13.12.2024

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Grenzland

Der „Stettiner Zipfel“

Die deutsch-polnische Grenze an der unteren Oder

Wolfgang Reith
19.09.2022

Stettin – Noch vor der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) hatten die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Oder-Neiße-Demarkationslinie zur künftigen deutsch-polnischen Grenze erklärt. Sie verläuft von der tschechischen Grenze zunächst auf der Lausitzer Neiße bis zu deren Einmündung in die Oder und dann weiter auf dieser nach Norden.

Doch wer auf die Karte schaut, wird feststellen, dass die deutsch-polnische Grenze ab einem bestimmten Punkt südlich von Stettin (bei Mescherin) eben nicht mehr auf der Oder verläuft, sondern einen auffälligen Schwenk nach Westen macht, was von den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens abweicht, wonach Stettin zur Sowjetischen Besatzungszone gehören sollte, weil die Stadt ja westlich der Oder, ja sogar noch westlich des westlichen der beiden Oder-Arme liegt.

Am 26. April 1945 hatte die Rote Armee Stettin eingenommen, und genau eine Woche später, am 3. Mai, ernannte der sowjetische Stadtkommandant den deutschen Kommunisten Erich Spiegel (1919–1984) zum Oberbürgermeister. Allerdings wurde er bereits am 26. Mai durch Erich Wiesner (1897–1968) ersetzt, während Spiegel nun Landrat von Groß-Stettin wurde, ein Amt, das er bis August 1945 ausübte. Gleichzeitig hatte aber schon ab 30. April 1945 auch der Pole Piotr Zaremba (1910–1993) mit dem Aufbau einer Verwaltung begonnen und war am 6. Mai sogar von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Stadtpräsidenten von Stettin ernannt worden. Nur zehn Tage später kam jedoch die Order, er müsse die Stadt wieder verlassen. Zaremba zog sich daraufhin nach Stargard zurück, wo er am 20. Mai seine Gruppe auflöste. Diesmal dauerte es bis zum 6. Juni, als ein sowjetischer Befehl erging, nach welchem sich Polen erneut in Stettin niederlassen dürften.

Zaremba und seine Leute kehrten folglich drei Tage später zurück und starteten einen zweiten Versuch für den Aufbau einer parallelen polnischen Stadtverwaltung. Allerdings war auch dieser nur von kurzer Dauer, denn bereits am 17. Juni wurde Zaremba einmal mehr aufgefordert, Stettin zu verlassen, und so zog er sich zwei Tage darauf nach Köslin zurück. Erst im dritten Anlauf hatte er Erfolg: Am 29. Juni 1945 teilte der sowjetische Stadtkommandant Oberbürgermeister Wiesner mit, Stalin habe endgültig entschieden, Stettin sei nicht Teil der Sowjetischen Besatzungszone, sondern werde vielmehr der Volksrepublik Polen zugeschlagen.

Dieser Beschluss kam nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Besatzungsmacht völlig überraschend, so dass man sich noch einmal bei Marschall Schukow in Berlin rückversicherte, der am 3. Juli antwortete, Stettin sei in der Tat polnisch. Zwei Tage später musste Wiesner aus seinem Amt ausscheiden und die Verwaltung der Stadt in Gegenwart der Sowjets in die Hände des Polen Piotr Zaremba legen, der bis 1950 Stadtpräsident von Stettin blieb.

Gleichwohl gab es für eine Übergangszeit bis August 1946 noch eine polnisch kontrollierte deutsche Verwaltung, denn zum Zeitpunkt der Verwaltungsübergabe lebten wieder 80.000 Deutsche in der Stadt. Erich Wiesner war dann von August bis Dezember 1945 Oberbürgermeister von Schwerin und in den Jahren 1949 bis 1952 Landrat des Landkreises Güstrow. Erich Spiegel, Landrat von Groß-Stettin, musste am 5. Juli ebenfalls seinen Platz in der pommerschen Hauptstadt räumen und verlegte den Verwaltungssitz nach Hohenholz nördlich von Penkun, bis er im August des Jahres aus seinem Amt ausschied.

