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Im Gespräch mit Thilo Sarrazin

„Der Ideologe kommt geistig nicht vom Fleck“

In seinem neuen Buch positioniert sich Thilo Sarrazin gegen die „Vernunft und ihre Feinde“. Ein Gespräch über die schlichten Weltbilder von Ideologen und deren Mitläufern – und die Notwendigkeit eines „evidenzbasierten Erkenntnisfortschritts

Bernd Kallina
23.09.2022

Seit seinem 2010 veröffentlichten Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ ist Thilo Sarrazin aus den Debatten über strategische Fehlentwicklungen in unserem Land nicht mehr wegzudenken. Ob Euro-Desaster, Tugendterror, Islamisierung, Migration oder Demographie, der Erfolgsschriftsteller und ehemalige SPD-Politiker hält der politisch-medialen Funktionselite unseres Landes den Spiegel ihres Versagens vor. Vor wenigen Tagen hat er in Berlin sein neues Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“ vorgestellt. In ihm rechnet Thilo Sarrazin mit den „Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens“ sachkundig ab.

Herr Sarrazin, Altkanzler Gerhard Schröder darf trotz seiner allseits kritisierten Nähe zu Wladimir Putin in der SPD bleiben, während Sie wegen angeblich „rassistischer Ansichten“ aus der Partei flogen, der Sie 1973 beigetreten waren. Das hat Sie besonders empört ...

... Gerhard Schröder lässt sich von einem Männerfreund, der im Hauptberuf Diktator ist, seit vielen Jahren mit Millionen Euro aushalten. Zum Lohn dafür relativiert er den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Ich dagegen habe ein faktengesättigtes kritisches Sachbuch über den Islam geschrieben, in dem ich niemanden beleidigt habe und dem kein einziger sachlicher Fehler nachgewiesen wurde. Wenn das eine ein Ausschlussgrund ist, das andere aber nicht, so zeigt dies, dass die Führung der SPD ihren moralischen Kompass, aber auch den Sinn für Relevanz und Proportionen verloren hat. Darüber wird der Wähler urteilen. Ich habe mit dieser Partei nichts mehr zu schaffen und bin allenfalls noch konsterniert.

Sie wuchsen in einem linken evangelischen Umfeld auf, hätten also leicht zum radikalen 68er werden können, positionierten sich aber schon früh pro Marktwirtschaft und NATO, dienten in der Bundeswehr, während viele Ihrer Altersgenossen den Wehrdienst verweigerten. „Isolationsfurcht“ im Sinne der „Schweigespirale“ (Noelle-Neumann) hatten Sie also von Anfang an keine. Etwa getreu dem Motto: Wer zu den Quellen will, muss gegen den Strom schwimmen?

Wer zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit kommen will, muss sich für die Fakten und kausalen Zusammenhänge in der realen Welt interessieren. Dabei darf er an Neugier und eigener geistiger Anstrengung nicht sparen und muss fortwährend bereit sein, sein eigenes Wissen und schon gewonnene Überzeugungen zu hinterfragen. Das erfordert Anstrengungsbereitschaft, geistige Bescheidenheit und gelegentlich auch Mut. Letzteres vor allem dann, wenn man mit den eigenen Überzeugungen in eine Minderheitenposition gerät. Dann muss man auch bereit sein, gegen den Strom zu schwimmen.

Aber das Dagegensein als solches hat natürlich keinen Eigenwert, und eine Minderheitsposition ist auch kein Adelsprädikat, es kommt auf die Qualität ihres Inhalts und ihrer Begründung an.

Gerade ist Ihr jüngstes Werk erschienen, in dem Sie – quasi in Titel-Umkehr - mit der „Unvernunft und ihren Freunden“ abrechnen. Dabei stützen Sie sich auf Karl Poppers „Kritischen Rationalismus“, operieren mit evidenzbasierten Fakten und positionieren sich damit gegen ein heute dominierendes ideologisches Denken, vornehmlich im linken Milieu, aber nicht nur dort. Warum sind Ideologien so verführerisch?

Eine Ideologie ist eine Engführung des Denkens, die einen bestimmten sachlichen Aspekt, eine bestimmte scheinbare Erkenntnis oder eine bestimmte a-priori-gesetzte Behauptung verabsolutiert und zum Dreh- und Angelpunkt des eigenen Weltbildes macht. Man sucht dann in der Wirklichkeit nicht mehr nach Wahrheit, sondern nur noch nach der Bestätigung der eigenen Sichtweise. So schirmt man sich gleichzeitig gegen die Kontrolle und mögliche Widerlegung der eigenen Position durch die Wirklichkeit ab.

