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Ein literarischer Spaziergang durch Portugals Hauptstadt – Auf den Spuren des vor 90 Jahren gestorbenen Dichters Fernando Pessoa
Am 30. November 1935 starb Fernando Pessoa im Alter von nur 47 Jahren in Lissabon. Damals hatte Portugals Nationaldichter erst einen Gedichtband veröffentlicht, gilt aber neben dem Renaissancedichter Luís de Camões als bedeutendster Lyriker Portugals. Das stellt sich auch bei einem Spaziergang durch „seine“ Stadt heraus.
So „posiert“ Pessoa Tisch an Tisch mit fröhlich plappernden Touristen im Straßencafé von Lissabons Szenekneipe „A Brasileira“ für Familienalben. In seinem Stammcafé bestellte der fast ohne menschliche Bindungen lebende Dichter 1935 seinen letzten Kaffee. Fotografiert zu werden hatte der Sonderling Zeit seines Lebens gehasst. Immerhin wird dem Literaten aber wenigstens ein Handyklick lang Aufmerksamkeit zuteil. Wenn auch nur als Bronzefigur. Lissabons Stadtvätern scheint das der Ehre genug zu sein.
Simone Klein nicht. Sie lässt Stadtbesucher die charismatische Stadt am Tejo mit den Augen von Pessoa sehen, und erteilt ihm das Wort: „Ein Fremder hier wie an jedem Ort, zufällig im Leben wie in der Seele“, zitiert die Journalistin aus seinem „Buch der Unruhe“. Mit dem 47 Jahre nach seinem Tod erschienenen fragmentarischen Roman sowie mit dem protokollarischen Reiseführer „Mein Lissabon“ hat Portugals Dichter seiner Stadt ein literarisches Denkmal gesetzt. Weltliteratur, entstanden aus Genialität, Schwermut und bitterer Einsamkeit. Wer Pessoa liest, könnte meinen, Portugals Hauptstadt sei das, was aus seiner Feder geflossen ist.
Frühlingsabend in Lissabon: Von den sieben Hügeln klettert das blaue Dunkel hinab in die Gassen und vereint sich mit dem schummrigen Gelb der Straßenlaternen. Aus Kneipen klingt traurige Fadomusik. Das ist die Zeit, in der zwischen Alfama und Bairro Alto jene schmerzhaft süße Melancholie einkehrt, die dem Leser in Pessoas „Buch der Unruhe“ begegnet. Vielleicht war es der weite Blick von der Rua de Sao Pedro de Alcantare über das Häusermeer hinüber zur Burg Sao Jorge, der ihn notieren ließ „ ... unten vergeht das Leben, dieses halbe Nichts“.
Pessoas Leben beginnt am Largo Sao Carlos im Herzen des Chiado-Viertels. „Dort“, zeigt Simone Klein gegenüber dem Nationaltheater auf den vierten Stock des Eckhauses vor der Kirche. Später soll der Schriftsteller mehr als
30 Wohnungen in der Stadt bewohnt haben. Nicht immer war die Lage so zentral wie im Chiado oder so beschaulich wie am Largo do Carmo, wo er im Haus Nummer 18 wohnte. Der verträumte Platz vor dem Bogengerippe der Karmeliterkirche Igreja do Carmo gehört zu den stimmungsvollsten Orten im Bairro Alto.
Hier wie auf der anderen Seite in der Alfama ist der morbide Charme des alten Lissabons lebendig. Das „Buch der Unruhe“ jetzt aufzublättern heißt allerdings auch, sich des romantischen Zaubers des Platzes zu berauben: „ ... ich gehe von hier fort, wie ich hergekommen bin – um Stunden älter, eine Wahrnehmung heiterer, einen Gedanken trauriger.“
Von dem Platz sind es nur wenige Schritte bis zur Aussichtsplattform des Santa-Justa-Aufzugs, der die Ober- und Unterstadt miteinander verbindet. Morgens ist auf der kleinen Caféterrasse meistens noch ein Tisch frei. Aus fast 50 Metern Höhe huscht der Blick über das 180-Grad-Panorama der Stadt, wandert über die blauen Wasser des Tejo, verweilt auf der gewaltigen gelben Fassade der Kathedrale Sé, um sich dann irgendwo in den Straßen und Gassen des rot schimmernden Häusermeers zu verlieren.
