Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor 150 Jahren erließ Kaiser Wilhelm I. nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags das erste gesamtdeutsche Impfgesetz
Das vorletzte Jahrhundert hat sich als ein Jahrhundert des großen medizinischen Fortschritts erwiesen. Wohl am deutlichsten wurde dieser Fortschritt öffentlich wahrgenommen mit dem Siegeszug gegen die weltweit gefürchteten Pocken. Die Einführung einer Impfpflicht gegen Pocken in eben diesem 19. Jahrhundert war Gegenstand vieler Diskussionen und Petitionen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas. Die Forderungen nach einer einheitlichen Impfpflicht im wenige Monate zuvor gegründeten Deutschen Reich wurden verstärkt, als es im Sommer 1871 zu massiven Pockenausbrüchen kam.
Die Krankheit hatte mit den französischen Kriegsgefangenen nach der Entscheidungsschlacht des Deutsch-Französischen Krieges von Sedan vom 1./2. September 1870 den Weg nach Deutschland gefunden. Allein in Wahnheide und Gremberg bei Köln wurden 19.000 Kriegsgefangene in zwei Barackenlagern interniert. Unter den Gefangenen brach die Seuche am 8. September 1870 aus, vier Tage darauf war der erste Kölner Bürger erkrankt. Bis 1873 erlagen allein in Preußen rund 125.000 Menschen den Pocken. Die Epidemie nahm großen Einfluss auf den Verlauf der Debatte um die Reichweite der Impfpflicht, bei der es – wie in jüngster Zeit zwischen Gegnern und Befürwortern der Covidschutzimpfung – recht hitzig zuging.
Das Impfen gegen die Pocken beziehungsweise Blattern war zu diesem Zeitpunkt – anders als im Falle der Corona-Pandemie – bereits seit fast sieben Jahrzehnten möglich und bestens erprobt. Der britische Mediziner und Impfpionier Edward Jenner war maßgeblich für die Entwicklung der Impfung gegen Pocken verantwortlich. Seine Entdeckung Ende des 18. Jahrhunderts war äußerst effektiv und half, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Er hatte einen Jungen über einen Schnitt in den Oberarm mit Kuhpocken infiziert. Jenner nennt den Impfstoff nach dem lateinischen Wort Vacca für Kuh „Vaccine“. Die erste Impfung in Deutschland gelang bereits 1801 im mittelfränkischen Neustadt an der Aisch. Und so war es auch Bayern, das weltweit 1807 als erstes Land die Impfpflicht einführte.
Befürwortung durch liberale Ärzte
Vor dem Hintergrund, dass Preußen 1815 nachzog, ist nur schwer nachvollziehbar, woher die hohe Todesrate in Preußen in den frühen 1870er Jahren resultiert. Gleichfalls bemerkenswert ist, dass in Köln, in dessen Nähe die Epidemie auf preußischem Boden ausbrach, nur 2450 Erkrankungen, davon 479 mit Todesfolge, registriert wurden. Das heißt, dass gemäß den Unterlagen nur rund jeder 50. Kölner erkrankte.
Der Entwurf für das Impfgesetz des Deutschen Reichs wurde am 5. Februar 1874 vorgelegt und am 18. Februar im Reichstag in einer ersten Lesung behandelt. Bemerkenswerterweise gehörten zu den Befürwortern des Gesetzes mit Wilhelm Loewe und August Zinn zwei Liberale. Die beiden verband indes nicht nur die politische Verortung im Liberalismus, sondern auch ihr Beruf. Sie waren beide Ärzte.
Loewe betonte die Wirksamkeit der Impfung und argumentierte, dass der Staat mit einer Impfpflicht viele Leben retten und die Arbeitsfähigkeit der Bürger erhalten könne. „Der Staat hat die Pflicht, die Freiheit des Einzelnen soweit einzuschränken, als es das wohl erkannte Interesse der Gesamtheit verlangt, und er vollzieht diese Pflicht gerade auf diesem Gebiet in den verschiedenen Formen bei den verschiedensten Gelegenheiten“, argumentierte der gebürtige Magdeburger und prophezeite: „Bei der Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspflege werden wir noch öfter diesem Punkte gegenüberstehen.“
Zu den Impfgegnern gehörten hingegen der Kölner Jurist August Reichensperger und der Gewerkschafter Otto Reimer. Beide gehörten politischen Gruppen an, die Reichskanzler Otto von Bismarck nacheinander als vermeintliche Reichsfeinde bekämpfte. Reichensperger war ein Exponent des politischen Katholizismus und Reimer der Sozialdemokratie.
Ablehnung durch „Reichsfeinde“
Reichensperger verwies vor allem auf die Freiheitsrechte des Einzelnen. Der Katholik aus dem Rheinland vertrat die Auffassung, „dass hier das in ‚in dubiis libertas' maßgebend zu sein hat. Wir können von den Regierungen fordern, dass sie nach allen Richtungen hin die Möglichkeit gewähren, sich vaccinieren (impfen) zu lassen. Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, gewisse Prämien darauf zu setzen, wenn Eltern ihre Kinder vaccinieren lassen. Aber etwas ganz Anderes ist es mit den Strafen und namentlich mit solchen Strafen, wie sie hier angedroht sind, um die Leute zu ihrem vorgeblichen Heile zu nötigen.“ Reichensperger verwies zudem auf Gefahren der Impfung. Tatsächlich sind in amtlichen Impfberichten der damaligen Zeit auch „erfolglose“ Impfungen registriert.
Am 14. März 1874 wurde das erste gesamtdeutsche Impfgesetz im Reichstag mit einer Mehrheit von 160 zu 122 Stimmen bei 115 abwesenden Abgeordneten angenommen. Einen knappen Monat später, am 8. April 1874, wurde es im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Am 1. April 1875 trat es in Kraft.
Das Gesetz, dessen erste Worte lauteten: „Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen werden“ verpflichtete Eltern, ihre Kinder im zweiten Lebensjahr einer ersten Impfung zuzuführen und eine zweite Impfung im Alter von zwölf Jahren durchführen zu lassen. Wer dieser Impfpflicht nicht nachkam, musste mit drei Tagen Gefängnis oder bis zu 50 Mark Geldstrafe rechnen. Die Impfung erfolgte kostenfrei. Die Ärzte waren verpflichtet, eine Impfstatistik zu führen.
Wenn das Impfgesetz von 1874 auch den Grundstein für staatliche Verantwortung im Bereich der Gesundheitsvorsorge gelegt und den Weg für weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten geebnet hat, so ist es doch seit 1966 in der DDR und seit 1983 in der Bundesrepublik außer Kraft. Seit 1980 sind die Pocken laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerottet. Offiziell wird das Virus seitdem nur noch in je einem Labor der beiden (ehemaligen) Supermächte vorgehalten, um an ihnen künftige Impfstoffe im Falle einer Rückkehr der Krankheit testen zu können.