Ludwig war ab 1933 in der NSDAP und der SA, er brachte es 1938 zum Obersturmführer. Mutter Lina war in der NS-Frauenschaft aktiv. Ludwig Unseld war an den Novemberpogromen von 1938 beteiligt, als die braunen Horden bei Ulm zwei Synagogen niederbrannten. Dafür wurde er 1947 zu einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ abgeurteilt. Sohn Siegfried, ein sportlicher Strahlemann, wurde Fähnleinführer beim Jungvolk und hatte 1942 wohl an die 160 „Pimpfe“ unter seinem Kommando. Ja, Siegfried Unseld wurde in einer Nazi-Familie groß, er hatte sich womöglich für den Führer und seine Ideologie begeistert. Pech beim „Samen-Bingo“ heißt das wohl im flapsigen Ton unserer Zeit.

Schöpfer der „Suhrkamp-Kultur“
Als der Krieg 1945 beendet war, fing der 20-jährige Unseld ein neues Leben an. Er studierte, fraß Bücher in sich hinein, wurde Buchhändler, landete schließlich als Lektor bei Peter Suhrkamp, der von der Gestapo gefoltert worden war. Als Suhrkamp 1959 starb, übernahm Unseld die Geschäfte und machte aus dem Suhrkamp Verlag einen einzigartigen Kosmos der Literatur und des Geisteslebens, insbesondere schuf er für jüdische Emigranten eine neue verlegerische Heimstatt. Ganz so, als ob Unseld die Untaten seiner Eltern auf seine Weise wiedergutmachen wollte. Das Diktum des US-Kulturphilosophen George Steiner von der „Suhrkamp Culture“ jedenfalls wurde sprichwörtlich in der westlichen Welt. Für die neomarxistisch revoltierenden Studenten von 1968 waren die Suhrkamp-Taschenbücher intellektuelles Marschgepäck. Unseld war ein bewunderter Büchermacher, der links blinkte und damit gute Geschäfte machte.

Und nun, 23 Jahre nach seinem Tod, kommt seine Kindheit und Jugend im „Dritten Reich“ zum Vorschein. War Unseld etwa ein Nazi? Natürlich nicht. Er war ein verführtes Kind, das sich der Müllhalden, die ihm sein Elternhaus und der damalige Zeitgeist eingeflüstert hatte, schneller entledigt hatte als es bei Erwachsenen sonst oft zu beobachten ist. Unseld hatte seine Lektion gelernt und parierte auf beachtlichem Niveau. Warum der „Zeit“-Redakteur in der NSDAP-Mitgliedschaft Unselds die intellektuellen und moralischen Grundfesten unseres Landes berührt sieht, bleibt zunächst im Dunkel. Im Grunde erklärt Unselds nationalsozialistischer Hintergrund überhaupt erst seine spätere obsessive Verlegerexistenz. Offenbar war er zeitlebens ein von dämonischen Erinnerungen Getriebener.

Zu den unbewussten Kontinuitäten gehört wohl eine Episode aus dem Mai 1944, als der junge Marinefunker Unseld auf der Krim die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe erfuhr. Auf der Flucht vor den heranrückenden Russen sprang er vom Felsen und schwamm ins Schwarze Meer hinaus, bei stockfinsterer Nacht, zwei Kameraden ertranken unterwegs, Unseld schwamm immer weiter ins Ungewisse, neun Stunden lang, erst dann konnte ihn ein deutsches Schiff aufnehmen. So etwas vergisst ein Mensch nie, und so zog der spätere Verleger bis ins hohe Alter seine morgendlichen Bahnen im häuslichen Schwimmbad, noch ehe er ins Büro ging. Als ob er unterschwellig Tag für Tag aufs Neue sein Lebensdrama von Gefahr und Errettung inszeniert hat.

Empörung verdörrter Gemüter
So etwas wäre Stoff für einen grandiosen Roman. Doch nun kommen die Enkel und Urenkel jener Generation auf den Plan, verzwergte Gestalten, verdörrte Gemüter, denen es allein um moralische Reinlichkeit zu tun ist. Ganz vorne dran fragt der Deutschlandfunk: „Wo bleibt der Aufschrei?“ Der fehlende Aufschrei zeige: „Schuld wird zunehmend relativiert – ein gefährlicher Wandel in Zeiten politischer Radikalisierung.“ Hier wird Kindern und Jugendlichen, die das Unglück erlebten, unter Nazis aufzuwachsen, eine Verantwortung aufgebürdet, die vor keinem Jugendstrafrecht heute standhalten würde.