Gegen das Potsdamer Abkommen

Bereits am 10. Juli 1945 setzte die neue polnische Administration eine „vorläufige Demarkationslinie“ fest, die von der bisher vorgesehenen Grenze abwich. Zwei Monate später, am 5. September, legten dann sowjetische und polnische Behörden den genauen Grenzverlauf fest, wobei zusätzliche westlich der Oder gelegene Gebiete aus dem Machtbereich der Sowjetischen Besatzungszone an die Volksrepublik Polen fielen und die Grenze somit weiter nach Westen verschoben wurde.Insgesamt handelte es sich um mehr als 850 Quadratkilometer, die in jener Zeit im Widerspruch zum Potsdamer Abkommen den Besitzer wechselten, was in der Folge auch mit einer Vertreibung der deutschen Bevölkerung einherging. Trotz des Drängens der polnischen Regierung machten die USA bei der Potsdamer Konferenz allerdings deutlich, dass sie einer westlichen Verschiebung der Linie, die nach alliierter Vereinbarung ja auf der Oder verlaufen sollte, nicht zustimmen würden. Gleichwohl beriefen sich die polnischen Kommunisten auf frühere Unterredungen mit Stalin, in denen dieser einen Grenzverlauf westlich der Oder von Swinemünde bis Greifenhagen markiert hatte.

Willkür Stalins

Diese Karte mit den Eintragungen Stalins legte Schukow Mitte September 1945 vor, und sie war schließlich auch die Grundlage für den Schweriner Grenzvertrag vom 21. September jenes Jahres, einem sowjetisch-polnischen Abkommen, das die Westgrenze Polens im besagten Abschnitt und damit den nördlichen Teil der Oder-Neiße-Linie festlegte. Mit diesem Vertragswerk erhielt Polen ein rund 930 Quadratkilometer großes Gebiet westlich der Oder, das unter dem Begriff „Stettiner Zipfel“ bekannt wurde. Die exakte Beschreibung des Grenzverlaufs – entlang einer Linie, die oberhalb von Gartz an der Oder nach Norden bis westlich von Swinemünde führt, – erfolgte am 30. September, seine Markierung zwischen dem 4. und dem 8. Oktober 1945.

Auch nach der offiziellen Übergabe des Territoriums an Polen, die am 4. Oktober stattfand, blieben die chemischen Werke in Pölitz sowie Teile des Hafens von Stettin noch bis Ende 1947 unter sowjetischer Kontrolle. Ebenso erfolgten 1947 nochmals kleinere Korrekturen der Grenze, womit weitere westlich der Oder gelegene Landstriche Polen zufielen.

Zwischen 1945 und 1947 gab es zudem immer wieder Versuche von polnischer Seite, eigenmächtig die Grenze nach Westen hin zu verschieben, so etwa, als polnische Streitkräfte einen zehn Kilometer breiten Streifen zwischen Schwedt und Gartz besetzten.

Swinemünde

Die Stadt wurde am 5. Mai 1945 von der Roten Armee eingenommen. Für die Zeit nach dem Krieg sahen die alliierten Pläne eine Teilung Swinemündes vor. Noch in den ursprünglichen Entwürfen hieß es, die künftige Grenze solle „durch“ Swinemünde verlaufen, was erst in den Verhandlungen in Potsdam auf Wunsch Stalins in „unmittelbar westlich von Swinemünde“ abgeändert wurde. Gleichwohl war auch hier nach dem Ende der Kampfhandlungen eine deutsche Verwaltung unter Bürgermeister Max Schuhart entstanden, und ebenso wurde in der Person von Willy (Wilhelm) Stange ein Landrat eingesetzt, dem vom 23. September 1945 bis Januar 1946 Heinrich Kasten folgte.