Dort unten zwischen dem Rossio-Platz und dem triumphalen Stadtzugang Praca do Comércio, wo alte Straßenbahnen in die Vergangenheit rumpeln, wo in kleinen Knopfläden voller Schubladen, in Apotheken mit Deckengemälden oder Holz getäfelten Buchgeschäften Requisiten aus Urgroßvaters Zeit die oft nur aus einem kleinen Zimmer bestehenden Ladenräume möblieren, ist auch Pessoa stunden- und nächtelang umhergewandert. Wie ein Schwamm sog der unter chronischer Schlaflosigkeit leidende Dichter die Bilder Lissabons in sich auf.
„Hier spielte sich sein Leben ab“, zeigt Simone Klein die Rua dos Dourados entlang. „Die Achse seines Lebens“, die der Schriftsteller an unzähligen Stellen erwähnt: „Wenn ich die Welt in der Hand hätte, würde ich sie ... gegen eine Fahrkarte zur Rua dos Dourados eintauschen.“
Auch das 243 Jahre alte Café Martinho da Arcada am Praca do Comérico ist ein Zeitzeuge seiner Welt. Nach der Arbeit im Kontor diente es dem Hilfsbuchhalter an frühen Abenden als Schreibstube. Manchmal servierten Kellner ihm eines jener Fischgerichte, die noch heute die Küche des Lokals auszeichnen.
Es scheint so, als erwartet man im Arkaden-Café die Rückkehr des Gastes. Der Tisch mit Weinglas, Kaffeetasse und Aschenbecher in der Ecke mit den Bildern des stets abwesend und verloren dreinschauenden Herrn mit Hut, Krawatte und dunklem Anzug ist für Gäste tabu.
Oder war es gar nicht Pessoa, der an diesem Platz schrieb: „Wir alle ... sind Buchhalter in einem Stoffgeschäft ... Wir führen Buch und ... wir schließen die Bilanz, und immer spricht der unsichtbare Saldo gegen uns“?
Um seiner Einsamkeit zu entgehen, schuf sich der Literat „dramatische Geschöpfe“: Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Ricardo Reis. Die fiktiven Dichter stattete er mit eigenen Biographien, politischen Ansichten und Gefühlen aus und setzte ihre Namen unter seine Arbeiten. „Was kann ein sensibler Mensch bei dem Mangel an Mitmenschen, mit denen es sich zusammenleben lässt, anderes tun, als seine Freunde oder zumindest seine geistigen Gefährten zu erfinden?“, fragte er einen Kritiker. Zu den „geistigen Gefährten“ gesellt sich Bernardo Soares, eine Synthese aus Caeiro-Campos.
Wie Pessoa, so arbeitet auch Soares in einem Hinterhofkontor, lebt in einer Mansarde, geht durch dieselben Straßen und sieht dieselben Menschen. Dessen Seelenanalyse wird nach Pessoas Tod auf 27.543 Zetteln und Blättern unsortiert in einer Truhe gefunden und 1982 im „Buch der Unruhe“ veröffentlicht. Es sind Zeilen, in denen Pessoa ein Maximum an Seele leben konnte, in denen aber auch vieles zunächst unverständlich bleibt und sich erst beim Laufen treppauf, treppab durch Lissabon erschließt.
Simone Klein führt ihre Literaturfreunde über das Stufengewirr der Gassen in der Alfama. Manchmal bleibt sie an einer Ecke unter flatternder bunter Wäsche stehen, nutzt den Schatten eines Baumes oder die Stille eines Platzes und liest aus Briefen und Gedichten. Am Largo das Portas do Sol, von dem man die Altstadt bis zur Tejomündung überblickt, bittet sie zum Einstieg in die Straßenbahnlinie 28.
Auf der Fahrt hinaus zur Casa Pessoa nach Campo de Ourique, wo in der Rua Coelho da Rocha 16/18 im letzten Wohnhaus des Literaten ein Museum eingerichtet ist, poltert das historische Vehikel am Café „A Brasileira“ mit der Pessoa-Statue vorbei. Zwei junge Frauen herzen und umarmen die Plastik für ein schnelles Selfie. „Frauen sind eine gute Quelle für Träume, berühre sie nie“, warnte er zeitlebens. Und daran hielt er sich.