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Während der rechte Biedermann schon lange in die Bedeutungslosigkeit geraten ist, läuft in der Ampel-Republik ein neuer Typus des Spießbürgers zu Höchstform auf. Noch nie wirkte Progressivsein so gestrig wie heute
Wer sich den zeitgenössischen linken Spießbürgern über ihr Intimleben nähern will, wird in der aktuellen Ausgabe des „Spiegel“ fündig. In einer zehnseitigen Titelgeschichte wird ein „neues Liebesleben“ ausgebreitet, über „offene Ehe, Polyamorie, Freundschaft Plus“ berichtet und erläutert, „wie Beziehungen heute funktionieren“. Der Leser taucht ein in eine Welt des Leistungsdrucks der Unangepasstheit.
Da plädiert eine Soziologin wider die „Paarnorm“ und das „Romantikdiktat“, ist allerdings selber seit einem Jahr „romantisch verpartnert“ und gibt sich nur jede Mühe, um alles „anders zu machen“ und „vieles neu auszuhandeln“. Ein queerer, also alles, nur nicht heteronormativer, Influencer aus Berlin-Kreuzberg verortet sich politisch „durchaus linksradikal“. Er erlebt sich „auf der Straße als schwuler Mann diskriminiert“, weil er sich erkennbar kleidet, bewegt und ausdrückt, wie er behauptet. Und doch ist er „inzwischen mit einer queeren Frau verheiratet“, ist aber „auch mit anderen Menschen“ intim, „egal welche Geschlechtsteile sie haben“.
Eine Sozialpädagogin aus Frankfurt am Main wünscht sich, dass wir alle „feministischer lieben“, ihre Freunde seien allesamt links, sie fühlten sich in monogamen Beziehungen unwohl und träumten davon, freier zu lieben. Das sei aber nicht so einfach, denn in ihrem Milieu drohe „die Ablehnung der alten Norm“ allzuoft „zur neuen Norm zu werden, sodass sie „den Druck gespürt habe, progressiv zu lieben“.
Sekundenschlaf im Angesicht spätpubertärer Kapriolen
Vor vielen Jahren saßen beim „Spiegel“ noch bewundernswerte Edelfedern, die so eine Titelstory zum humoristischen Feuerwerk komponiert hätten, das am Zwerchfell des Lesers bleibende Schäden hinterlassen hätte. Heute nimmt ein verunglückter Titelautor die spätpubertären Kapriolen reifungsunwilliger Großstädter mit einem Bierernst unter die Lupe, dass seine Leser beständig mit Sekundenschlafattacken zu kämpfen haben. Unfreiwillig komisch gerät bei seinem Report über erotische Gehversuche jenseits der herkömmlichen heterosexuellen Monogamie nur die Vorstellung, dass es im Kopfkino des gemeinen deutschen Progressiven keineswegs besorgniserregend wild und anarchisch zugeht, sondern eher brav, verantwortungsbeflissen und penibel nonkonform. Die neuen Freiheiten, die sich der zeitgeistkompatible Fortschrittsbürger herbeiemanzipiert hat, sind ihm längst zu neuen Gitterstäben geworden. Auch der linke Spießer träumt von kleinen Fluchten aus seiner Vollzugsanstalt der unerfüllten Sehnsüchte.
Die Figur des Spießers unterliegt beständigem Wandel. Das wusste schon der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth (1901–1938), der mit 29 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte: „Der ewige Spießer“. Die Erzählung nannte er in der Vorrede: „Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spießers“. Der junge Horváth erlebte seine Gegenwart als großen Umbruch, es habe „sich allmählich herumgesprochen, dass wir in zwei Zeitaltern leben“. Aufgewachsen war er im Reich der Habsburger, doch jetzt war das Heraufdämmern der nationalsozialistischen Schauer-Epoche bereits zu spüren. „Der alte Typ des Spießers ist es nicht mehr wert, lächerlich gemacht zu werden; wer ihn heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spießer der Zukunft.“
Noch war diese kommende Figur 1930 wie in einer Raupe: „Der neue Typ des Spießers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristalliert.“ In der Rückschau wissen wir, dass der nachfolgende Nationalsozialismus eine Figur des Spießers hervorgebracht hat, ohne die Hitlers Diktatur und die monströsen NS-Verbrechen in ihrem Umfang kaum möglich gewesen wären. Joachim Fest hat hierzu in seinen Kindheitserinnerungen „Ich nicht“ eindrucksvolle Zeugnisse überliefert.