Ähnlich phrasenhaft klingt es in der „Welt“, wo die Literaturchefin fragt: „Muss die Geschichte der Bundesrepublik neu geschrieben werden?“ Was wie Größenwahn daherkommt, wird erklärlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Unseld zwar kein Bundespräsident war, aber als wichtigster Verleger seiner Zeit doch ein inoffizieller Präsident der intellektuellen Republik Westdeutschlands, jenes Milieus also, dessen Geschäftsmodell die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit war. Ein Milieu, das gleichsam den Mutterboden ausbrachte, auf dem die eifernden Enkel und Urenkel heute ihren woken Kulturkampf zwischen Gut und Böse austragen.

Dass dieses Schwarz-Weiß-Zeichnen bereits nach dem Krieg auf tönernen Füßen stand, zeigen die Biographien auch anderer linksliberaler Frontleute wie Günter Grass und Walter Jens, die in jungen Jahren der Waffen-SS oder der Partei angehört haben und hernach zu antifaschistischen Galionsfiguren der Bundesrepublik erblühten. Auf diesem geistigen Humus gedieh schon früh das Bonmot des Satirikers F. W. Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“

Noch etwas schreibt die „Welt“-Redakteurin: „Wäre es nicht eher ungewöhnlich, wäre Siegfried Unseld nicht Parteimitglied geworden?“ Und dann: „Entscheidender ist die Frage, ob Unseld über die Mitgliedschaft geschwiegen hat und warum.“ Über die Frage, ob er geschwiegen hat, werden die Quellenforscher wohl noch eine Weile diskutieren. Falls ja, ist das Warum leicht zu beantworten: Unseld war eben kein Dummkopf. „Hätte Siegfried Unseld von Mai 1945 an überall brav angegeben: Ich bekenne, ich bekenne – dann stellte sich mithin die gesamte intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anders da. Es hätte nie einen Suhrkamp Verlag unter Siegfried Unseld gegeben, und ich wäre in einer literarisch anderen Republik aufgewachsen. Es sei denn natürlich, es wäre einfach ein ähnlicher anderer, der seinerseits ,verschwiegen' hätte, an seine Stelle getreten.“ Dies schreibt in der FAZ der Suhrkamp-Autor Andreas Maier, als Angehöriger des Jahrgangs 1967 ein „Kind der Schweigekinder“ – jener Generation also, die es vorgezogen hatte, über ihre Kindheit und Jugend im „Dritten Reich“ lieber nicht zu reden.

Infantiler Moralismus eines auf Lebenslügen gewachsenen Soziotops
Der Journalist und Philosoph Ulf Poschardt, hauptamtlich Herausgeber der „Welt“, hat unlängst ein erhellendes Buch über jenes linke Spießertum veröffentlicht, das nun einen „Aufschrei“ gegen Unseld einfordert: „Shitbürgertum“ lautet der etwas vulgäre Titel. Gemeint sind die politisch Korrekten mit ihrem „oft regressiven und infantilen Moralismus, der vor allem basiert auf einer Abspaltungsabwehr gegenüber den inneren Ambivalenzen, Aggressionen und Abgründen“. Dieses juste milieu wünscht sich eine Welt, in der Gut und Böse deutlich konturiert sind, mit Grautönen kommt es schlecht zurecht. Ein „schwaches Ich, das sich nur in der Rolle des Guten und Anständigen annehmen kann“, diagnostiziert Poschardt bei diesem links-grün orientierten Soziotop, das längst die Schaltstellen westlicher Gesellschaften erobert hat.

Wie sehr dieser Moralismus auf Lebenslügen, Ignoranz und Verächtlichkeit gebaut ist, erleben wir, wenn die Existenz von zwei biologischen Geschlechtern in Frage und unter Strafe gestellt wird, wenn der Meinungskorridor eingeengt, wenn Judenhass in linken Kreisen trotz gegenteiliger Beteuerungen salonfähig gemacht wird oder wenn mit der Inflationierung der Nazi-Keule der historische Nationalsozialismus relativiert wird. All das sind Symptome eines Untergrabens des gesunden Menschenverstands, der Umwertung bürgerlicher Werte und auch der Umwidmung der Vergangenheit.

Genau das hat Siegfried Unseld in seiner Kindheit und Jugend im Dritten Reich erlebt. Der antibürgerliche Angriff auf den common sense gehörte zur Ideologie der Nationalsozialisten. So sollte der neue deutsche Mensch erschaffen werden. Unseld hatte den Wahnsinn überlebt, physisch und geistig, und aus seinen Erfahrungen etwas Großes geschaffen. Deshalb brauchen wir in der Causa Unseld keinen „Aufschrei“ hochmütiger und mittelmäßiger Nachfahren. Lieber sollten wir genau hinschauen und aus seiner widersprüchlichen Biographie lernen.


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