Bereits im Mai und Juni 1945 hatten sich allerdings auch polnische Verwaltungen in Swinemünde etabliert, die aber jedes Mal von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Rückzug gezwungen wurden. Als Anfang Juli ein dritter Anlauf unternommen wurde, leisteten die Sowjets keinen Widerstand mehr, und vom 4. bis zum 6. Oktober des Jahres – nach dem Schweriner Grenzvertrag und der nachfolgenden Inbesitznahme des „Stettiner Zipfels“ – übergaben die Sowjets auch hier die Verwaltung in die Hände der Polen.

Mescherin – Staffelde – Neurochlitz

Zwei Kilometer nördlich von Mescherin verlässt die deutsch-polnische Grenze die Oder (Westoder), auf der sie bis dahin verläuft, und schwenkt nach Nordwesten, wo sie sich auf 55 Kilometern Länge bis zur Ostsee zwischen Ahlbeck und Swinemünde über Land hinzieht. Unmittelbar dort, wo die Grenze vom Verlauf auf der Westoder nach Norden hin den Schwenk nach Westen macht und über Land weiterführt, liegt der kleine Ort Staffelde, der verwaltungsmäßig zum benachbarten Mescherin gehört.

Von 1945 bis 1951 lag er in einer Art unbewohntem Niemandsland, da nicht feststand, wie die neue Grenze endgültig verlaufen würde. Erst mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die DDR 1950 und der damit verbundenen Festlegung des genauen Grenzverlaufs kehrten die Einwohner des Ortes im folgenden Jahr in ihre Häuser zurück.

Verlässt man Staffelde in Richtung Neurochlitz über einen (geteerten) Feldweg, der hier einen Teil des Oder-Neiße-Radweges bildet, so erreicht man einige hundert Meter weiter genau jene Stelle, wo die deutsch-polnische Grenze den Flusslauf der Oder verlässt und über Land weiter nach Norden gezogen wurde. Heute weisen lediglich zwei Baken in den jeweiligen Landesfarben und mit den Staatswappen versehen auf die historisch markante Stelle hin. In Neurochlitz selbst begrenzen die Gartenzäune der östlich der Hauptstraße stehenden Häuser nicht nur das eigene Grundstück, sondern bilden gleichzeitig die Staatsgrenze. Der Ort besteht praktisch aus zwei durch die Bundesstraße 2 voneinander getrennten Teilen, von denen der östliche unmittelbar an der Grenze liegt.

Vor 1945 gehörte das Gebiet des jetzigen Dorfes, das damals eine Brachfläche bildete, zum Teil zu Staffelde, zu einem anderen Teil zum Ort Pargow, der sich heute jenseits der Grenze befindet (polnisch: Pargowo) und Teil der Gemeinde Kołbaskowo (Kolbitzow) ist. 1949 gründeten dann einige „Altbürger“ sowie Umsiedler aus dem sächsischen Kreis Rochlitz dort ein neues Dorf, das sie Neurochlitz nannten und das 2003 zusammen mit den Nachbarorten Radekow und Rosow nach Mescherin eingemeindet wurde. Gleichwohl stammt das älteste Gebäude in Neurochlitz bereits von 1901, eine kleine Holzkirche nämlich westlich der B 2, die vor 1945 dort einsam stand.

Korswandt

Am östlichen Rand des Ortes liegt der 1,4 Kilometer lange und 450 Meter breite Wolgastsee, dessen Ostufer die Grenze zu Polen bildet. Schaut man auf die Karte, so wird man feststellen, dass hier der Grenzverlauf besonders weit nach Westen vorgeschoben ist, und tatsächlich erfolgte dort die letzte Grenzveränderung nach 1945. Nachdem die Regierungen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950 die Oder-Neiße-„Friedensgrenze“ als verbindlich festgelegt hatten, meldete die polnische Seite allerdings noch ein „grundsätzliches Abweichen des Grenzlinienverlaufs in einer spitzen Nase westlich Swinemünde“ an. Der Grund: In diesem 150 Hektar großen Waldgebiet lag das Wasserwerk von Swinemünde, das folglich „als polnisches Territorium mit erfaßt“ werden sollte. Das Bauwerk war zu jenem Zeitpunkt noch durch eine sowjetische Dienststelle belegt, doch wurde, wie es hieß, die Grenze bald „entsprechend diesem Antrag ... markiert.“