Mag sein, dass im Vergleich mit dem NS-Spießer der typische Untertan der Kaiserzeit, wie ihn Heinrich Mann in all seiner Bosheit porträtierte, noch wie ein Kulturmensch anmutet. Bemerkenswerter ist für uns der Befund Horváths, dass sich der Spießer bei allen Kleiderwechseln durch die Zeitläufte dabei doch stets treu zu bleiben scheint: „Der Spießer“, so definiert ihn Horváth, „ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist, und so trachtet er danach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet.“
Richtungswechsel des Zeitgeistes
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Spießbürger eher der rechten und konservativen Gesinnung, die die Lufthoheit über die Stammtische der jungen Republik innehatten. Wenn wir den rheinischen Karneval als Messlatte deutscher Biederkeit anerkennen, stellt sich heraus: Der Spießer von einst ist längst im Ruhestand. Wo früher turnusmäßig über die Sozis hergezogen wurde, um sie für alles Übel verantwortlich zu machen, fliegen die Pfeile heute in die entgegengesetzte Richtung, um auf gewohnt holprige Lachart die Rechten als bedrohlichen Dauerbrenner festzustellen.
Die Wachablösung verlief schleichend. Schon 1983 zog die Hamburger Punkband „Slime“ in einem Song über „Linke Spießer“ her. Erstaunlich scharfsichtig hieß es damals schon über Lehrer und Beamte, Gelehrte, Sozialarbeiter und Studenten: „Immer kritisch und politisch/Marx und Lenin auf dem Nachttisch/Ihr seid nichts als linke Spießer/Ihr habt nichts dazugelernt.“ Und als 2001 die Rockband „Blumfeld“ von der „Diktatur der Angepassten“ sang, waren damit die Linkskonformen gemeint und der Mainstream bereits hinreichend nach links verschoben, sodass es für eine rot-grüne Bundesregierung reichte. Schon zwei Jahre zuvor schrieb Norbert Bolz ein ganzes Buch über „Die Konformisten des Andersseins“, jenen neuen Typus von Opportunisten, die ihre Mäntelchen nunmehr im Wind des progressiven Kritischseins flattern ließen. Deutsche Biederkeit gibt sich seither im Zweifel linksdurchtönt.
Zu verdanken ist dies den Kohorten der Babyboomer, die mit Popkultur, Kritischer Theorie und 68er-Pädagogen aufwuchsen. Später gründeten sie Familien, schlossen Bausparverträge ab und saßen wie ihre Eltern abends vorm Fernseher. Wer sich einst „forever young“ wähnte, wurde zum Leistungsträger der Gesellschaft. Das Herz schlug weiterhin links, der juvenile Vorsatz „Born to be wild“ versteinerte in der Pose des rot-grün wählenden Wohlstandsbürgers. Der Schrebergärtner von heute hört nicht mehr Blasmusik, sondern AC/DC. Kritik als Attitüde, nicht als Praktik, ist das neue Angepasstsein. Allein die schiere Masse der Babyboomer rückte den Mainstream der Republik nach links.
Statisten der politischen Meteorologie
Nur dadurch wurde es überhaupt möglich, dass die CDU als traditionelle politische Heimstatt deutschen Biedersinns unter Führung der Endloskanzlerin Merkel ihre Drift Richtung Sozialdemokratie und Grüne vollzog, wovon sich die Union bis heute nicht erholt hat. So, wie der politische Konservatismus sein Obdach verlor, so suchte der Phänotyp des ewigen Spießers im linken Zeitgeist Unterschlupf.
Natürlich sind linke Spießer keine ernsthaften Sozialisten oder gar Kommunisten. Vielmehr sind sie, wie zu allen Zeiten, willfährige Statisten der jeweiligen politischen Meteorologie. Sobald es die Wolkenfronten der Geschichte in andere Richtungen zieht, wird auch das Spießertum bereitwillig folgen. Wenn Spießer sein bedeutet, mit minimalem Kenntnisstand maximal Recht haben zu wollen, dann muss die Überzeugung dieses Menschenschlages notgedrungen flexibel bleiben.