Das ist für Menschen, die nach einem Lebenssinn oder nach einer Welterklärung suchen, sehr verführerisch. Besonders anfällig dafür sind jene Menschen, die intelligent genug sind, eine bisweilen komplexe Ideologie auch zu verstehen, aber gleichzeitig zu denkfaul, um sich mit der Widerspenstigkeit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Die fahren mit Ideologien unabhängig von ihrem Inhalt sehr gut. Sie entlasten von der eigenen Verstandestätigkeit und geben gleichzeitig ein Gefühl der Überlegenheit, weil man sich im Besitz einer umfassenden Weltformel wähnt.

Aber ist Ihre Vorgehensweise nicht auch ideologisch? Zum Beispiel im Sinne des Soziologen Eugen Lemberg, der Ideologien als notwendige Denk- und Orientierungssysteme beschrieb, die für Großgruppen unabdingbar seien. Allerdings müsste man einer „Sarrazin-Ideologie“ zugestehen, dass sie anthropologisch von „evidenzbasierten Fakten“, das heißt von realistischen Prämissen ausgeht. Einverstanden?

Jeder, der nach Erkenntnis sucht, stellt Fragen an die Wirklichkeit und entwickelt dazu Arbeitshypothesen. Auch kann das Erkenntnisinteresse in ganz unterschiedliche Richtungen gehen. Wenn ich aber nach Wahrheit suche, bin ich ständig bereit und bestrebt, meine Arbeitshypothesen an der Wirklichkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. So entsteht evidenzbasierter Erkenntnisfortschritt, und das ist das Gegenteil von Ideologie. Der wissenschaftliche Wahrheitssucher entwickelt seine Hypothesen stetig an neu gewonnenen Erkenntnissen fort. Der Ideologe dagegen sucht sich nur jene Fakten heraus, die zu seiner Ideologie zu passen scheinen, und vernachlässigt den Rest. So schmort er im eigenen Saft und kommt geistig nicht vom Fleck. Das gilt auch für ganze Kulturen und Gesellschaften, wenn sie in Ideologien gefangen sind.

Zu Ihrer wachsenden Entfremdung vom linken Milieu trug offenbar auch Ihr Interesse an den Ergebnissen der Intelligenzforschung des Psychologen Hans-Jürgen Eysenck bei. Die zustimmende Einlassung auf ihn wurde von Ihren Gegnern als „Tabubruch“ gewertet, weil offenkundige Intelligenz-Differenzen angeblich gegen das Gleichheitsprinzip aller Menschen verstießen. Wie sehen Sie den Sachverhalt?

Meine politischen und publizistischen Gegner kamen gar nicht so weit, dass sie sich auf den Erkenntnisstand der Intelligenzforschung sowie die Rolle und Bedeutung einzelner bedeutender Intelligenzforscher wie Hans-Jürgen Eysenck eingelassen hätten. Sie hingen und hängen einfach der kruden und völlig wissenschaftsfernen These an, dass angeborene Begabungen und Neigungen für die Unterschiede menschlicher Leistungen praktisch keine Rolle spielen, sodass alles nur an der Gesellschaft und der Erziehung hängt. Daher rührt ja der verderbliche Gleichheitswahn in der Bildungspolitik.

Als weiteren Tabubruch haben Ideologie-Wächter Ihre Weigerung zur Kenntnis genommen, dass Sie Massenmigration aus kulturfremden Ländern nicht primär als Bereicherung für die autochthone Bevölkerung werten, sondern die damit einhergehenden Dauerkonflikte kritisch und faktenbasiert aufzeigen und auch auf deren Kosten verweisen. Wie erklären Sie sich die Wegschau-Mentalität Ihrer Gegner?

Wenn man den einzelnen Menschen als eine leere Schiefertafel ansieht, die man unabhängig von seinen angeborenen Fähigkeiten und Neigungen und unabhängig von seiner Herkunftskultur praktisch mit beliebigen Inhalten beschreiben kann, dann – aber auch nur dann – ist es tatsächlich egal, woher die Menschen kommen. Man kann aus allen durch entsprechende gesellschaftliche Erziehung genau jene Künstler, Facharbeiter, Ärzte und Ingenieure machen, die wir für unsere Zukunft brauchen. Das ist die Entmachtung von Kultur, Biologie und Genetik zugunsten einer ideologisch getriebenen gesellschaftlichen Wunschvorstellung. Von dieser Wunschvorstellung wollen meine Gegner keinen Abschied nehmen, deshalb wird gleichzeitig aktiv der Blick auf die Wirklichkeit vermieden und Leute wie ich, die diesen Blick wagen und auch darüber schreiben, diffamiert.