Am 11. Juni 1951 fand dann die förmliche Übergabe der „Nase“ östlich von Korswandt statt. Dabei anwesend waren der Offizier der Deutschen Grenzpolizei der DDR, Horst Wierandt, begleitet von Gennadi Filippow, einem Vertreter der Sowjetischen Kontrollkommission in Berlin, und der polnische „Leiter der Kommunalbehörden von der Gauleitung Stettin“ (sic!) – wie er sich im Übergabeprotokoll selbst nannte –, Felix Kazmierczak. Diese drei Personen legten folglich mit ihren Unterschriften den endgültigen, bis heute bestehenden Grenzverlauf auf Usedom fest, was durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 völkerrechtlich sanktioniert wurde. Als Kompensation erhielt die DDR damals von Polen ein Gebiet entsprechender Größe an der Oder im Bereich Staffelde übertragen.

Brisantes Thema

Eigentlich hätten die genannten Vorgänge im Zuge der Gespräche über den deutschen Einigungsprozess im Jahr 1990 („Vier-plus-Zwei-Verhandlungen“) zumindest zur Sprache kommen müssen, selbst wenn das den Grenzverlauf nicht mehr verändert hätte, doch es steht zu vermuten, dass man stillschweigend darüber hinwegging, da es eine gewisse Brisanz enthielt, welche die Verhandlungen ins Stocken oder sogar zum Scheitern gebracht hätten.


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Kommentare

Waffenstudent Franz am 26.09.22, 14:39 Uhr

Theo Waigel ,

Finanzminister in Bayern in einer Rede beim Schlesiertreffen 1989 in Hannover.

Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 ist das Deutsche Reich nicht untergegangen. Es gibt keinen völkerrechtlich wirksamen Vertrag, durch den die östlichen Teile des Deutschen Reiches von diesen getrennt haben,

Unser Ziel bleibt es, die Herstellung der staatlichen Einheit des Deutschen Reiches in freier Selbstbestimmung.

Waffenstudent Franz am 23.09.22, 17:10 Uhr

Plölitz war das Rückgrat der Ölversorgung! Obzwar 1944 komplett zerbombt, schaffte man das Kunststück: Bereits 1945 erreichte man 15% der Vorjahresleistung. Und diese Wunderfabrik sollte nie wieder Deutsch werden!

Chris Benthe am 22.09.22, 16:27 Uhr

Angesichts der neuerlichen polnischen Invektiven mit ihrem Reparationsgeschwätz sollten deutsche Politiker, sofern ihnen Deutschland am Herzen läge, die Grenzfragen ins Spiel bringen, allein schon aus rhetorischen Erwägungen heraus. In diesen Zeiten erlebt man die die Blüte der Feigheit und des vorauseilenden Gehorsams, was uns ja auch die wirtschaftliche Notlage beschert hat, Deutscher Schlafmichel, aufwachen !

Ulrich Bohl am 22.09.22, 11:51 Uhr

Wer über die deutsch-polnische Grenze gefahren ist hat sich schon lange die Frage gestellt, warum erreicht man
Stettin auf der Westseite der Oder. Die Grenze heißt Oder-Neiße-Grenze, Stettin erreichte man jedoch weit vor der Oder. Die Frage habe ich mir schon viele Jahre
gestellt. Darum herzlichen Dank für die Aufklärung.

Gustav Leser am 21.09.22, 14:14 Uhr

Vielen Dank für die ausführliche Darstellung zu Stettin

Und die Russen wundern sich, dass sie den Kalten Krieg verloren haben?
Deutschland konnte nichts gegen diesen Landraub tun.
Aber deutsche Unterstützung konnten die Räuber danach auch nicht mehr erwarten.

Es steht Putin frei, eine autonome Region Ostpreußen mit Deutsch als 2. Amtssprache zu proklamieren.

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