Spießbürger werden so genannt, weil die Waffe der städtischen Unterschicht in mittelalterlichen Siedlungen der Spieß war. Bei der Abwehr von adeligen Ritterheeren dienten sie mit ihren günstig herstellbaren Waffen als städtische Fußtruppen, die in Schlachten oft siegreich und deshalb zunächst hochangesehen waren. Später litt ihr Leumund, „vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten“, heißt es in einem Wörterbuch von 1811. „Jetzt gebrauchet man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger.“
Spuren einer Geisteshaltung
Es war dieser Typus, der es in seiner Niedertracht zu Hitlers Gefolgschaft brachte und später als Feindbild die Protestbewegung von 1968 mitentfachte. Auf ihrem Marsch durch die Institutionen wollte die vermeintlich antiautoritäre Bewegung die patriarchale Geisteshaltung der Alten möglichst besenrein entsorgen. Allerdings sollte Spießigkeit sich als hartnäckiger herausstellen als erwartet.
Denn die offen autoritären Eltern und Großeltern vererbten wesentliche Charakterstrukturen auf Kinder und Enkel. Ihre besserwisserische Verbohrtheit gepaart mit Gefühlen persönlichen Ungenügens sind in den nachfolgenden Generationen quicklebendig. Waren rechte Spießer aus Unsicherheit strukturell konservativ, wurden ihre Kinder zu linken Spießern und aus Unsicherheit strukturell ideologisch.
Wie ehemalige Außenseiter inzwischen progressiv domestiziert wurden, lässt sich exemplarisch an Homosexuellen beobachten. Einst zählten sie zur unbürgerlichen Avantgarde, mittlerweile zieht es sie in die gesellschaftliche Mitte. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften können sich gar nicht bieder genug geben und turnen heteronormative Ehe- und Elternmodelle nach. Gesellschaftliche Anerkennung um jeden Preis und bloß nicht aus der Reihe tanzen, lautet seit jeher die Devise des rechten wie linken Spießers.
Auch der Antisemitismus ist seit geraumer Zeit nicht mehr allein in der Regie rechtsextremer Eiferer. Michael Wolffsohn spricht in seinem Buch „Nie wieder? Schon wieder!“ (Herder) von einer judenfeindlichen Allianz aus „Ganz-Rechten“, mehr noch aber aus „muslimischen Neudeutschen“ sowie „alt-einheimischen Linksextremisten“ und „ihren bürgerlich-linksliberalen Landsleuten“ (siehe hierzu auch das Interview in PAZ 5/2023).
Wo sich Geschichte wiederholt
Wenn angesichts der Hunderttausenden, die seit Wochen „gegen Rechts“ durch die Straßen marschieren, von einem Aufstand der schweigenden Mehrheit die Rede ist, so belegt dies einmal mehr, dass der deutsche Durchschnitt heute linksliberal Maß nimmt. Der Kampf für Demokratie und gegen „Nazis“ ist zur Angelegenheit linksmusikalischer Mitläufer geworden, die ihren behaglichen Sonntagsspaziergang im Windschatten Gleichgesinnter mit tatkräftigem Widerstand gegen Feinde der Freiheit verwechseln. Nur so erklärt es sich, wenn auf solchen Demonstrationen Pappschilder zu lesen sind mit der Aufschrift: „Jetzt können wir endlich herausfinden, was wir anstelle unserer Urgroßeltern getan hätten.“
Auch so kann die Ewiggestrigkeit der Linken zum Ausdruck gebracht werden.
Holger Fuß ist freier Autor und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag). www.m-vg.de
sitra achra am 26.02.24, 18:33 Uhr
Ich habe die Erinnerungen von Joachim Fest mit großem Interesse gelesen, zumal er der Nachbarsjunge meiner Mutter von der Hentigstraße in Karlshorst war. Seinem Vater zolle ich allergrößten Respekt für dessen mutigen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur.
Aber solche Menschen werden immer in der Minderheit bleiben, obwohl es gut ist zu wissen, daß es sie gibt.