„Fast nichts mehr funktioniert in Deutschland“, so wurden Sie unlängst im österreichischen „Express“ zitiert und weiter: „Ob Schule, Bahnverkehr, Corona-Management oder Energiepolitik“, vieles klappt einfach nicht. Greifen wir das Corona-Management heraus. Warum funktioniert das nach bald drei Jahren Pandemie – Ideologie hin oder her - immer noch nicht?

Das müssen sie jene fragen, die Verantwortung tragen. Aus meinen 38 Jahren in der öffentlichen Verwaltung, in staatlichen Unternehmen und in der Politik kann ich sagen, dass es nach einiger Zeit dort, wo ich hinkam, immer funktionierte. Selbst meine größten Gegner haben nie etwas anderes behauptet. Dazu muss man bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Dazu braucht man allerdings auch Chefs, die wissen, was sie wollen, und die selbst bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Schauen Sie sich an, wie Helmut Schmidt als Hamburger Innensenator 1962 die Flutkatastrophe gemeistert hat, und vergleichen Sie damit, in wie peinlicher Weise Politik und Behörden in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im letzten Jahr bei der Flutkatastrophe erst ihre Aufgaben verschlafen und sich danach die Verantwortung dafür wie eine heiße Kartoffel gegenseitig zugeschoben haben.

Konrad Adenauer hatte in den frühen Jahren der Bundesrepublik im Bundeskanzleramt 18 Beamte des Höheren Dienstes. Das reichte für die Koordination der damaligen gewaltigen Aufbauleistung. Heute beschäftigt das Bundeskanzleramt unter Olaf Scholz 600 Mitarbeiter, größtenteils im Höheren Dienst. Macht das Scholz zu einem besseren Bundeskanzler als Adenauer? Leider ist wohl eher das Gegenteil der Fall.

Zum allgegenwärtigen „Kampf gegen den Klimawandel“: Sie äußern Vorbehalte gegenüber einer hier zu beobachtenden „Politik der großen Schritte“ und warnen davor, dass man sich dabei leicht verstolpern könnte. Was meinen Sie mit „verstolpern“ in diesem Zusammenhang?

Ich gehöre nicht zu den sogenannten Klimawandelleugnern und nehme die Befunde der Wissenschaft sehr ernst. Gleichwohl müssen wir realistisch sehen, dass die politisch vereinbarte Zeitachse zur globalen Reduktion von CO₂-Emission so nicht umsetzbar sein wird und dass der Beitrag Deutschlands mit nur zwei Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen sowieso minimal ist. Am deutschen Wesen wird die Welt in diesem Punkt mit Sicherheit nicht genesen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht im Prozess der Klimaanpassung leichtfertig die energetische und kostenmäßige Basis unserer Industrie und unseres Wohlstands zerstören. Damit wäre weder Deutschland noch der Welt geholfen.

Das Interview führte Bernd Kallina.

• Prof. Dr. Thilo Sarrazin war u.a. von 2002 bis 2009 für die SPD Finanzsenator im Berliner Senat sowie bis Ende September 2010 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank. Sein Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ (DVA 2010) wurde eines der erfolgreichsten deutschen Sachbücher der Nachkriegszeit. Soeben erschien „Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens“ (Langen Müller 2022).
www.thilo-sarrazin.de


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Kommentare

Michael Holz am 24.09.22, 17:26 Uhr

Generell bin ich froh, dass es noch Leute wie Sarrazin gibt. Seine Beurteilungen sind überwiegend zutreffend und nachvollziehbar. Dennoch setzt er sich in seinen Aussagen in Widerspruch, zumindest in einer Sache. Er unterstellt, dass Gerhard Schröder als Lohn für seine Relativierung des Ukraine-Konflikts von einem „Diktator“ für Millionen Euros ausgehalten wird aber im gleichen Interview lässt er verlauten, dass nur der durch Erkenntnisse zur Wirklichkeit kommt, wenn er die Fakten und kausalen Zusammenhänge verbindet. Nun, es scheint, dass Sarrazin selbst noch in der SPD-Ideologie verfangen ist und dass er sich selbst aber davon ausnimmt. Ich will nicht noch einmal auf das Thema herumreiten, aber wer die Vorgeschichte zum Ukrainekrieg ausblendet ist selbst ideologisch verblendet, was man eigentlich von Sarrazin nicht erwarten sollte. Er sucht in der Wirklichkeit nach der Bestätigung seiner eigenen Sichtweise. Das hat er selbst gesagt, aber nicht an sich gedacht!

Kersti Wolnow am 23.09.22, 14:52 Uhr

Unsere Gegner appellieren an die niedersten Instinkte und verkleben ihren ideologischen Turmbau zu Babel mit Geld. Noch hält das Gespinst.

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